Die Bergpredigt, gerechter Krieg und das Streben nach Frieden
Von Stanley Hauerwas
«Ein bescheidener Vorschlag für den Frieden:
Alle Christen der Welt sollen vereinbaren,
daß sie einander nicht töten werden.»
So lauten die vom Mennonitischen Zentralkomitee verteilten Poster und Postkarten. Einigen mag ein solcher «Vorschlag» eigentlich allzu bescheiden vorkommen. Da wir mit Nuklearwaffen konfrontiert sind, ist es unsere Aufgabe, alle Menschen, Christen und Nichtchristen, dahin zu bringen, daß sie einander nicht mehr töten. Zudem scheint dieser «Vorschlag» die starke Verbindung zwischen Frieden und Gerechtigkeit zu übersehen, die so viele für notwendig halten, wenn wir der Beseitigung des Krieges einen Schritt näher kommen wollen. Dafür ist der «Vorschlag» auf die Fotografie trauernder Menschen gedruckt, die einander trösten, indem sie einander freundschaftlich umfangen halten – gewiß eine Äußerung von Mitleid, aber anscheinend weit von dem weg, was «Gerechtigkeit» besagen will. Und doch möchte ich für den «Vorschlag» eintreten als für den wichtigsten Weg, auf dem wir als Christen uns für den Frieden einsetzen können.
Das Argument, das ich dafür vorbringe, ist noch seltsamer. Ich möchte nämlich nicht nur behaupten, daß der «Vorschlag» mit den Forderungen der Bergpredigt mehr übereinstimmt, sondern daß auch die gemeindlichen Voraussetzungen für den «Vorschlag» für uns eine entscheidend wichtige Hilfe sind, um die Bergpredigt zu verstehen und zu interpretieren. Meines Erachtens ist die «Ethik» der Bergpredigt so zu nehmen, wie sie lautet, also buchstäblich zu interpretieren, sobald einmal ihr Zusammenhang mit der Gemeinde richtig verstanden ist.
Es ist kein Geheimnis, daß die im Lauf der Jahrhunderte erfolgte Reflexion über die Bergpredigt zum großen Teil in ausgearbeiteten und sehr ausgeklügelten Nachweisversuchen besteht, daß die Bergpredigt keineswegs als buchstäblich zu befolgen gedacht gewesen sei. Man sagte zum Beispiel, die Forderungen dieser Predigt, zumal die mit den Antithesen verbundenen, seien bloß für einige wenige Auserwählte gedacht. Diese Auffassung konnte sich nicht stark auf exegetische Befunde stützen. Zudem führt eine solche Interpretation der Predigt zu einem Zweistufenethos, das bewirkt, daß das Leben, wie die meisten von uns Christen es führen, als armselig erscheint.
Eine vor allem seit der Reformation üblichere Auffassung ist die, daß die radikale Ethik der Bergpredigt ein unmöglich zu verwirklichendes Ideal darstelle, das die Gläubigen zunächst zur Verzweiflung treiben soll, damit sie sich bewußt werden, daß ihre einzige Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Gnade besteht. Aber auch diese Deutung hat eine nur schwache exegetische Grundlage. Zudem hat eine solche Interpretation der Bergpredigt die Tendenz, das christliche Leben zu «verinnerlichen», da sie unsere «Ethik» nur mit dem Beweggrund unserer Tätigkeiten in Verbindung bringt. Infolgedessen wird zwischen das, was wir tun, und den Grund, weshalb wir es tun, ein verhängnisvoller Keil getrieben, der jede ganzheitliche Auffassung über das tugendhafte Leben verunmöglicht.
Die Ansicht, wonach die Bergpredigt sich in erster Linie auf das innere Leben oder auf die Beweggründe unseres Handelns bezieht, führte dazu, daß behauptet wurde, sie stehe im Einklang mit der Entwicklung der Lehrtradition vom gerechten Krieg, ja, sie verlange diese. So vertritt Augustinus in «De Civitate Dei» (Buch 19) die Ansicht, daß die bürgerliche Gesellschaft den Frieden, der darauf beruht, daß man Feinden vergibt, nicht einfach institutionalisieren könne. Alles, was in dieser Zeit zwischen den Zeiten getan werden könne, sei dies, den ordo der Welt als das, was dem möglichen Frieden am nächsten komme, zu fördern. Gerechte Vergeltung für das Böse sei ein «Mittelweg», der vorübergehend von Wert sei, um das Gottesvolk auf einen Frieden hinzuerziehen, der sowohl über Rache als auch Widerstand hinausgehe. Darum sagt Augustinus, dem Bösen nicht zu widerstehen, verlange keine «Tat des Körpers, sondern eine innere Bereitschaft»[1]. Mit dieser Berufung auf die «Innerlichkeit» stellt sich jedoch das Problem, wie wir das bewahren können, was Augustinus als die von der Bergpredigt geforderte «Gesinnung der Milde» bezeichnet, wenn wir gleichzeitig Gewalt anwenden, um Unschuldige zu verteidigen.
Dieses Problem hat die Theorie vom gerechten Krieg von Anfang an «vermasselt». Falls nämlich, wie Augustinus behauptet, der gerechte Krieg ein Bestreben ist, die Feindesliebe in der Beschützung von Unschuldigen durch die Tätigkeit des Staates zu verkörpern, dann ist der gerechte Krieg der Theorie nach bloß eine Theorie über Ausnahmen von der für Christen allgemein geltenden Regel der Gewaltlosigkeit. Ich bin nicht überzeugt, daß sich die Ethik der Bergpredigt zutreffend in das Wort «Liebe» fassen läßt, denn selbst dann, wenn dies der Fall wäre, sieht man immer noch schwer ein, wie sich in der Praxis der gerechte Krieg mit der christlichen Gewaltlosigkeit verträgt. Einmal institutionalisiert, das heißt, wenn die Theorie vom gerechten Krieg verwendet wird, um die stehenden Armeen der Staaten und die Unterstützung dieser Armeen von Seiten der Christen zu rechtfertigen, scheint der Weg, um «Ungerechtigkeit» zu begegnen, stets Gewalttätigkeit zu erfordern. Sobald dies einmal zu einer Arbeitshypothese der meisten Christen wird, nimmt man an, daß die Pazifisten und nicht diejenigen, die Gewalt anwenden, die Beweislast tragen. Und sobald Gewalttätigkeit als ein Mittel tätiger Nächstenliebe akzeptiert wird, was freilich eine seltsame «Liebestat» darstellt, droht sie zu einer Lebensweise zu werden, welche Gewaltlosigkeit als Tugend oder als Strategie weniger in Frage kommen läßt.
Die genannten Interpretationsweisen der Bergpredigt sind durch die Wiederentdeckung der Eschatologie dieser Predigt in Frage gestellt worden. Diese Wiederentdeckung erschien zunächst bloß als ein weiterer Weg, um jedes buchstäbliche Verständnis der Predigt zu unterbinden, da man erklärte, die von der Bergpredigt angenommenen apokalyptischen Erwartungen seien nicht in Erfüllung gegangen. Dieses negative Ergebnis wurde durch neuere Interpretationen mehr und mehr eingeschränkt. Zwar steht die Bergpredigt bei Matthäus fraglos in einem eschatologischen Rahmen (4,23-25), doch läßt sich die Annahme, daß Matthäus und seine Gemeinde somit der Meinung waren, die Bergpredigt könne erst nach dem Eintritt der Apokalypse befolgt werden, nicht aufrechterhalten.
Wie Allen Verhey bemerkt, war sich Matthäus des Aufschubs der Parusie wohl bewußt (24,48; 25,5 und 19), doch wollte diese Bemerkung bloß betonen, daß es Matthäus mehr um das Ethos seiner Gemeinde als um das Letzte Gericht selbst ging. «Die apokalyptische Rede und diese Sicht verlassen das irdische Leben nicht und behandeln es auch nicht als eine bloße Parenthese. Gewiß ist es eine dringliche Zeit, aber von sittlicher Dringlichkeit. Gewiß ist es eine Zeit der Prüfung, aber eine Prüfungszeit, die nicht nur zur Besiegung von Trägheit und Bosheit aufruft, sondern auch Gelegenheit bietet, den Geringsten zu dienen und, indem man ihnen dient, Christus selbst zu dienen. Das ist die Endprüfung; das die Grundlage zum Letzten Gericht. Und schon jetzt ermahnt Matthäus seine Gemeinde, in Erwartung dieses Gerichts und ihm entsprechend zu leben.»[2]
Somit dient die Wiederentdeckung des eschatologischen Schwerpunkts der Bergpredigt neueren Interpreten immer mehr dazu, den sittlichen Ernst dieser Predigt zu betonen. Zumal macht die eschatologische Einstellung klar, daß sich die Botschaft der Bergpredigt nicht von dem ablösen läßt, der ihr Verkünder war. Wenn Jesus der eschatologische Messias ist, hat er uns durch seinen Tod und seine Auferstehung ermöglicht, der Bergpredigt entsprechend zu leben. Diese ist nichts anderes als seine Lebensform, und sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung bilden das Prisma, durch das hindurch die Bergpredigt zu interpretieren ist. Kurz, für Menschen, die zu einem Leben und zu einer Jüngerschaft berufen worden sind, die von ihnen fordert, ihren Tod im Licht des Kreuzes Christi zu sehen, kann die Bergpredigt nicht als etwas gelten, was unmöglich praktiziert werden könne.
Das läßt uns aufgehen, wie bedeutsam der mennonitische «Vorschlag» ist. Im Vergleich zu den weiter oben erörterten Interpretationen wird das mennonitische Verständnis der Bergpredigt für gewöhnlich als ein «buchstäbliches» bezeichnet. Man sagt, die Mennoniten glaubten, daß die Bergpredigt ein neues Gesetz darstelle, das genau das meine, was es sage. Man fällt üblicherweise das Urteil, daß ihr Bestreben, die Bergpredigt so aufzufassen, beweise, daß diese für diejenigen, die es mit der gesellschaftlichen und politischen Realität der Welt zu tun haben wollen, keine praktizierbare Ethik sei. So sagt Robert Guelich, einige Wiedertäufer hätten «einen revolutionären Kurs eingeschlagen und versucht, auf den Prinzipien der Bergpredigt eine neue Gesellschaft, das Gottesreich, aufzubauen (z. B. Münzer, die Zwickauer Propheten, die Melchioriten). Die Mehrheit indes sprach sich für eine radikale Trennung zwischen Kirche und Staat aus und für den Rückzug aus einer direkten Beteiligung an gesellschaftlichen und politischen Strukturen, welche die Grundsätze der Bergpredigt in Frage stellen könnten (z. B. die Schweizer Brüder und die Mennoniten). So veranschaulichen die radikalen Reformatoren auf ihre Weise, daß die Forderungen der Bergpredigt für ein Leben in der (wirklichem Welt unpraktizierbar sind»[3].
Diese Darstellung ist schon geschichtlich problematisch, denn die Mennoniten zogen sich nicht auf eigene Abmachung hin zurück, sondern wurden an den Rand gedrängt. Noch wichtiger ist, daß solche Urteile den entscheidenden Grundzug der Auslegung der Bergpredigt durch die radikalen Reformatoren verfehlen. Diese behaupteten nämlich, daß die Bergpredigt nicht so sehr einen gesetzesähnlichen Kodex darstelle, der kasuistisch anzuwenden sei, sondern daß sie eher die Verhaltensweisen und Tugenden einer Gemeinschaft beschreibe, die sich den Frieden zu eigen mache, den Christus jetzt ermöglicht habe. Die Bergpredigt wird im Licht von Matthäus 18,15-20 interpretiert, denn der Friede, den die Predigt ins Auge faßt, kommt durch Menschen zustande, indem diese sich auf den Vorgang einlassen, der notwendig ist, um sich miteinander zu versöhnen.
In diesem Licht können wir die oft gemachte Entgegensetzung von Matthäus und Paulus in Frage stellen. Die Einheit des Leibes nämlich, die nach den Angaben des Paulus in 1 Kor 11 verlangt ist, um die Eucharistie zu feiern, unterscheidet sich nicht von der Forderung bei Matthäus, daß die Jünger Jesu sich miteinander aussöhnen müssen, wenn sie imstande sein sollen, eine Opfergabe darzubringen (Mt 5,21-26). Der Vorgang der Vergebung und Versöhnung ist die Triebkraft, die hinter den vielen Teilen der Bergpredigt wirkt. Einzig Menschen, die gelernt haben, um Vergebung zu bitten – will sagen Menschen, welche wissen, daß die harte Aufgabe nicht die ist, Vergebung zu gewähren, sondern die, Vergebung zu erhalten – sind imstande, eine Gemeinschaft zu sein, in der man bei der anspruchsvollen Aufgabe, dem Feind zu vergeben, einander unterstützt.
Wird die Bergpredigt aus diesem kirchlichen Kontext herausgelöst, so muß sie zwangsläufig als ein Gesetz erscheinen, das auf und von Einzelmenschen anzuwenden ist. Das steht jedoch im Gegensatz zu den Grundvoraussetzungen der Bergpredigt, wonach Menschen, die sich von der Gemeinschaft getrennt haben, nicht imstande sind, das Leben zu leben, das die Bergpredigt beschreibt. Damit, daß man die Bergpredigt als eine für die einzelnen Menschen geltende Ethik versteht, macht man sie zu einem neuen Gesetz mit endlosen legalistischen Variationen. Die Bergpredigt läßt sich nur verstehen in der Annahme, daß eine eschatologische neue Gemeinschaft ins Dasein gerufen worden ist, die eine neue Lebensweise ermöglicht.
All die sogenannten «harten Aussprüche» der Bergpredigt sind dazu bestimmt, uns daran zu erinnern, daß wir nicht leben können, ohne daß andere uns stützen und uns vertrauen. Wir werden aufgefordert, uns keine Schätze für uns selbst aufzuspeichern, so daß wir lernen müssen, zu teilen. Wir werden aufgefordert, nicht ängstlich zu sein, nicht zu versuchen, unsere Zukunft zu sichern, so daß es notwendig wird, uns in bezug auf unsere Nahrung, unsere Kleidung und unsere Wohnung auf andere zu verlassen. Wir werden aufgefordert, nicht zu richten, was von uns verlangt, redlich und vertrauensvoll miteinander zusammenzuleben. Solche Menschen haben es nicht nötig, ihre Frömmigkeit zur Schau zu stellen, denn sie wissen, daß diese eigentlich nicht «ihre Sache» ist. Sondern die Frömmigkeit der Gemeinschaft, die fähig ist, auf die Bergpredigt zu hören und ihr entsprechend zu leben, ist sich bewußt, daß eine Rechtschaffenheit, welche die der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft, nur dann möglich ist, wenn man gelernt hat, daß unsere Rechtschaffenheit eine Gabe ist, die Gott uns dadurch gibt, daß er uns beibringt, einander zu dienen.
Sicherlich ist dies auch díe notwendige Voraussetzung, um die Antithesen in Kapitel 5 des Matthäusevangeliums zu verstehen. Keusch zu leben, verheiratet zu sein, ohne zur Scheidung Zuflucht zu nehmen, zu leben, ohne Eidschwüre zu benötigen, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, die Liebe zum Feind zu lernen, sind isolierte einzelne sicher nicht imstande. Als Einzelmenschen können wir ebensowenig auf diese Weise handeln, wie wir wollen können, nicht ängstlich zu sein. Das Bestreben, nicht ängstlich zu sein, schafft nur Angst. Angstfrei zu sein ist uns nur dann möglich, wenn wir uns als Glied einer Gemeinschaft wissen, die durch ein so unwiderstehliches Abenteuer konstituiert wird, daß wir in der Freude über das neue Zeitalter unsere Befürchtungen vergessen.
Richard Lischer sagt dies so: «Die Bergpredigt schildert eine dynamische Konstellation von Beziehungen – eine Art radikalisierter ‹Canterbury Tales› – innerhalb der dahinpilgernden Gemeinde, Weil die Pilger im Glauben erfahren haben, daß ihre Schicksalsbestimmung gesichert ist, lassen sie sich durch deren Verheißung ermutigen und von deren Rubriken leiten»[4]. Der Versuch, die Bergpredigt zu einer von der eschatologischen Gemeinschaft absehenden «Ethik» zu machen, muß zwangsläufig Selbstgerechtigkeit hervorbringen und letztlich das Evangelium als lächerlich erscheinen lassen. «Unsere einzige Hoffnung, als die Gemeinde der Bergpredigt zu leben, besteht im Zugeständnis, nicht Vergeltung zu üben, zu hassen, zu fluchen, zu begehren, die Ehe zu brechen, zu schwören, zu prahlen, sich herauszuputzen, sich zu ängstigen oder zu verleumden, denn es liegt nicht in der Natur unseres Gottes oder in unserer Bestimmung, daß wir solche Menschen sein sollen. Wenn wir als Einzelmenschen in diesen Punkten fehlen, dann haschen wir nicht gleich nach billiger Vergebung, sondern erinnern wir uns daran, daß die ekklesia größer ist als die Summe unserer individuellen Verfehlungen und daß sie in eine Richtung getrimmt ist, die uns davon abbringen wird.»[5]
Die gemeindlichen Voraussetzungen der Bergpredigt werden nirgends klarer bestätigt als in den Seligpreisungen. Hier sehen wir, daß das Evangelium die Proklamation einer neuen Reihe von Beziehungen ist, die durch ein Volk ermöglicht werden, das in eine neue Bewegung hineingezogen ist. Wir sind versucht, die Seligpreisungen als eine Liste von Tugenden zu verstehen, welche gute Menschen haben sollen, oder als Taten, die wir tun sollen. Wir denken dann, wir sollten uns bestreben, sanftmütig oder arm oder hungrig oder barmherzig oder friedliebend oder verfolgt zu sein. Wir wissen jedoch, daß das Bestreben, sanftmütig zu sein, schwer fällt – entweder ist man es oder man ist es nicht. Noch viel schwieriger ist es, sämtliche Grundzüge der Seligpreisungen aufs mal zu haben.
Doch nicht das ist verlangt, um seliggepriesen zu werden. Vielmehr nehmen die Seligpreisungen an, daß es in der Gemeinde schon Menschen gibt, die diese Haltungen verkörpern. Die Seligpreisungen wollen nicht sagen: «Wenn du so und so bist, wirst du belohnt werden», sondern daß diejenigen glücklich sind, die sich so in die Gemeinschaft hineingestellt sehen. Zudem nehmen die Seligpreisungen an, daß wir einer Gemeinschaft angehören, die verschiedene Gaben aufweist – eine Verschiedenheit, die nicht Neid, sondern Zusammenarbeit und Liebe schafft.
Nur vor diesem Hintergrund können wir einsehen, wie unrichtig der Versuch ist, die Bergpredigt zu einer Rechtfertigung einer Ethik des Pazifismus oder des gerechten Krieges an und für sich zumachen. Die Christen, die sich an die Bergpredigt erinnerten und danach lebten, wußten nicht, daß sie Pazifisten waren. Vielmehr wußten sie als eine Gemeinde, daß sie einer neuen Art und Weise zugehörten, Streitigkeiten zu schlichten: durch Konfrontationen, Vergebung und Versöhnung. Für ein solches Verständnis der Bergpredigt ist das Friedenstiften nicht Forderung einer abstrakten Ethik, sondern ein in einer Gemeinde sich abspielender Vorgang, der durch das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu von Nazaret möglich geworden ist.
Ein solcher Vorgang ist auch nicht etwas naiv Optimistisches. Die Bergpredigt verheißt nicht, daß unsere Feinde, falls wir sie lieben, uns nicht mehr feind sein werden. Die Bergpredigt verheißt nicht, daß wir, wenn wir unsere rechte Wange hinhalten, nicht geschlagen werden. Die Bergpredigt verheißt nicht, daß allein schon dadurch, daß wir ihren Forderungen entsprechend handeln, die Welt von Krieg frei sein wird. «Doch die Christen verzichten auf Krieg nicht deshalb, weil zu erwarten wäre, daß sich intelligente Bürger ihnen beigesellen. Dies ist für gewöhnlich nicht der Fall. Der Glaubende hat diese Einstellung, weil der wehrlose Tod des Messias für alle Zeit als der Sieg des Glaubens enthüllt worden ist, der die Welt überwindet.»[6]
Niemand hat diese Sicht auf die Ethik der Bergpredigt kraftvoller ausgefaltet als Gerhard Lohfink in seinem Buch «Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?». Indem er die Sendung Jesu klar mit Israel in Verbindung bringt, erinnert uns Lohfink mit Recht daran, daß das von Jesus verkündete und angebahnte Gottesreich es entscheidenderweise mit der Gemeinde zu tun hat. Deshalb richtet sich die radikale Ethik, wonach man noch die andere Wange hinhalten soll, weder an isolierte Einzelne noch an die Menschheit als ganze. Jesu «Blick geht stets auf Israel beziehungsweise auf die Jüngergemeinde als auf die Präfiguration Israels, in der die Gottesherrschaft aufleuchten soll. Jesu Forderung nach absoluter Gewaltlosigkeit ist also durchaus gesellschaftsbezogen. Sie hat Öffentlichkeitscharakter … Das wahre Gottesvolk, die wahre Familie Jesu, darf nichts mehr mit Gewalt durchsetzen – weder nach innen noch nach außen. Dort darf man sich sein Recht nicht mehr erkämpfen mit den Mitteln der Gewalt, die in der Gesellschaft üblich und oft sogar Rechtens sind. Dort soll man lieber Unrecht erleiden, als daß man sein Recht mit Gewalt durchsetzt.»[7]
Lohfink bemerkt, daß es für heutige Debatten über den Frieden sehr wichtig ist, wo man die Art von Gemeinde, an die sich Jesus in der Bergpredigt richtete, ansiedelt. Die einen vertreten die Ansicht, Verzicht auf Gewalt könne sich nur der einzelne leisten, der keinerlei Verantwortung für andere habe; die anderen hingegen behaupten prinzipiell, das ganze politische und gesellschaftliche Handeln in der Welt sollte sich an die Regeln der Bergpredigt halten. Doch keine von beiden Positionen wird der Logik der Bergpredigt gerecht, da diese eine dritte Alternative ins Auge faßt: eine Gemeinde, die imstande ist, ihr Leben gewaltlos so zu ordnen, daß die Welt weiß, daß es für die Gewalt, die oft im Namen der Gerechtigkeit legitimiert wird, eine Alternative gibt.
Diese dritte Alternative läßt sich auch nicht, wie Guelich weiter oben das tut, als einen Rückzug aus dem Leben und Konflikt dieser Welt bezeichnen. Ein solcher Rückzug wäre dann der Fall, wenn man die Bergpredigt als Rechtfertigung einer abstrakten ethischen Position eines sogenannten «Pazifismus» interpretieren würde. Ich habe jedoch aufzuzeigen versucht, daß eine solche Position einfach nicht «in» der Bergpredigt liegt. In diesem Sinn haben Befürworter des gerechten Krieges, wie z. B. Paul Ramsey, recht, wenn sie die Auffassung vertreten, daß Pazifismus und gerechter Krieg gleichberechtigte Forderungen aus der Bergpredigt seien[8]. Die Bergpredigt produziert nicht ein Ethos der Gewaltlosigkeit, sondern sie verlangt vielmehr das Dasein einer gewaltlosen Gemeinde, so daß die Welt zur Erkenntnis kommt, daß die Geschöpfe Gottes in Frieden Zusammenleben sollten. Darum gibt es buchstäblich nichts Wichtigeres, was wir als Christen für die Welt tun können, als daß wir selbst es unterlassen, einander zu töten.
Ich bin mir bewußt, daß viele, die nach dem Weltfrieden hungern und dürsten und sich dafür einsetzen, daß es nicht zu einem Atomkrieg kommt, dieses Verständnis des Friedens, von dem die Bergpredigt spricht, verwirrlich finden. Ich möchte, ich könnte ihnen mehr bieten, aber ich kann es nicht. Als Christen müssen wir bekennen, daß wir nicht deshalb Pazifisten sind, weil der Pazifismus eine Welt zu schaffen verheißt, die von Kriegen frei ist, sondern deshalb, weil wir glauben, daß Gott uns in einer kriegerischen Welt nicht anders haben will. Das besagt nicht, daß wir nicht darum besorgt sind, die Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen, die den Krieg unwahrscheinlicher machen, in der Welt zu entdecken, und behilflich sind, solche zu schaffen. Doch unsere Verpflichtung, ein Volk zu sein, das der Welt eine «Kontrastgesellschaft» beschafft, wird nicht gemindert, wenn solche Strukturen nicht vorhanden sind[9].
Wenn jedoch meine Interpretation der von der Bergpredigt geforderten friedlichen Gemeinde richtig ist, haben wir wenigstens ein Gespür dafür, wie dringend die Aufgabe ist, die vor uns Christen steht. Heute läßt sich nämlich die ökumenische Bewegung nicht einfach als eine theologische Notwendigkeit ansehen, sondern vielmehr als der bedeutsamste politische Akt, den die Kirche für die Welt vollziehen kann. Unsere Uneinigkeit und deren Folge, daß wir einander als Christen töten, verurteilt die Welt zu noch verheerenderen Konflikten und Morden, Somit wird die Einigkeit der Kirchen – und wir müssen uns daran erinnern, daß unsere tiefste Uneinigkeit nicht die zwischen Katholiken und Protestanten, sondern die zwischen Rassen, Klassen, Nationalitäten, Hemisphären usw. ist — zur Vorbedingung dafür, daß wir als Gottes friedliche Gemeinde der Welt dienen. Ein Grund mehr, um eindringlich zu bitten: «Dein Reich komme!»
Aus dem Englischen übersetzt von Dr. August Berz
STANLEY HAUERWAS
Professor für Theologische Ethik an der Divinity School der Duke University. Ebendort Direktor des Programms für Graduiertenstudien in Religionswissenschaften. Veröffentlichungen u.a. : The Peacable Kingdom: A Primer in Christian Ethics (University of Notre Dame Press 1983); Against the Nations: War and Survival in a Liberal Society (Winston and Seabury, San Francisco 1985). Anschrift: Duke University, The Divinity School, Durham, N. C. 27706, USA.
Quelle: Concilium 24 (1985), S. 26-31
[1] Augustinus, Ad Faustum, XII, 767.
[2] A. Verhey, The Great Reversal: Ethics and the New Testament (Grand Rapids 1984), 91.
[3] R. Guelich, Interpreting the Sermon on the Mount: Interpretations 41 (1987), 119.
[4] R. Lischer, The Sermon on the Mount as Radical Pastoral Care: Interpretations 41 (1987), 161-162.
[5] Lischer, aaO., 163.
[6] J. Yoder, He Came Preaching Peace (Scottdale, Pennsylvania, 1985), 27-28.
[7] G. Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? (Freiburg i.Br. 61985), 68-69.
[8] P. Ramsey, Basic Christian Ethics (New York 1950), 171-184.
[9] Lohfink, aaO., 142-154.