Helmut Gollwitzer Predigt über 2. Korinther 5,15 am Buß- und Bettag 1953: „Das Kreuz Christi ist der große Strich, den Gott unter unser bis­heriges Leben zieht, der Strich, den wir nicht selbst machen konn­ten und mit dem das selige „hinfort nicht mehr“ erklingt. Denn das Kreuz Christi nimmt jeder Angst um unser Leben, die uns treibt, uns um uns selbst zu drehen, den Grund; es macht die Angst zur Torheit und stellt in die Freiheit.“

»Hinfort nicht mehr«. Predigt über 2. Korinther 5,15

Von Helmut Gollwitzer

… und er ist darum für alle gestorben, auf daß die, so da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.

Liebe Gemeinde!

Hinfort nicht sich selbst leben“, hinfort anders leben können als bisher, hinfort nicht so leben müssen wie bisher, — das also soll es geben können. Das Tor zu einem anderen, neuen Leben soll sich wirklich auftun, eine Wende unseres Lebens soll kein leerer Traum sein, aus dem Gefängnis unseres bisherigen Lebens soll es einen Ausweg geben, wirklich anders soll es werden mit unserem Leben. Dieses „hinfort nicht mehr“, — das ist das Evan­gelium heute, die frohe Botschaft, die Botschaft der Freiheit für die Gefangenen. „Hinfort nicht mehr“ — das zieht einen Strich mitten durch das hindurch, was wir sind, und teilt es in ein Vergangenes und ein Zukünftiges, in ein „bisher“ und ein „hinfort“, einen mäch­tigen Strich, den wir nicht mehr auslöschen, nicht mehr ungeschehen machen können, weil es ja auch nicht wir sind, die ihn gezogen haben. Denn die Botschaft sagt ja nicht: mach du einen Strich unter dein bisheriges Leben, vollzieh du eine Wende, lebe du hinfort nicht mehr so, wie du bisher gelebt hast! — Das sagt sie auch, das sagt sie nachher, aber zuerst sagt sie: es ist ein Strich schon gezogen, es ist eine Wende schon durchgeführt, es steht mit dir tatsächlich hin­fort anders als es bisher mit dir stand; hinfort mußt du nicht mehr dir selbst leben.

Wir wären nicht am Bußtag hierher gekommen, wenn in uns nicht die Sehnsucht nach einem solchen: „hinfort nicht mehr“ leben­dig wäre. Bußtag: das heißt doch auf alle Fälle ein tiefes Unbefriedigtsein und Unglücklichsein über das, was ich lebe, wie ich lebe, ein Verlangen, ich möchte es doch endlich fertig bringen, anders zu leben, frei zu werden von allerlei üblen Angewohnheiten, Veran­lagungen, Lastern, frei zu werden von meinem Egoismus, meinen Leidenschaften, meiner Unzucht, meiner Gottlosigkeit. Keiner unter uns, der da nicht schon allerlei Versuche gemacht hätte und sie immer wieder macht, um selbst den Strich zu ziehen, selbst entschlossen zu sagen: so, jetzt wird es anders, jetzt wird hinfort anders gelebt als bisher. Manchem ist da vielleicht manches auch gelungen, aber im Ganzen wird diese Geschichte unserer Versuche sicher eher eine Geschichte unserer Niederlagen als unserer Siege sein, und wenn einem auch einzelnes an Besserung gelingt, so wird es doch oft genug an den Tag kommen, daß ich durch all diese Ver­suche von mir selbst nicht wirklich freigekommen bin, daß ich im Grunde noch sehr der Alte bin. Dieser Bußtag heute wäre nichts als ein weiterer Pflasterstein auf dem Weg zur Hölle, wenn er nur in neuen, guten Vorsätzen bestünde, die wir fassen, nur im Vorsatz eines neuen „hinfort nicht mehr“, das wir beschließen und dann doch nicht durchhalten können.

Wir sind aber nicht nur zum Bußtag hierher gekommen, weil wir selbst unzufrieden sind mit unserem bisherigen Leben. Es könnte ja sein, daß einer gar nicht so unglücklich ist über sich selbst, son­dern sich einiger Selbstzufriedenheit erfreut. Mit dem, was wir selbst von uns selbst halten, mag es stehen, wie es will, — auf unser Urteil über uns selbst kommt es nicht so sehr an, wie wir oft meinen; in Wirklichkeit kommt es allein darauf an, welches Urteil über uns steht, wie von der Ewigkeit her über uns geurteilt wird, wie der, der unser Leben in der Hand hat, der das letzte Wort über unser Leben hat und der die unbestechliche Wahrheit selbst ist, — wie der wirkliche, lebendige Gott über uns urteilt. Am Bußtag beugt die christliche Gemeinde stellvertretend für die ganze Welt sich in den Staub und sagt: Wir haben das Urteil gehört, das letzte Urteil, das Urteil der Wahrheit; wir haben gehört, was er von uns hält und können kein Wort mehr dagegen sagen; uns ist der Maßstab zu Gesicht gekommen und der Maßstab ist recht, und an ihm gemessen ist es aus mit uns.

Der Maßstab — hier ist er, in dem gleichen Wort, das uns so herrlich ins Ohr klang: hinfort nicht sich selbst leben. Da sieh an, nicht große Leistungen werden erwartet, nichts Über­menschliches, sondern etwas ganz Einfaches, Unauffälliges — aber offenbar ist es das Allerschwerste und Übermenschlichste, obwohl uns doch gar nichts von außen hindert, diese Wendung zu voll­ziehen. „Nicht sich selbst leben“, — das ist das neue Leben, und „sich selbst leben“ — das ist die Überschrift über das alte Leben, über das Leben der ganzen Welt, wo Gott nicht ein­greift und neues Leben möglich macht. Viele von uns hätten das Wort „Sünde“, das in der Kirche so oft gebraucht wird, vielleicht anders verstanden und umschrieben. Sie hätten vielleicht an allerlei abschreckende Gestalten gedacht, an lasterhafte Menschen, an die Grausamkeiten und Gewissenlosigkeiten, die wir täglich beobachten und an denen unser fortschrittliches Jahrhundert so reich ist. Aber wenn Sünde heißt: „sich selbst leben“, dann fällt unter diese Über­schrift ja viel mehr, dann fällt unter sie auch vieles, was gar nicht danach aussieht, — ja, was fällt dann eigentlich nicht darunter? Dann besteht Sünde nicht eigentlich in dem, was ich tue, sondern wie ichs tue, dann geschieht Sünde nicht außen, sondern ganz innen, und besteht in dem, worum es mir dabei geht, worum ich mich dabei drehe. Sich selbst leben — wer könnte vor Gottes unbestechlichem Auge auf stehen und sagen: bei mir findet das nicht statt. Du sagst vielleicht: ich lebe nicht für mich selbst, sondern ganz für meine Familie und ganz für meine Pflicht. Aber höre: lebst du dann wirklich nicht für dich selbst? Geht es dabei nicht um dich selbst, um dein Glück, deine Bestätigung, deine Gerechtigkeit, deine Angst? Es kommt ja an den Tag, daß Familie, Pflicht, Vaterland usw. sehr wohl für dich vielleicht nichts anderes sind als eine Erweiterung deines Ichs. Es kommt dann an den Tag, wenn an dich ein Ruf von draußen her ertönt, von einer Not her, die nicht im engeren oder weiteren Umkreis deines Ichs entsteht. Sich selbst leben, — das heißt ja: mit dem Rücken gegen die leben, die nicht zu mir gehören, — so wie die Pharisäer im Neuen Testament mit dem Rücken gegen die Zöllner und Sünder lebten, nur um ihr eigenes Gutsein und ihre eigene Seligkeit besorgt, — so wie die anständigen und ordent­lichen Leute in jeder Straße und in jedem Hause mit dem Rücken gegen die leben, die es nicht fertig bringen, ebenso anständig und ordentlich zu sein, — so wie die, die Glück haben, mit dem Rücken gegen die, die Pech haben, leben, die Satten mit dem Rücken gegen die Hungrigen, — so wie viele unter uns damals vor fünfzehn Jahren, an dem Bußtag 1938 nach dem Brand der Synagogen, an den wir uns doch auch heute erinnern wollen, mit dem Rücken gegen die entsetzliche Not unserer jüdischen Mitbürger gelebt haben und heute sagen, daß sie nichts davon gewußt haben, eben weil sie damals den Rücken kehrten und nichts davon wissen wollten,—so wie heute allzu viele unter uns Westdeutschen mit dem Rücken gegen die leibliche und mehr noch die seelische Not der Menschen im öst­lichen Bereiche leben, — und so, wie wir Bonner— doch ungefähr wir alle — mit dem Rücken gegen diejenigen leben, die immer noch in unserer Mitte in den Bunkern hausen und verwahrlosen.

Sich selbst leben, — das heißt vorübergehen wie der Priester und der Levit in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Vorüber­gehen, den anderen allein lassen, sich selbst überlassen, weil mir das Hemd näher ist als der Rock, weil ich Angst habe sonst selbst zu kurz zu kommen, weil ich entweder zu glücklich oder auch zu unglücklich und jedenfalls zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin, als daß ich frei wäre für den anderen. So gehen Ehegatten an­einander vorüber jahrelang, obwohl sie eng beieinander wohnen, so bleibt im Büro der am Tisch neben dir im Gefängnis seiner Ein­samkeit, weil du im Gefängnis deines Ichs lebst. Sich selbst leben heißt sich selbst lieben, sich selbst anbeten, sich um sich selbst drehen, sich selbst zum Mittelpunkt haben und eben damit einge­mauert sein im Gefängnis seines Ichs. So leben nicht nur die Einzelnen immer wieder sich selbst, sondern ebenso drehen die Staaten sich um sich selbst und sind die Nationen auf sich selbst bedacht und — Gott sei’s geklagt! — auch die Konfessionen.

Vielleicht hat sich mancher Gott auch so vorgestellt: als einem, der fremder Not den Rücken kehrt und nur um sich selbst besorgt ist und nur von den anderen verlangt, daß sie ihm dienen und für ihn da sind, — ein Gott nach dem Spiegelbild unseres eigenen Ichs. Seht, das ist die frohe Kunde des Evangeliums: Gott lebt nicht für sich selbst, Gott lebt nicht mit dem Rücken gegen uns, Gott über dir ist nicht kaltes Schicksal, sondern lebendige Liebe, Gott geht nicht vorüber, Gott gibt sich preis für uns. Lange bevor wir selbst dieses unser Sich-selbst-leben als ein unseliges Gefängnis erkannt haben, sah er uns darin stecken und uns arm und unglücklich sein, unfähig, uns selbst herauszuarbeiten. Denn wenn einer unter uns auch ein pausbäckiger selbstzufriedener Egoist ist und meint, sein Glück käme dadurch zustande, daß er nur in die eigene Tasche arbeitet und auf sich selbst bedacht ist, so ist er doch in einer schrecklichen Täuschung. Soviel wir uns selbst leben, so arm sind wir in Wirklichkeit, und genau so wenig hat sich unser Leben gelohnt, und darum sind wir alle sehr arm, viel ärmer als wir meistens meinen, und eine billige Ernte des Todes. Gott aber jam­mert das, Gott aber will uns als freie, reiche, glückliche Menschen haben. Was tut er dazu? Wie bringt er die Wende, die wir selbst nicht schaffen können? Wenn wir die Antwort hören, die das Evangelium darauf gibt, dann sollten wir, auch wenn wir sie noch gar nicht verstehen, auch wenn wir noch gar nicht begreifen, daß das eine Antwort ist, nicht den Kopf schütteln, nicht warten, bis wir sie verstehen, sondern ungesäumt auf die Knie gehen und anbeteten. Was tut er dazu? „Er ist für alle gestorben“, heißt es hier. Es ist also einer für mich gestorben. Das schlägt mir schon ans Herz, das rüttelt mich auf und läßt mich nicht mehr los, wenn ich es mit einem anderen Menschen erlebe. Wenn einer in der Gefangenschaft für mich meinen Namen annimmt und läßt sich für mich zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit im Ural verurteilen, freiwillig und bei klarem Bewußtsein, und geht dort zugrunde, und ich komme dadurch in die Heimat und kann hier wieder lachen und spazieren gehen und frei bei meinen Lieben leben, — das läßt mich doch nicht mehr los und ich werde die Betrübnis nicht los, daß ich keine Möglichkeit habe, ihm meinen Dank zu zeigen und etwas zu Liebe zu tun. Und dies, eben dies ist geschehen. Es ist einer für mich gestorben, hat sich freiwillig und mit klarem Bewußtsein für mich hin­richten lassen, damit ich wieder lachen und ein freier Mensch sein kann. Wenn du zum Abendmahl gehst und sonst noch gar nichts davon verstehst, so sprich das doch nach, was dir dort gesagt wird, und versuche es anfangsweise zu ermessen: es ist einer für mich gestorben, damit ich lachen und leben und ein freier Mensch sein kann, damit ich reich werde und mein Leben sich lohnt.

Es ist ein großes, unausmeßliches Geheimnis in diesen Wortarten des Apostels: „er ist darum für alle — für alle! — gestorben, damit die, so da leben, hinfort nicht sich selbst leben“. Wenn es dir vielleicht noch gar nicht schrecklich ist, aus diesem Gefängnis des Sich-selbst-lebens nicht herauskommen zu können, Gott war es schrecklich, dich darinnen zusehen, er hat es nicht ausgehalten, das anzusehen; so lebendig, so mitfühlend ist Gott, daß er selbst sich aufgemacht hat, daß er hereingekommen ist in dieses Gefängnis, Mensch geworden ist, den Namen mit dir getauscht hat, an deine Stelle getreten ist, den Tod gestorben ist, der auf dieses ganze Sich-selbst-leben steht. Nicht irgendeiner ist für dich gestorben; ein Mensch könnte mit dem Opfer seines Lebens höchstens mein äußeres Leben erretten, aber aus diesem tödlichen Kampf ums eigene Ich könnte er mich nicht befreien. Der Tod Jesu Christi ist nicht der Tod irgendeines Menschen; hier opfert sich Gott selbst für mich, nimmt dieses ganze Elend auf seinen Rücken, geht nicht vor­über, sondern setzt sich selbst dafür ein, daß nun dieses Sich-selbst-leben mich nicht mehr mein Leben kostet. Er macht den großen Strich unter dieses alte Leben und sagt: das gilt nichts mehr, das soll dich nicht mehr zum Tode bringen, das soll nicht mehr das einzige sein, was sich in deinem Leben ereignet, ich will etwas Neues in dein Leben bringen und das Gefängnis sprengen. Das Kreuz Christi ist der große Strich, den Gott unter unser bis­heriges Leben zieht, der Strich, den wir nicht selbst machen konn­ten und mit dem das selige „hinfort nicht mehr“ erklingt. Denn das Kreuz Christi nimmt jeder Angst um unser Leben, die uns treibt, uns um uns selbst zu drehen, den Grund; es macht die Angst zur Torheit und stellt in die Freiheit. Dieser Strich des Kreuzes Christi wird jedesmal gezogen, wenn in der Beichte die Ewigkeits­worte gesprochen werden: „so verkündige ich euch … die Vergebung aller eurer Sünden, alles eures Sich-selbst-lebens“, und überall, wo der Name Jesu Christi in unser Leben gestellt wird, geschieht das gleiche.

Freiheit durch Vergebung, — das ist das neue Leben. Ich könnte ebenso gut auch sagen: Freiheit durch Gelegenheit zum Dank. Denn wo einer danken kann, da wird er von sich selbst frei. Wenn einer in Rußland für mich gestorben ist, dann kann ich ihm nicht mehr danken. Der aber hier gestorben ist, damit ich nicht mehr ster­ben muß, der hier gestorben ist, damit mein Mir-selbst-leben mich nicht in den ewigen Tod führt, der hier gestorben ist, um mich fest und unlöslich mit dem Leben zu verbinden, der ist nicht nur ein Gestorbener, der ist auferstanden und lebt und dem können wir danken, — und das ist es, was nun als Neues sich in unserem Leben ereignen kann. Wir sind jetzt nicht mehr allein, das hoffnungslose Rütteln unserer guten Vorsätze an der Gefängnistür muß nicht mehr die einzige Geschichte unseres Lebens sein, Er, der Auferstandene, ist das Neue selbst und sagt uns: „Ich bin für dich gestorben.“ Er sagt es uns immer wieder und so deutlich, daß, wenn wir es uns sagen lassen, der Dank in unserem Herzen lebendig werden muß und wir frei werden ihm zum Dank etwas zu tun: nicht mehr mit dem Rücken gegen fremde Not zu leben, nicht mehr in Angst und Gier um unser bißchen Leben zu sein, sondern es in seine Hand legen, in seinen Dienst stellen, seine Brüder lieben, den armen, sich-selbst-lebenden Mitmenschen ihr Sich-selbst-leben nicht mehr übel zu nehmen, sondern ihnen zu helfen, daß auch sie die neue Freiheit der Kinder Gottes erkennen und sich daran freuen und es damit wagen. — Amen.

Gehalten am Buß- und Bettag, 18. November 1953, in der Martin Luther-Kirche in Bonn.

Evangelische Theologie 14 (1954), S. 1-6.

Hier die Predigt als pdf.

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