Predigt über Offenbarung 3,14-22
Von Heinrich Albertz
Und dem Engel der Gemeinde zu Laodicea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes: Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts! und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Ich rate dir, daß du Gold von mir kaufest, das mit Feuer durchläutert ist, daß du reich werdest, und weiße Kleider, daß du dich antust und nicht offenbart werde die Schande deiner Blöße; und salbe deine Augen mit Augensalbe, daß du sehen mögest. Welche ich liebhabe, die strafe und züchtige ich. So sei nun fleißig und tue Buße! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Stuhl. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Liebe Gemeinde – zuerst –: Ich muß gestehen, als ich in meinem Pfarrerkalender diesen Text als von den Kirchenoberen zur Predigt für den heutigen Bußtag empfohlen las, bin ich erschrocken und habe eine Weile versucht, ihm auszuweichen. Dieser Text in Bonn zum Bußtag, von mir gepredigt – welch eine Kette von Mißverständnissen und Ärger kann das geben! Aber dann habe ich mich diesem strengen Brief des Verfassers der Offenbarung Johannes nach Laodicea doch gestellt.
Bußtag, in Bonn 1988, und nach dieser vergangenen Woche!
Und Laodicea. In einem Kommentar zu unserem Text finde ich die Sätze: »Die Stadt war so bedeutend und rege, daß die Bürger schwerreich und imstande waren, sie nach einer furchtbaren Erdbebenkatastrophe um 60/61 nach Christus aus eigener Kraft sogleich wieder aufzubauen. Von solchem Geist des ›Wirtschaftswunders‹ sieht Johannes die christliche Gemeinde dort angesteckt.« Soweit das Zitat von Ulrich Wilkens, wahrlich kein Schwärmer. Laodicea und Bonn. Die christliche Gemeinde hier und dort.
Nun: Der Buß- und Bettag ist ja in seiner Entstehungsgeschichte kein kirchlicher Feiertag. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hat ihn 1816 für die preußischen Lande angeordnet, vielleicht sogar nach einem besonderen Blick auf die neu von Preußen okkupierten Gebiete, das widerspenstige Rheinland etwa, eher gen Westen denn nach dem fernen Berlin orientiert. Sicher hat er, der fromme, fast bigotte König, seine Untertanen zu anhaltendem Gehorsam gegen die Obrigkeit ermahnen wollen. So waren die Zeiten in der heiligen Allianz der reaktionären Herrscher in Rußland, Österreich und eben Preußen.
Aber stellt euch bitte vor, eine Bundesregierung gäbe uns einen neuen gesetzlichen Feiertag zum Nachdenken. Fast unvorstellbar nach den Erfahrungen mit dem 17. Juni.
Aber genug der Geschichte! Der Brief nach Laodicea ist ja nicht an die römische oder lokale Obrigkeit in dieser Stadt gerichtet. Johannes, nennen wir den Seher der Offenbarung so, Johannes schreibt an die christliche Gemeinde, sechzig Jahre nach Jesu Tod. Es ist ein drastischer Brief. »Ich kenne deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest. Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.« Deutlicher geht es nicht. Stellt euch vor, ein Pastor sagte dies als seine eigenen Worte, ein Präses in einem Wort an die rheinischen Gemeinden, die Synodalen auf unseren eher betulichen Synoden. Das wäre protestantischer Rigorismus, anmaßend und fanatisch. Und politisch zu den extremen Rändern der Kirche rechts oder links einzustufen. Aber Johannes sagt es. Er sagt es in der sicheren Erwartung des kommenden Gerichtes und des Endes der Tage und damit des wiederkommenden Christus. Lest die neue Übersetzung »Das A und O« von Walter Jens.
Atemlos wird die Sprache, bis der neue Himmel und die neue Erde Wirklichkeit ist – nach diesen Briefen, nach unserem Brief an die Christen in Laodicea. Aber eben: Christen in einer existierenden Stadt, in einer konkreten Situation, Christen und Bürger zugleich. Was heißt da kalt oder warm? Es kann doch nur heißen, daß Menschen, die von diesem Jesus gehört haben, von seinem Leben und seinem schrecklichen Tod wissen und an seine Auferstehung glauben, und denen gesagt wird, daß er wiederkomme, anders als andere leben sollen – eben die Lauen, die Angepaßten, die Mitläufer, die Ja-und-Amen-Sager, die Opportunisten aller Ränge und Farben, die Leute, die immer bei den stärkeren Bataillonen sind, also letztlich die Ängstlichen und Furchtsamen, denen nichts so wichtig ist wie ihre eigene Karriere, ihr Aus- und Einkommen, ihr Vergnügen. Aber auch die sogenannten Linken, die sich so viel auf ihre besseren Einsichten einbilden. Kalt oder warm, das heißt ja oder nein sagen können, nicht immer nur »jein« oder sowohl als auch, oder vermutlich oder wahrscheinlich, oder einfach nur »weiter so«, ja keineswegs nur die Parole einer Partei. Das Mitlaufen wird offensichtlich besonders gefährlich in einer reichen Umgebung, wie der Erfolg, wie unser Wiederaufbau, wie der Stolz auf die eigene Leistung, wie unser voller Bauch: »Du sagst, ich bin reich und habe alles im Überfluß und brauche nichts und weißt nicht, daß du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.« Oh, liebe Freunde, das auch nur vorzulesen als ein Pastor mit einer Bürgermeisterpension in dieser Stadt Bonn-Bad Godesberg, wo der Mensch eigentlich erst im höheren Dienst anfängt und ab einer bestimmten Autoklasse ernst genommen wird. In einem der reichsten Länder der Welt. Nach einer Katastrophe (wie in Laodicea) wieder aufgebaut. Eine Festung überzeugter und überzeugender Sicherheit. »Elend und jämmerlich, arm, blind und bloß.«
Man geniert sich fast, ins einzelne zu gehen. Aber wo sind wir Christen – und wir haben, wie ihr doch immer wieder hört, auch eine christliche Regierung-, wo sind wir allesamt, wenn wir uns den Ansprüchen Jesu stellen, wenn wir die Geschichte der Bibel, der ganzen Bibel, also auch die Bibel des Juden Jesus, das Alte Testament, lesen? Ich brauche es gar nicht auszusprechen. Die Einwände kommen schon, ehe ich es ausgesprochen habe. Wo kommen wir hin, wenn wir die Bergpredigt ernst nehmen? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn? Denkt nur an die elende Gnadendebatte. Da ist einer nicht gnadenwürdig. Und das will dann der Generalbundesanwalt bestimmen. Ja, wo kommen wir hin? Wenn wir statt unserer angeblichen Sicherheit wirklich die ersten Schritte zur Abrüstung machen? Wenn wir endlich begreifen, daß wir nicht ohne die Schöpfung Gottes, die Natur aber ohne uns leben kann? Wenn wir unseren Reichtum teilten, nach außen zu den verhungernden Völkern, mit deren Armut wir noch glänzende Geschäfte machen, nach innen mit dem Drittel unseres Volkes, das an unserem Reichtum keinen Anteil hat? Wenn wir barmherzig sein könnten und traurig, wo es not tut, und streng, wenn es gilt, Gesetze zu schaffen und durchzusetzen, um Leben von Menschen und Tier und Pflanze zu bewahren. Wenn es um den einfachen Versuch ginge, die Zehn Gebote einigermaßen zu halten? Wenn Freiheit nicht zur Freiheit des Rasens auf den Autobahnen verkäme? Wenn jene regierten, die wir mit der Regierung beauftragt haben, und nicht die Großindustrie oder die Banken?
Wenn also Glaubwürdigkeit einen anderen Wert bekäme als in Kiel oder Hannover oder Bremen oder hier in Bonn? Wenn vor allem im Umgang mit unserer Geschichte uns die Leiden der Opfer mehr interessierten als die Motive, die die Täter entschuldigen könnten? Ja, wo kommen wir hin? Das sind doch nicht irgendwelche Miesmacher oder Querulanten, die solche Fragen stellen, sondern das sind die Fragen, die uns das Wort Gottes stellt, damals in Laodicea und heute in Bonn-Bad Godesberg.
»So setze nun alles daran und kehre um.« Ja, »kehre um«, heißt es hier. Es scheint sich also um eine Kehrtwendung zu handeln, die 180° vertragen kann. Jedenfalls eine Richtungsänderung. Ein Drehen am Hahn, der das Wasser kalt oder warm machen kann. Aufstehen also und sagen, was ist, hinschauen und nicht blind vorübergehen.
Der Verbrecher Hitler hat doch nur regieren können, weil wir Alten – bis auf einige, viel zu wenige Ausnahmen – zu feige waren. Vor allem die, die Instrumente hatten, ihm in seinen Anfängen Einhalt zu gebieten, die Waffen hatten, die sich verweigern konnten. Aber wir waren blind, elend und jämmerlich. Generale, Richter, Staatsanwälte, Lehrer und die klugen Professoren. Und wir, wir Christen zuerst und zuletzt. Ach, Laodicea und seine Gemeinde. Ach, die Bundesrepublik Deutschland und die Evangelische Kirche (von Rom ganz zu schweigen).
Haben wir eigentlich schon einmal nachgedacht, wie abhängig wir sind vom Reichtum der Reichen? Wenn Axel Springer aus der Kirche austrat und plötzlich Millionen Steuern fehlten? Wenn wir uns mit den Großen und Mächtigen anlegen, die diese Kirche finanzieren?
Vielleicht ist darum das Christsein in der DDR so viel glaubwürdiger und so viel ernster zu nehmen als unser gutbürgerliches westliches Christsein. So – und nachdem wir das alles bedacht haben, dürfen wir die letzten Verse unseres Briefes lesen: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür auftut, werde ich zu ihm hineingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir. … Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.«
Ich habe, ich brauche dem nichts mehr hinzuzufügen. Viel wichtiger ist, was uns jetzt gleich unter Brot und Wein gegeben wird. Amen.
Gehalten an Buß- und Bettag am 16. November1988 in Bonn-Bad Godesberg.