Karl Rahner über die Mystik: „Weil Jesus Christus mit der Menschheit zugleich die ganze Schöpfung in seiner Liebe erlöste, ist eigentlich christlich-mystische Erfahrung weder Weltverneinung noch Begegnung mit dem unendlichen All, sondern Mitnahme der Welt in die liebende Begegnung mit dem persönlichen Gott.“

Mystik

Von Karl Rahner

Mystik besagt sowohl als Erfahrung die innerliche, einende Begegnung eines Menschen mit der ihn und alles Seiende begründenden göttlichen Unendlichkeit, in der christlichen Mystik, im Judentum und Islam mit dem persönlichen Gott, als auch den Versuch der wissenschaftlichen Ausle­gung, die Reflexion über diese Erfahrung (und daher eine wissenschaft­liche Disziplin).

1. Mystische Phänomene sind durch Zeugnisse in allen höheren Reli­gionen erwiesen. Die mysti­sche Schau als Versenkung der Seele in ihren Grund ist stets Akt der Einzelperson, nicht der Kultgemeinde; doch kann dem Einzelnen im Kult mystische Erfahrung zuteil werden. Eventuelle Aufträge, mystische Botschaften anderen zu verkünden, sind Ausnahmen. Verkündigung und begriffliche Auslegung bleiben im­mer unzureichendes „Stammeln“, denn die übersinnliche mystische Erfahrung als solche gibt keine Gewähr für die Wahrheit und Angemes­senheit der nachfolgenden begrifflichen Mitteilung. Während die Magie sich die Begegnung mit der göttlichen Mächtigkeit durch beson­dere Mittel verfügbar machen will, wird die mystische Schau stets als Geschenk erfahren. Die Askese kann dabei (so besonders in der außerchristlichen Mystik betont) eine Vorbereitung der mystischen Eini­gung sein. Weil dabei die vom Absoluten stammende Geistigkeit als Eigentlichstes der Seele und zugleich die Aufhebung des Bewußtseins der Zeit und Gegenständlichkeit erfahren werden, steht die mystische Theorie oft in der Gefahr, diese Erfahrung im Sinn des Monismus, Pantheismus, Theopanismus auszulegen, diese selbst hat aber mit diesen Irrtümern nichts zu tun.

2. Die Erfahrung der göttlichen Unendlichkeit durch die natürliche Mystik kann auch Christen zuteil werden, ja solche ist grundlegend in der Erfahrung der Transzendenz schon impliziert. Sie kann so zur Versuchung werden, in geistiger Hybris die Vermittlung des mensch­gewor­denen Wortes Gottes zur Einswerdung mit Gott von vornherein abzulehnen. Christliche Mystik ist wohl auch Mystik der Unendlichkeit. Mystik ist aber solche als Erhöhung und Befreiung der Transzendenzerfahrung durch die Gnade als (erfahrene) Selbstmitteilung Gottes; so aber ist die mystische Einigung als unvollkommene Andeutung der seligen Gottesschau der Ewigkeit wie diese selbst stets vermittelt durch das Faktum des geschichtlichen Abstieges Gottes zu den Menschen in seinem Sohn, der auch im ewigen Leben der Fleischgewordene, Gekreuzigte und Auferstandene bleibt: Christusmystik.

3. Weil Jesus Christus mit der Menschheit zugleich die ganze Schöpfung in seiner Liebe erlöste, ist eigentlich christlich-mystische Erfahrung weder Weltverneinung noch Begegnung mit dem unendlichen All, sondern Mitnahme der Welt in die liebende Begegnung mit dem persönlichen Gott. Wo freilich in der außerchristlichen Mystik der persönliche Gott erfahren wird, ist insofern nicht nur von „natürlicher Mystik“, sondern von übernatürlicher Mystik zu sprechen, als dabei unreflex Jesus Christus als Antlitz des Vaters erfahren wird. Denn jede Begnadigung ist nur erwirkt dank der Erlösungstat Jesu Christi. Sofern durch Jesus Christus im Heiligen Geist das trinitarische Leben Gottes vermittelt wird, ist christliche Mystik Dreifaltigkeits- bzw. Dreieinigkeitsmystik und sind die Gnadengaben des Heiligen Geistes von größter Bedeutung. Aus ihnen kann die Stufenfolge des mystischen Aufstieges erklärt werden. Die Askese bildet dabei die Vorstufe. In der Reinigung und Enthaltung wird aber nicht die Persönlichkeit vernichtet, sondern die endliche Seele wird frei für die deutlichere Erfahrung der Gnade. Auf einem aufsteigenden Erleuchtungs- und Einigungsweg, der in der Geschichte der mystischen Auslegung verschieden gestuft wird, verhält sich die Seele „leidend“, nicht „tätig“ gegenüber den Gnadengaben des Heiligen Geistes. Doch kann namentlich die Gabe des Rates und der Stärke den Mystiker zu sozialer Betätigung und sogar zu entscheidendem ge­schichtli­chem Handeln führen. Mystische Erfahrung kann von psychologisch seltsamen Phänomenen (Ekstase, Stigmatisation, Elevation usw.) begleitet sein, doch sind solche keine wesentlichen Momente der eigentlichen Mystik.

Quelle: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch, Freiburg i.Br.: Herder, 101976, S. 289f.

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