Friedrich-Wilhelm Marquardt über Helmut Gollwitzer: „Es ist der jugendliche SA-Propagandist von Lindau-Reutin, der dann — wie so viele von Haus aus national eingestellte Leute — Mann der Bekennenden Kirche wird. Es ist der thüringische Prinzenerzieher, der in der sowjetischen Ge­fangenschaft zum Plenni wie nur einer wird. Es ist der eigentlich ganz Konservative und der ausgewiesene Anti-Stalinist, der in Westdeutsch­land als Kommunist heftig attackiert, als Nachfolger auf Barths Lehrstuhl in Basel dann abgelehnt wird.“

Helmut Gollwitzer

Von Friedrich-Wilhelm Marquardt

Helmut Gollwitzer, geboren am 29. Dezember 1908 in Pappenheim/Mainfranken. Theologie- und Philosophiestudium in München, Erlangen, Jena, Bonn. Pfarrer der Bekennenden Kirche in Thüringen und Berlin. 1937 Promotion in Basel. 1940 aus Berlin ausgewiesen und zur Wehrmacht eingezogen, Soldat und Kriegsgefangener in der Sowjetunion von 1940-1949. Professor für systematische Theologie in Bonn, seit 1957 an der Freien Universität und an der Kirchlichen Hochschule Berlin.

Hauptschriften: Coena Domini (1937); Die Freude Gottes (1940); Und führen wohin du nicht willst (1950); Jesu Tod und Auferstehung (1951); Zuspruch und Anspruch (1954); Die Chri­sten und die Atomwaffen (1957); Israel und wir (1958); Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (1962); … und lobten Gott (1962); Forderungen der Freiheit (1962); Die Existenz Gottes im Bekenntnis des christlichen Glaubens (1963); Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube (1965); zusammen mit Wilhelm Weischedel: Denken und Glauben (1961),

Es gibt eine Szene, die auch dem unvergeßlich bleibt, der sie nur vom Hörensagen und aus dem später veröffentlichten Protokoll kennt. Als in dem berühmt gewordenen Mainzer Streitgespräch vom Februar 1964 Herbert Braun, Johannes 8 zitierend, den Teufel den Vater der Juden nennt, um damit auf die erheblichen Unterschiede zwischen dem neutestamentlichen und alttestamentlichen Gottesverständnis hinzuweisen — da gerät Helmut Gollwitzer völlig aus der Fassung und ruft in höchster Erregung aus; „Wie entsetzlich… Eine ungeheuerliche Aussage. Horribel!“ Diese spontane Reaktion unterbricht das Hin und Her der Gründe und Argumente und überläßt die Weiterführung des Gesprächs für einen Augenblick dem Streitgenossen. Erst danach findet Gollwitzer wieder in den Redewechsel zurück, aber die leidenschaftliche Empörung bleibt in der Gedankenführung erhalten: „Ihre Auslegung … halte ich nach wie vor für horribel.“

Diese Episode gehört hierher, weil sie für Gollwitzers Theologisieren sehr bezeichnend ist: Es gibt einen existentiellen Kompaß seines Denkens, dem er sich ohne zu zögern überläßt. Herbert Braun ist mit seinem Zitat auf einen Gollwitzerschen Lebensnerv — die Revision des traditionell ver¬fehlten jüdisch-christlichen Verhältnisses — getroffen, und Gollwitzer hat, unter den Emotionen verborgen, existentiell reagiert. Wie das christliche Verhältnis theologisch neu zu fassen ist, wie dabei dann auch z.B. Johannes 8 theologisch neu einzuschätzen sein wird — das ist für Gollwitzer eine ganz drängende, aber völlig offene Frage. Daß aber diese Neuformulierung vornehmstes Gebot heutiger christlicher Theologie ist, das steht ihm vor dem wissenschaftlichen Beweis ihrer Möglichkeit mit Gewißheit fest. Es ist dies die Gewißheit der Erfahrung: Juden spielen in Gollwitzers Leben seit seiner Dahlemer Pfarrerszeit im Kirchenkampf eine wichtige Rolle; es ist dies auch die Gewißheit der Einsicht in Schuld und Verfehlung der christlichen Kirche an den Juden: Das Schuldbekenntnis unserer Generation ruft nach seinen Konsequenzen gerade auch in der Theologie.

So gibt es eine Reihe von prä-theologischen Bedingungen heutiger Theologie, die deswegen nicht zu den berühmten non-theological factors aller Theologie zu rechnen sind, weil sie begründet sind in den Bindungen des Glaubens und seiner spezifischen Erkenntnis; sie stellen sowohl den normalen theologischen Schulbetrieb infrage, der nur dauernd das Herkömmliche reproduziert, wie auch jene Fortentwicklungen der Theologie, die sich aus der bloß logischen, fast gesetzmäßigen Entfaltung der einmal gefundenen Methoden und des einmal durchgesetzten Begriffsmaterials ergeben — wie in nur zu vielen Gestalten der Fakultätstheologie heute. Gollwitzer verachtet beides nicht; der theologischen Tradition ist er genauso verpflichtet wie dem theologischen Fortschritt. Aber die besonderen Themen, denen er sich bisher theologisch gewidmet hat, durchbrechen herkömmliche Ergebnisse und Fragestellungen, ja erschließen der Theologie mehrfach völlig neue Denkbereiche. Seine Dissertation über das Abendmahl ist eine frühe Voranmeldung der späteren Arnoldshainer Thesen, in denen die evangelische Kirche den Versuch einer lutherisch-reformierten Übereinkunft in diesem alten Streitgegenstand unternimmt. Sein Rußlandbuch „Und führen wohin du nicht willst“ mit seiner kommunistisch-christlichen Auseinandersetzung macht in der antikommunistischen Bundesrepublik der Stalin-Ära der weiteren Öffentlichkeit wenigstens das Angebot einer sachbestimmten Konfrontation ohne die Sklaverei der Angst und des Hasses. Sein Bonner Studentengemeinde-Vortrag „Wir Christen und die Atomwaffen“ bringt Kirche und Theologie in Deutschland zum erstenmal das theologische Problem der modernen militärischen Bewaffnung ins Bewußtsein und wirkt so als Initialzündung für die große Atom-Diskussion, die die Evangelische Kirche in Deutschland bis an den Rand ihrer einheitlichen Existenz führen wird. Seine Israel-Festrede im Auditorium maximum der Berliner Freien Universität im Mai 1958 und sein Israel-Vortrag auf dem Münchener Kirchentag 1959 — gemeinsam mit Studenten der Berliner Studentengemeinden — sind Anfänge, die später zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag führen, deren Vorsitzender er im Augen blick ist und die wiederum zu einem Kristallisationspunkt der theologi­schen Neubesinnung auf das Judentum wird. Für das Sommersemester 1966 kündigt Gollwitzer — soweit ich sehen kann: als erster — eine syste­matische Vorlesung über Judentum und Christentum an. Schließlich führt er 1963/64 mit Wilhelm Weischedel zusammen zum erstenmal über ein ganzes Semester hin einen öffentlichen theologisch-philosophischen Dis­put über „Denken und Glauben“, stellt sich als Theologe dem Philosophen konkret, „im Fleische“, von Angesicht zu Angesicht, und befreit so die heimliche Verborgenheit der Philosophie in der Theologie und der Theo­logie in der Philosophie voneinander, über der heute in der Grenzdisziplin der Hermeneutik noch zusätzlich der Schleier der Selbstverheimlichung beider voreinander liegt. Hier setzt sich das theologische Gespräch über die „Existenz“ Gottes fort, das Gollwitzer kurz vorher (1963) gegen a-theistische Tendenzen in der heutigen Theologie herausgefordert hatte. Und hier bereitet sich die große Vorlesung vor über „Der christliche Glaube und die Frage nach dem Sinn des Lebens“, in der Gollwitzer — mit der Aufnahme des solange in der Theologie verpönten Sinn-Begriffs — im Grunde nichts als seine Gestalt der Rechtfertigungslehre vorträgt (1964/65). Alle diese Themen scheinen, faßt man sie von hinterher ins Auge, jeweils gerade in der Luft zu liegen; sie bewegen jeden, und so erklärt es sich, daß Gollwitzer sofort überall Gehör findet. Aber nur er greift sie auf; es ist, als warteten die „heißen Eisen“ immer gerade nur auf ihn, und sein» Leistung besteht darin, daß er sie findet und ihnen die sofort Spannung, geladene, zur Diskussion zwingende Form gibt. Man scheint mir nicht gut beraten, hierfür — wie es schon geschehen ist — die Kategorie des Prophetischen zu bemühen; wie schon gegenüber Gollwitzers Freunden und Lehrern Martin Niemöller und Karl Barth hätte man dann auch ihm gegen­über zu leicht die Möglichkeit, die Relevanz seines Denkens für die theologische Wissenschaft letztlich zu bezweifeln und hinter seiner kerygmatischen Bedeutung zurückzustellen. Dagegen ist zu sagen, daß der „richtige Riecher“ für die Aufgaben und Entscheidungen der Gegenwart, genau wie bei Barth und Niemöller, so auch bei Helmut Gollwitzer, nicht aus der Fülle der Gesichte, nicht aus dem Reichtum der Assoziationen und Ideen, sondern ganz im Gegenteil: aus der Kargheit und Armut einer ganz auf das Letzte zurückgeworfenen, nach dem Worte Gottes hungernden, nach der Erfüllung seiner Gerechtigkeit dürstenden, unter dem Elend unserer Unwissenheit und in der Armut der Schuld seufzenden „theologischen Existenz“ herrührt. Nur in der „theologischen Existenz“ bildet sich das empfindliche Reaktionsvermögen für die Rufe Gottes, und nur in dem Aufbau einer Theologie als Antwort des Denkens auf das Wort läßt sich die „aktuelle“, herausfordernde Form einer theologischen Aussage finden.

Zum Gesetz der „Sache“ gehört hier gerade nicht nur die oft so langwei­lige und unbedeutende wissenschaftliche Sachlichkeit, sondern Glut und Blut eines lebendigen Herzens und eines wach gelebten Lebens; theolo­gische Existenz fordert also auch — anders, als das Zerrbild normaler Wissenschaftlichkeit erlaubt — Willen, Leidenschaft, Spontaneität und Ten­denz an. In der Theologie will jemand etwas, denn in ihr ist jemand ge­wollt. Darum gehören die Unwägbarkeiten und das Unableitbare eines persönlichen Lebens gerade in diese Wissenschaft hinein. Anders als aus den vollzogenen Entscheidungen des Glaubens lassen sich die „fälligen“ Themen der Theologie offenbar gar nicht entdecken, und Theologie müßte sich selbst verlieren, eine metabasis eis allo genos, einen Wesenswandel erleiden, sie müßte heimlich oder offen, wie es ja immer wieder geschah, etwas anderes als Theologie geradezu sein wollen, wenn nicht Gottes Be­rufungen und seine Rufe aus dem Alltag ihn selbst zum einzigen Inhalt und Gegenstand und sein Wort zur einzigen Form alles menschlichen Sprechens über ihn immer wieder neu „setzten“. Die Möglichkeit von Theologie steht in jeder Generation neu auf dem Spiel, und nur die tat­sächlich gelebten theologischen Existenzen sind die Bedingung ihrer Mög­lichkeit. Die Existenz Gottes erschließt sich nur dem Bekenntnis des Glaubens.

Man muß bei der Erwägung dieses Gedankens konsequent sein: Will man menschlicher Leidenschaft, menschlichem Willen, der Spontanität, ja der Tendenz einen Platz in der theologischen Wissenschaft zubilligen, dann muß man bereit sein, z.B. auch das Moment einer menschlichen Selbst­behauptung inmitten der Theologie in Kauf zu nehmen. Gerade dies ge­hörte zweifellos schon zu Karl Barths Ausruf der Theologischen Existenz vom Sommer 1933 hinzu: Die Aufforderung, zu tun, als wäre nichts ge­schehen und auf dem eigenen Geschäft unbeirrt zu beharren wie die Horensänger von Maria Laach, wollte ja nicht nur eine Durchhalteparole sein, sondern zielte — von unserer heutigen Kritik an so mancher schlim­men Selbstbefangenheit in der Bekennenden Kirche aus gesehen, müssen wir sagen: ganz ungeniert — schlicht auch auf die Selbstbehauptung der Theologen als Theologen. In Helmut Gollwitzers Person wie in seinem Denken kann man diesen wahrlich nicht-prophetischen Unterton nackter Selbstbehauptung in der theologischen Existenz deutlich genug spüren. Nicht als wäre er allein oder er besonders unter allen theologischen Den­kern dieser Wirksamkeit des alten Adam besonders ausgesetzt; wahrlich nicht! Aber gerade er gibt sich menschlich in seinem Theologisieren so her wie selten ein anderer, und darum kann gerade an ihm diese Seite an der Existenz aller Theologen so deutlich ins Bewußtsein treten und freilich auch so manchen Zeitgenossen befremden. Auch hierin erinnert er am ehesten an Karl Barth, an Martin Niemöller, an Hans Joachim Iwand — an die „Naturen“ unter den Theologen unserer Zeit. Was vielen an Karl Barth schwergefallen zu sein scheint: die innere Festigkeit und Bestimmt­heit seiner Gestalt, die man vor allem vom schwankenden Deutschland der Hitlerzeit aus nur als fremd, undeutsch, schweizerisch empfinden wollte, — was man Martin Niemöller oft genug übel angemerkt hat: das zähe Durchhalten seiner U-Boot-Kommandanten-Art, — ähnliches ver­merkt man an Helmut Gollwitzers bayerisch-bäuerlichem Konservatismus, durch den er niemals zum Parteigänger irgendwelcher erklärt und wild entschlossen Fortschrittlicher werden kann. Er hat einen völlig unver­krampften und darum auf Anhieb überzeugenden Sinn für die Tradition. Wie ihm die Theologie der alten lutherischen Orthodoxen nicht nur be­kannt, sondern zugänglich ist, — wie er in Vorlesungen die Mythen der Religionsgeschichte in wenigen Sätzen lebendig machen kann, als lebte er selbst darin, — wie er in seinen Dahlemer Gottesdiensten völlig verschont zu sein scheint von unserer Anfechtung durch viele Texte des Gesang­buches, — wie die liturgische Sprache in seinem Munde völlig ihre Anstößigkeit zu verlieren scheint, — wie ihm die, im heutigen Deutschland |a wirklich nicht mehr ganz unproblematische Beziehung der Kirche auf das „Volk“ (statt, wie viele möchten, auf die „Gesellschaft“) nicht auszureden ist, — wie ihm, um nur diesen einen im engeren Sinn theologischen Aspekt herauszugreifen, die „theistische Außenform“ der christlichen Rede von Gott nicht zweifelhaft werden konnte — das alles sind Hinweise auf das feste Wachstum der Überlieferung in ihm, wie es in unserer jüngeren Generation nicht mehr anzutreffen ist. Hierher gehört auch seine, aus der Jugendbewegung frisch erhaltene Begeisterungsfähigkeit, die die „skeptische Gene­ration“ nur mit bassem Erstaunen zur Kenntnis nehmen kann, von der aber sie, wie viele andere, nur profitiert; Gollwitzers Wort: „Idi kann mich nicht so rasch für ein negatives Urteil entscheiden“, von ihm all Lehrer treu praktiziert, wirkt immer wieder befreiend auf das in sich verkurvte, humorlos-kritische Studentenalter; dabei hilft ihm seine süddeut­sche pädagogische Ader, mit der er ein paar, von keines Gedankens Blässe angekränkelte Grundformen der Menschlichkeit leidenschaftlich vor den Negationen dieses Alters zu bewahren versucht: in einer Millionenstadt wir Berlin gar kein leichtes Vorhaben! Das alles kommt aus einem unzerstörten Untergrund seiner Herkunft und Natur, wirkt nicht — wie bei den meisten konservativen Wiederbelebungsbestrebungen unserer Gegenwart — gekünstelt und aufgestülpt, ist vielmehr spontan, lebendig und darum aus sich selbst heraus wirksam. Entladungen der Emotion wie die am Anfang beschriebene stauen sich auf diesem Untergrund. Sie entspringen, ganz wie bei Karl Barth, einem tiefen Sinn für die, wie auch immer problematische, Gerechtigkeit der Väter.

Aber nun wird diese Natur in den Schmelzofen der Geschichte gesteckt, dieser Mann und Theologe wird geführt, wohin er nicht will; und so erst bildet er sich. Das Wort Jesu an Petrus aus Johannes 21, das Gollwitzer zum Titel für seinen Gefangenschaftsbericht gewählt hat, ist in Wahrheit auch der Titel seiner geistigen Bewegungen. Die Natur wird „gegürtet“, der Ruf nach vorne ergeht, das heute fast schon modisch werdende Exodus-Bild realisiert sich in diesem Denken immer neu. Es ist der sozusagen gebürtige Lutheraner, der zum Schüler und Freund des reformierten Karl Barth wird. Es ist der — was vielen, die ihn kennen, gar nicht klar ist — studierte Philosoph, der immer wieder zum Theologen wird. Es ist der jugendliche SA-Propagandist von Lindau-Reutin, der dann — wie so viele von Haus aus national eingestellte Leute — Mann der Bekennenden Kirche wird. Es ist der thüringische Prinzenerzieher, der in der sowjetischen Ge­fangenschaft zum Plenni wie nur einer wird. Es ist der eigentlich ganz Konservative und der ausgewiesene Anti-Stalinist, der in Westdeutsch­land als Kommunist heftig attackiert, als Nachfolger auf Barths Lehrstuhl in Basel dann abgelehnt wird. Als dies beides kann man ihn kennen, wenn man sich nicht, wie hierzulande geläufig, aus durchsichtigen Grün­den die Augen verklebt. Durch beides — durch seine „Herkunft“ wie durch seine jeweils neu überraschend einfallende „Zukunft“ — hat er seine un­verwechselbare geistige Physiognomie und seine Bedeutung für Theologie und Kirche heute. Das sind nicht die zwei Seelen, ach, in jedes Deutschen Brust, sondern deutlich handelt es sich um Start und Ziel und einen Weg des Lernens, des Suchens, des Findens — um nicht zu sagen: des Gefunden­werdens! — dazwischen, gegangen durch Experimente, Unsicherheiten, Entdeckungen. Gollwitzers Fortschritte sind Lebensbewegungen, seine „Fortschrittlichkeit“ entspricht nicht etwa einer intellektuellen Allüre, sondern ruht auf Wendungen und Bekehrungen des ganzen Mannes. So wird er, dem der Dialog eigentlich weniger liegt, weil er wegen der Ge­schwindigkeit, ja Fixigkeit seines Denkens dem Gesprächspartner oft schon um Ellenlänge voraus zu sein scheint, und der darum doch lieber Lehrer und Redner ist, in der Sache zu einem Theologen des Dialogs in viele Rich­tungen — so sehr, daß man gar nicht selten auf apologetische Züge seiner Theologie stoßen kann. Hier kommt es zu der — selbstverständlichen! — Neugier an Martin Buber, die man ihm schon angekreidet hat; aber natür­lich läßt sich nirgendwo in Gollwitzers Schrifttum ein „dialogisches Prin­zip“ nachweisen. Im Gegenteil: Der Dialog ist ja für Gollwitzer gerade nicht enges System, sondern die Weite dieses an sich so „von Hause“ be­stimmten Mannes; der Dialog macht die Weite, Intimität, Eindrücklichkeit seiner Schriftauslegung und seiner großen Predigten aus; er läßt ihn zu einem unermüdlichen, beängstigend produktiven Briefschreiber werden; er bewirkt auch physisch die fast unbegrenzte Zugänglichkeit dieses Man­nes, dessen Telefonnummer im Telefonbuch verheimlicht werden muß, wenn er nicht den hemmungslos sein Gespräch suchenden Menschen aus allen Ländern und Ständen ausgeliefert sein soll. Wiederum gibt er sich auch im Dialog ganz her. Er kann manchmal in seine Gesprächsführung — sie liegt in der Regel bei ihm! — und in seine Gesprächsbeiträge den ande­ren und seine Position aufnehmen bis zur Verwechselbarkeit und Mißverständlichkeit. So entsteht häufig eine wirkliche Schwierigkeit der Goll­witzer-Interpretation: Wer ihm nicht nahe und seinen Denkbewegungen sehr vertraut ist, vermag manchmal nicht zu entscheiden, ob jetzt Goll­witzer seine eigenen Gedanken oder die eines anderen entwickelt; so muß er sich zuweilen auf seine Kappe schreiben lassen, was er nur zitiert und nach seiner Weise bis an den Rand der Selbstidentifikation interpretiert hat, ohne daß es doch seine Meinung wäre. Gerade im Gespräch mit Ju­den hat er in der Verständlichmachung herkömmlicher christlicher Gedanken, die doch bestenfalls früher einmal seine eigenen gewesen sind, die d.t für nötigen Prügel selber eingesteckt. Eben dies Beispiel beweist aber, wo Gollwitzers wirkliches Charisma liegt: Er ist zwischen höchst gegensätzlichen Positionen ein theologischer Vermittler von hohen Graden, ohne doch deswegen irgendeine unklare, labbrige Vermittlungstheologie ent­werfen zu müssen. Sein großes Differenzierungsvermögen scheint selten einmal ausgeschöpft und ermittelt dort immer noch Möglichkeiten zu weiterer Kommunikation, wo andere kurzschlüssig längst das Gespräch abgebrochen hätten. Und selbst wo er nicht weiter kann, wie im Gespräch mit Herbert Braun, bleibt er der ritterlichste Verteidiger und Interpret seines Gesprächspartners gegenüber so abgründig falschen und bösen An­griffen gegen die „moderne“ Theologie, wie sie in letzter Zeit immer vernehmbarer werden.

Dieses Theologisieren versteht sich selbst als „Existenz im Dank“ und gibt damit über alles nur Individuelle hinaus seine objektive Verbundenheit an. Es preist Gott, der sein zentraler Lebensinhalt ist, auch im Den­ken. Es resigniert nicht an der Möglichkeit, von Gott nicht nur pre­digend zu reden, auf sein Wort nicht nur bekennend zu antworten, son­dern auch ihn selbst zu „denken“. Mit dieser sehr unzeitgemäßen Spitz» seiner Theologie will er sich nicht nur seinen philosophischen Kollegen „stellen“, sondern will er auch seine theologischen Kollegen herausfordern Ob der gewiß nur auf dem Umweg über sein Wort, seine Taten und unser Predigen und Bekennen denk-bare Gott als Gott tatsächlich auch gedacht wird, das empfindet Gollwitzer als die an alle Theologie sich richtend» kritische Frage. Sie hat bei ihm eigenen Rang; er bringt sie nicht auf, um Barth-Apologie zu treiben, wie man oft von ihm flüstert. Umgekehrt dringt er auf Neu-Beachtung der Barthschen Theologie und besonders sei­ner Gotteslehre, weil unter allen Gestalten gegenwärtiger Theologie sie am steilsten, anspruchsvollsten und hilfreichsten bereits die Anfragen des modernen Atheismus in sich hat, die die Kirchen, aber auch die Theologen immer noch unbeantwortet vor sich herschieben. Der Sozialismus seiner eigenen Studentenzeit, die Marxismus- und Kommunismus-Auseinander­setzungen seiner russischen Gefangenschaft, aber auch der Druck des prak­tischen Atheismus der christlichen Welt einschließlich so mancher ihrer Theologien, bilden das weltanschauliche Kolorit der Gollwitzerschen Theologie und machen ihre Brisanz aus. Die heutige geistige Situation, als Anfrage genommen, kann unmöglich mit einer Umschreibung der „Exi­stenz“ Gottes schon befriedigt sein, die sich der klaren Aussagbarkeit ent­zieht. Gewiß ist nicht die Frage wichtig: „Gibt es“ Gott oder „gibt es“ ihn nicht? Wohl aber muß Theologie sich die Testfrage auf ihre Redlich­keit gefallen lassen: Meint sie Gott, wenn sie von Gott redet, oder meint sie irgendetwas anderes? Und: Hört Gott Gebet oder hört er nicht? Nur so herum kann die heutige atheistische Gesprächslage erreicht werden; denn über mitmenschliches Verhalten, sprechende Geschichte, aufgerufenes Existieren und dergleichen weiß in der Regel die atheistische Welt ganz gut allein Bescheid, und sie bedarf dazu der theologischen Verkleidungen in Gestalt eines doch nicht so gemeinten „Gottes“ an sich nicht. Gollwitzer ist vertraut mit den erkenntniskritischen Schwierigkeiten, die wir alle heute mit der Vorstellung Gottes haben; aber er hat sich selbst und ande­ren die Aufgabe gesetzt, nicht an diesen Schwierigkeiten vorbei, aber allerdings durch sie hindurch die ontologische Redeweise zu erhalten, weil nämlich andernfalls, wenn von Gott sein Sein nicht mehr ausgesagt wer­den kann, die christliche Botschaft und Theologie absinken in das Schwei­gen der Götter, preisgegeben werden an das Todesmysterium aller Reli­gionen, verraten werden an die Wahngestalten unserer Triebbefriedigung. Damit fiele dann aber auch das Heil der Welt dahin.

Gollwitzer faßt das bewahrende und doch vorwärtsweisende, das ge­gebene und doch allererst Zukunft bietende, das „seiende“ und das „wer­dende“ Moment des Evangeliums in dem einen Begriff der „Verheißung“, der zum Kernbegriff seiner Theologie geworden ist. Gerade unter diesem Begriff sieht er alternative Entscheidungen in der Gottesfrage von heute für unmöglich an. „Verheißung“ ist ein komprehensiver Begriff, der zu­sammendenkt, was zusammengehört — ein sehr bezeichnender Gollwitzerscher „Griff“: Rückgriff auf den jungen Luther — Vorgriff der Hoffnung auf die im Evangelium erklärte Wirklichkeit Gottes — Angriff auf jede theologische und kirchliche Trägheit und falsche Beharrlichkeit.

Genau wie bei Karl Barth ergeben sich von der Wirklichkeit Gottes aus — der ist, der er ist, indem er verheißt, daß er kommt — die praktischen kirchlichen und politischen Komponenten dieser Theologie. Gollwitzers stets auch außerhalb der Kirche stark beachtete Stellungnahmen zu Tagesfragen sind nicht Allotria eines randalierenden und politisierenden Theologen, ergeben sich vielmehr als „Forderungen der Freiheit“ eben aus dem schlichten Vertrauen in die unproblematische Wirklichkeit Gottes. Über sie verfügen wir nicht: eben darum die scharfe Richtung der Gollwitzerschen Stellungnahmen gegen alle kirchlichen und politischen Erscheinungen, die so oder so mit Gott als einer plumpen, manipulierbaren Gegebenheit rechnen. Aber sie ist auch nicht bloß eine individuelle, unweltliche Existenzbestimmung, ihr gehört vielmehr die Welt: eben darum die nicht zu ermüdende Teilnahme an den kirchlichen und gesellschaftlichen Tagesentwicklungen, bestätigt in Hunderten der vielen so sinnlos erscheinenden „Unterschriften“, Interviews, Reden, Vorworten, Telegrammen. Aber sie ist auch nicht nichts: eben darum die Ernsthaftigkeit der Aussprache mit allen Formen des heutigen Atheismus und darum die allerdings selbstbewußte, ohne modische christliche Minderwertigkeitskomplexe vorgetragene Verteidigung von Glaube und Kirche.

Die Wirklichkeit des freien und befreienden Gottes weckt Hoffnung, ja macht sie zur Pflicht. Sie lehrt unterscheiden zwischen dem, was als Sünde zu kreuzigen, was als zukunftweisend und hilfreich für Menschen zu für dem ist; überall in der Welt gibt es beides. Man muß nicht grundsätzlicher Pazifist sein, um in der Verwerfung der Atomwaffen radikal argumen­tieren zu können. Vielleicht läßt sich im Kommunismus doch, zunächst wider allen Augenschein, zwischen seinem gesellschaftlich-ökonomischen Programm und seinem, weiß Gott, unnötigen und nutzlosen Atheismen unterscheiden. Schließlich: Verwirklicht sich nicht völlig real, gegenwärtig und wirksam Gottes Verheißung auch an dem evangeliumsverschlossenen Judentum? Ist nicht gerade dies Judentum das geschichtliche Modell dafür, daß „Verheißung“ etwas anderes als leeres Versprechen, Zukunft etwas anderes als immerwährende Zukünftigkeit, Hoffnung sehr verschieden von den Kleinigkeiten unserer menschlichen Erwartungen ist? Bewährt und be­weist nicht das Judentum neben uns das Sein Gottes als Verheißung?

Eben unter dem Begriff der Verheißung vereinigen sich wie seine Theolo­gie und Ethik so auch das Denken und Leben dieses Theologen.

Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 556-564.

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