Von Pfarrer i.R. Dr. Rudolf Landau
Eine für Kinder – und erwachsene Gotteskinder – faszinierende Jesus-Geschichte, liebe Gemeinde. Ich bin mit ihr groß geworden, vom Kindergottesdienst an. Diese wundersame Geschichte, die in alten Bibeln die Überschrift hat:
„Die Heilung des Gichtbrüchigen“, was sich ja viel geheimnisvoller und gefährlicher anhört, das Brechen der Knochen hört man mit, sie ist so plastisch erzählt, daß man sie nur nacherzählen muß, um in ihr Leuchten und ihre Botschaft hinein zu kommen.
Mit offenen Mündern verfolgten die Kinder, denen ich im Kindergottesdienst erzählte: wie die vier Männer, Freunde?, gute Nachbarn?, hilfsbereite Mitmenschen?, den Gelähmten auf der Bahre tragen, in Kafarnaum, dem Dorf am Nordende des Sees Genezareth, hin zu dem Haus, darin Jesus „das Wort redete“.
Das Wort: die frohe Botschaft, das Evangelium von dem Gott, der sich nun ganz und gar zu den Menschen hinab beugt, den Armen, den Schwermütigen im Geiste, den Sehnsüchtigen nach Gerechtigkeit, den Sanftmütigen und Friedfertigen, sie hinein zu rufen in sein in Jesus und seiner Verkündigung gegenwärtigen Gottesreich!
Und die Leidtragenden, dass sie getröstet werden.
Und die Kranken, dass sie geheilt werden.
Und diese vier Männer mit ihrem gelähmten Freund nehmen Jesus bei seinem Wort!
Jesus beim Wort nehmen, Gott auf sein Wort und seine Verheißung von Rettung aus Not und Hilfe in Nöten in Bitten und Rufen und Flehen festnageln, das nennt man: Glauben!
Die hier sagen kein Wort. Sie handeln, weil sie vertrauen.
Jesus hat, so würden wir sagen, eine volle, übervolle Kirche, wie bei uns nur noch am Heiligen Abend, sonst nicht mehr, kein Platz mehr, auch die Tür wird belagert von hörwilligen Menschen.
Das flache Dach des Hauses kann man von einer Außentreppe aus ersteigen. Und das Dach kann man durchgraben, es besteht aus Zweigen und Schilf, zwischen die Tragebalken geflochten und mit einer Schicht Lehm abgedichtet. Der Jesus drunten im Raum wird schon etwas eingestaubt sein – aber er wird ja noch viel, viel tiefer um der Menschen willen beschmutzt, besudelt, bespuckt, geschlagen – als man ihn zum Gekreuzigtwerden führt.
Unser Gott ist kein Halbgott in Weiß, er ist ein Gott, der den Glanz und die Herrlichkeit und die wunderbare Unberührbarkeit und Leidenslosigkeit ablegt, um ganz tief in die tiefste Tiefe menschlichen Elends sich hinab zu lassen, herunter zu kommen, ja, dann sogar ins Reich des Todes und der Hölle sich zu begeben, damit niemand sagen kann: zu mir kommt er nicht, mich kennt er nicht …
Da liegt der Gelähmte nun, auf seiner Matratze, natürlich kein Bett, wie wir es kennen, erst recht kein Himmelbett mit dicken, leichten Daunenfedern – die hätten das ja zu Viert nicht mal tragen können und wie erst wäre der dann Geheilte in der Lage gewesen, sein Bett zu tragen.
Nein, wir müssen uns das wie eine dünne, aufrollbare Liege, eben das Bett der Armen damals, vorstellen.
Da liegt er nun, schaut hoch zu dem Jesus, der heruntergelassene und heruntergekommene Lahme blickt wohl zu dem aus Gottes Liebesallmacht zu uns gekommenen Gottessohn Jesus hoch.
Wortlos, hilflos.
In der ganzen Geschichte sagt er kein einziges Wort. Ist nur voller Erwartung, denke ich mir, sehnsüchtig, hilflos auf Jesus allein gespannter Erwartung.
Wir kennen solche Not, wenn wir Augen haben zusehen, in welchen Nöten die Mitmenschen sich manchmal befinden.
Und dann fällt, wie aus dem Himmel, von oben, zu dem hilflos Liegenden, der erste Satz. Aus Jesu Munde. Zum Gelähmten, der geheilt werden, der wieder gehen können möchte.
Zu dem der da liegt, am Boden, der Satz: Kind, vergeben sind deine Sünden!
In dem selben Moment, da Jesus das sagt, sind sie weg, die Sünden.
Was soll das aber? Sündenvergebung war doch nicht gefragt, oder? Und viele von Euch denken doch am Sonntag, wenn im Gottesdienst von Sünde und Sündenvergebung die Rede ist: Gott sei mir Sünder gnädig, baten wir eben noch gemeinsam, denken: na ja, so ein schlimmer Sünder bin ich nicht!
Doch. Sind wir alle. Nicht, was Du über dich denkst, zählt, sondern wie Gott dich sieht.
Und der sieht hier nicht die vier Männer über dem Dachloch gebeugt, sieht nicht den staubbedeckten hilflosen Gelähmten, sieht nicht die nun wohl gaffende und wundersüchtige und über die unverschämte Störung vielleicht empörte Menschenmenge, sondern:
Als Jesus ihren Glauben sieht. Ihr Vertrauen, ihr kindliches Verlangen: mach ihn gesund! Wir leiden mit ihm in seinem Elend, halten seine Leibesnot nicht mehr aus.
Mehr nicht.
Aber seltsam, seltsam: Dir sind deine Sünden vergeben.
Und immerhin: Kind! Und Sünde. Und: vergeben, wie weggewischt, ausgelöscht.
Das heißt aber ganz einfach: deine innere Gotteslähmung ist auch vorüber. Dein lahmer Halbglauben ist weggetan.
Deine ichsüchtige und selbstsichere Frömmigkeit und Spendentüchtigkeit, zählt nicht, gilt nicht.
Was einzig gilt in der Begegnung mit dem wahren Gott, wird dir nur geschenkt, gnädig, frei, völlig umsonst: Vergebung, heißt: völlige, ganze Ausrichtung nur auf Gott, den Schöpfer und Erhalter deines Lebens. Ja, auf wen denn sonst?
Nichts trennt dich mehr vom heiligen, lebendigen, wahren Gott, wenn du das hörst. Keine wirkliche Sünde und keine eingebildete fröhliche selbstgerechte Sündenunbewusstheits-Empörung.
Gott spricht gnädig richtend dein Leben frei. Du lebst als sein Geschöpf.
Denn du hast es hier mit Gott zu tun. Jesus ist der Gott für dich. Ist der vollmächtige Gottessohn, in ihm ist Gottes Allmacht menschlich und barmherzig unbezwinglich da.
Aber: Sünden vergeben: da haben die murrenden, sich empörte Gedanken machenden Schriftgelehrten, die ihre Bibel kannten, ja recht: Nur Gott vergibt Sünden!
Und er tut das in solche schnörkellosen, kurzen Rettungssätzen, ohne wenn und aber und vielleicht und später mal …
Wenn es um das Leben und das ewige Leben geht, spricht Jesus immer so kurze, klare, befehlsmäßige Sätze, nennt zuerst den Namen: Lazarus, Simon, Mädchen, Jüngling, und sagt dann: komm heraus!, steh auf!, folge mir nach!
Und jetzt tritt er nicht in eine lange Disputation ein mit den klugen, sich auf Tradition und die heiligen Schriften und ihren Buchstaben und ihren im Buchstabengefängnis gefangenen Gott berufenden Theologen, sondern Jesus deckt ihre innere Rechthaber-Staubhöhle auf, zerreißt ihr Buchstabenspinnennetz, in dem sie ihn verstricken und fangen und dann binden und verurteilen wollen, überführt sie in ihrem Urteil: Blasphemie! Gotteslästerung! selber der Unkenntnis und Lästerung des lebendigen Gottes.
Wie das Dach aufgedeckt wird, damit der Lahme zu Jesus kommen kann, so wird hier das Herz, das denkende, rechthaberisch fromme Innere der Theologen aufgedeckt, damit sie ihren eingekerkerten Gott losgeben und sich bekehren zu dem wahren, lebendigen, heilenden, sich rigoros und völlig frei zu den Menschen begebenden Gott, der hier vor ihnen steht in der Gestalt wahren Menschen und wahren Gott Jesus.
Auch und gerade Theologen, die orthodoxen lutherischen wie die hypertoleranten der Landeskirche müssen sich ein Loch ins Kopfdach graben lassen, damit neue Gedanken, die vom überraschend den alle Menschen suchenden und findenden und heilenden Gott, in Herz und Kopf hinein kommen.
Was leichter sei: Sündenvergebung oder Heilung – da haben wir doch die Antwort parat: Natürlich Heilung! Mach das mal!
Sünden bekommen wir jeden Sonntag fast automatisch vergeben, gleich am Anfang des Gottesdienstes, das sind wir gewöhnt, das sprechen wir auswendig und ohne Besinnung.
Herr, erbarme dich, Kyrie eleison, singen wir und hören dann fast automatisch: den Gnadenspruch …
Und singen dann: Ehre sei Gott in der Höhe – und alles ist perfekt. Wirklich? So einfach?
Und deshalb:
Aber einen Lahmen gehend, einen Blinden sehend, einen Taubstummen hörend und redend, einen Krebskranken heil machen!
Da fehlt uns doch der Glaube! Und der fehlt eben: wegen unserer Sünde, unserer Gottesverzagtheit, unsres Misstrauens gegen Wundertaten des allmächtigen Gottes, von dem wir doch bekennen: Unsere Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat!
Ist das nicht armselig – von uns, den Jesusleuten, gedacht und gelebt?
Aber, liebe Gemeinde, das ist keine Alternative, die Jesus hier formuliert, kein Entweder – Oder, sondern ein: Beides gehört zusammen. Wo Gott gegenwärtig ist, wo er redet, das Wort, das Evangelium, da ist der ganze Mensch gemeint.
Die Medizin des späten 19. und frühen 20 Jahrhunderts hat‘s entdeckt – oder auf den Begriff gebracht, was weise Mediziner und Gottesmenschen immer schon ahnten, ja wußten: und nennt das „Psychosomatik“. Leib und Seele und Geist sind nicht zu trennen.
Und Jesus ist der Gott, der den Menschen nicht aufgespalten lassen will, wie wir das gerne haben: hier der fromme Teil, der religiös gestimmte, die Seelenmassage – dort der Leib, das irdische Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen. Der ganze Mensch gehört Gott und er gehört in Gottes Reich, mit Lieb, Seele und Geist. Gott beschlagnahmt dich ganz; halbe Menschen sind immer: eben: Sünder!
Und so geschieht dem Lahmen das, was er wollte, und das, was er nicht erwartet hatte. Er geht als ganzer, an Leib, Seele und Geist neu gemachter nach Hause! Da steht er einfach auf. Geht einfach heim.
Da ist wieder der kurze, knappe, herrscherlich vollmächtige Gottesbefehl an den Menschen! Steh auf, nimm deine Bettrolle und geh!
Und der steht auf, sogleich. Fraglos und geheilt. Nimmt sein Bett und geht vor allen, die da waren, hinaus, wortlos, geht einfach.
Das nun muß man nicht kommentieren, nicht wahr, liebe Gemeinde.
Unser, auch der wissenschaftliche und auch der vernünftig-frömmelnde Kommentar, immer mit ein bißchen mehr oder weniger Zweifelsgift durchsetzt, ist überflüssig:
Den wahren, gültigen, Gottes Kraft lobenden Kommentar sprechen auch nicht die Schriftgelehrten Theologen und vernunftabgebrühten Kirchenoberen, die sind verstummt, überführt ihrer gedanklichen Gottes-Zweifel.
Den Kommentar sprechen, juchzen, formulieren die Anwesenden.
Außer sich sind sie vor lauter Verwunderung und Staunen und ehren, loben, preisen Gott: So etwas haben wir noch nie gesehen!
Nur müßt ihr wissen: Solches religiöse Außersichsein ist noch keine Hinwendung zum wahren Gottessohn Jesus!
Solche Sensation ist nur das, was wir ständig machen und provozieren und auf vielfältige Weise werbungstüchtig veranstalten wollen in unseren Kirchen: die Leute zum Staunen und zum Bleiben in der Kirche bringen wollen durch immer tollere Aktionen, die doch alle nur mit dem rieselnden Staub nichtiger Events bemehlt sind!
Toll, was da geschieht, haben wir noch nie gesehen, Halleluja, Wunder! Großartig! Lohnt sich, zu dieser flotten alten Kirche zu gehören.
Aber das ändert sich, ändert sich oft sehr schnell, fromme Räusche verschwinden wie Rauch im Wind, wenn die dunklen Wolken über deinen Alltag ziehen, die weggejubelten Fragen wieder aufstehen in dir. In uns allen schlummert der tiefe Gottes- und Jesuszweifel.
Deshalb aber, unbedingt, brauchen wir die Freunde, am besten vier, die uns, wenn der Glaube wieder mal wie gelähmt, die fromme Stimmung hinein schwingt in tiefe Verzagtheit.
Wenn wir wie glaubens- und gottesgelähmt sind, brauchen wir die Freunde, die Gemeinde, uns einander, hier und den Alltag hindurch: die uns zum das Wort verkündigenden und Leib und Seele heilenden Jesus bringen. Und sagen: „Steh auf! Komm!“
Ihr müßt nämlich noch wissen, dass solche Geschichten, die Jesus macht, die uns zu staunenden, lobpreisenden, Mund und Augen öffnenden Gotteskindern machen, immer einen doppelten Boden haben, durchblicken lassen ins Reich Gottes. Denn hier geschieht ja an einem Einzigen nur das, was an allen geschehen soll: steht auf! Lebt. Lebt vor Gott in seiner Vergebung und in seinem Heil!
Das griechische Wort, das hier in dieser Befehlsform ergeht, ist das Wort der Auferstehung Jesu! Und er stand auf! Auferstanden!
In jeder Wundergeschichte geschieht schon vorläufig Ostern, Auferstehung zum Leben!
Die Vollmacht, die hier aufblitzt im heilhandelnden Wort Jesu, muß hinein in die völlige Ohnmacht, da die Schriftgelehrten und Religionswächter recht zu bekommen scheinen, als man ihn hinter den schweren Grabes-Stein verfrachtet hatte: Tot ist das Gottes-Leben!
Und dann brach es hervor, Lebensvollmacht in der Auferweckungs-Kraft des Vaters im Himmel. Und Jesus bricht heraus, bricht dem Tod das Genick und dem Leben die Bahn.
Sieh nun noch, liebe Gemeinde, das ist entscheidend am letzten Ende. Am Lebensende – da wird auch dieser geheilte Gelähmte noch einmal von vier Männern hinab gelassen werden auf der Totenbahre, im Sarg, in den Staub der Erde: Asche zu Asche, Staub zu Staub. Die auf uns wartende tiefstmögliche Herunterlassung eines Menschen.
Und dann kommt ja alles darauf an, aber auch wirklich alles, daß da einer hören darf das, was ihn aus dem Tod ins Leben holt, und das hört er nur, jeder Mensch, nur aus dem Munde des auferstandenen Gekreuzigten Gottessohnes Jesus, deinen Namen und den Satz: „Steh auf!“
Und dann, wie sich das hier umkehrt, die beiden Jesussätze:
In der Geschichte zuerst: „Kind, dir sind deine Sünden vergeben“ und dann: „Steh auf!“
Am letzten Ende aber: Zuerst Auferweckung: „Mein Kind, steh auf.“
Und dann der andere, der dich aus dem Gottesgericht rettet, endgültig, der allein: den du auch aus dem Mund des für deine Sünde gerichteten Richters Jesus Christus hören darfst, ja musst, anders bleibst du Staub im Staub: „Dir sind deine Sünden vergeben!“
Lebe im Licht neuen, sünd-, leid- und todlosen Lebens. Ewig.
Neu geschaffen vor dem ewigen, lebendigen, Gott, der barmherzig ist und gnädig und voller überfließender Liebe …
Amen.
Gehalten am 17. Sonntag nach Trinitatis, 13. Oktober 2019, in der Evangelischen Stadtkirche zu Baden-Baden.
Abgedruckt in: Rudolf Landau, … ich wollte gerne sehen deine Macht und Herrlichkeit. Predigten, Predigt heute 38, Kamen: Hartmut Spenner, 2021, S. 16ff.