Über Johann Christoph Blumhardt (1805-1880)
Von Karl Barth
Die Behandlung dieses Mannes in einer Geschichte der Theologie scheint vom Begriff der Theologie, wie von Blumhardt selbst aus gesehen, ein fragwürdiges Unternehmen. Blumhardt hat im Unterschied zu Menken, Vilmar und Kohlbrügge nicht einmal die Absicht gehabt, sich auch an der theoretischen Arbeit der Kirche zu beteiligen. Er ist auch als Mann der Praxis mehr Seelsorger als Prediger gewesen. Und er hat auch als Seelsorger auffallend geringes Gewicht auf theologische Korrektheit gelegt. Was soll er da unter der Schar der Geharnischten, von denen wir hier sprechen? Und man kann umgekehrt mit Ragaz dagegen protestieren, den gar nicht zu studierenden, sondern nur zu erlebenden schlicht gewaltigen Gottesmann Blumhardt unter die Männer der Synagoge zu setzen und als Theologen zu behandeln. Aber gegen dieses zweite Bedenken ist auch sofort zu erinnern, daß Friedrich Zündel Blumhardts Biograph, der ihm zu seinen Lebzeiten nahegestanden wie vielleicht kein zweiter, sich durch keine Pietät ihm gegenüber abgehalten fühlte, das von ihm Empfangene sofort (ich denke an Zündels bekannte Bücher über Jesus und über die Apostelzeit) in Form gründlichster theologischer Besinnung Gestalt annehmen zu lassen, in seiner Biographie verbotenus von einer «Theologie» Blumhardts zu reden (S. 284) und sie in einem besonderen Kapitel ausführlich darzustellen. Was bei Blumhardt zu empfangen war, das war, in wie primitiver Form er selbst es bieten mochte, jedenfalls auch Erkenntnis und in der Sache originell und wichtig genug, um uns Anlaß zu geben, den Platz, der im Bild der damaligen theologischen Erkenntnis nun einmal durch seinen Namen bezeichnet ist, nicht leer zu lassen. Und es wäre auch auf den vom Begriff der Theologie aus zu erhebenden Einwand zu erwidern, daß die akademisch betriebene Theologie nun einmal sachlich und historisch von ihrem Gegenstand her eine Grenze hat, wo sie, wenn sie nicht unsachlich werden will, unakademisch werden muß. Unakademisch nicht nur im Sinn von uninteressiert an der Auseinandersetzung von Theologie und Philosophie, sondern auch im Sinn von uninteressiert an der Ausbildung und Fixierung der theologischen Theorie als solcher. Geht es doch in der Theologie um den Gegenstand, der auf Grund seiner Selbstoffenbarung, sonst aber nicht theoretisierbar ist. Diese Grenze seiner Theoretisierbarkeit muß in der Theologie selbst sichtbar werden darin, daß sie sich auf ihre akademische Haltung nicht versteift, daß sie nicht um jeden Preis und nicht bis zuletzt schulgerecht sein will, sondern auch die freie, gelockerte Art der Erkenntnis und Rede eines Blumhardt neben sich dulden, ja in den Rahmen ihrer eigenen Arbeit einbeziehen kann. Allzu oft ist ja gerade an diesen Grenzen der Theologie als Wissenschaft Entscheidendes erkannt und gesagt worden. Es kann also der unakademische Habitus, der Blumhardt noch mehr als jenen anderen hier gleichfalls zu Ehren Gezogenen eigen ist, auch vom Begriff der Theologie aus kein grundsätzliches Hindernis bedeuten, hinzuhören, was er als gänzlich Ungepanzerter etwa erkannt und zu sagen gehabt haben möchte.
Das Leben Blumhardts muß teilweise schon als eine Darlegung auch der theologischen Sache, um die es hier geht, aufgefaßt werden. Johann Christoph Blumhardt wurde geboren 1805 zu Stuttgart. Er bezog 1825 das Tübinger Stift, wo drei so verschiedene Geister wie Wilh. Hofmann (der spätere Basler Missionsinspektor, Tübinger Professor und Berliner Oberhofprediger), der Dichter Eduard Mörike und David Fr. Strauß seine Freunde waren, wo er aber auch dem Kreis erweckter Studenten um Ludwig Hofacker angehörte. Nach einem kurzen Vikariat in Dürrmenz wird er 1830 als Lehrer an das Basler Missionshaus berufen, 1837 Vikar in Iptingen, 1838 (als Nachfolger des in allerlei Reichsgotteswerken unheimlich betriebsamen Chr. Gottlob Barth) Pfarrer in Möttlingen bei Calw. Nach mehreren Jahren einer verhältnismäßig unbefriedigenden Tätigkeit in dieser Gemeinde kommt es in den Jahren 1842-43 zu den Ereignissen, die später unter dem Namen «Der Kampf» in seinem Leben und in seiner Lehre eine entscheidende Rolle gespielt haben. Es handelte sich um den seelsorgerlichen Kampf Blumhardts gegen die psychisch-physischen Krankheitszustände eines Mädchens seiner Gemeinde, Gottliebin Dittus, von Blumhardt aufgenommen und durchgeführt unter der Voraussetzung, daß es sich um eine dämonische Besessenheit nach Analogie der bekannten neutestamentlichen Erzählungen handle und unter dem Gesichtspunkt, daß gegenüber der Größe, Furchtbarkeit und Realität dieser Not nicht er, Blumhardt, als Seelsorger, sondern nur Jesus selber und direkt Erlöser sein könne. Und Jesus, wenn anders sein Wort und der Glaube an ihn wahr sei, Erlöser sein müsse! Das Ende des Kampfes ist die vollständige Erledigung jener Zustände: Jesus ist Sieger. Dieser Durchbruch bedeutete für Blumhardt mitten im Pietismus eine ganz unpietistische Entdeckung und Erkenntnis. Nicht Jesus und das unbekehrte Herz des Menschen, sondern Jesus und die reale Macht der Finsternis, in der sich der Mensch befindet, das war der Gegensatz, um den es ihm in diesem Kampfe ging und in dem er Jesus in diesem Kampfe siegreich sah. Diesen Vorgängen folgt 1844 — ein zweiter Wendepunkt für Blumhardt — eine allgemeine Erweckungsbewegung in der Gemeinde Möttlingen und weit darüber hinaus. Die Heilung der Gottliebin Dittus, welcher zahlreiche weitere auffallende Ereignisse dieser Art folgten, hatte für Pfarrer und Gemeinde die Bedeutung eines Zeichens im Sinn des synoptischen Wortgebrauchs gewonnen, durch welches geweckt, wieder gesehen wurde: die Realität und Konkretheit der sündenvergebenden Macht des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes. Unaufgefordert, aber unaufhaltsam kommen die Menschen zu ihm, zu bekennen, was sie zu bekennen haben, und er seinerseits sieht sich ungesucht, ungewollt, durch keine vorgängig gewonnene Theorie bestimmt, in die Notwendigkeit versetzt, mit einer wiederum ganz unpietistischen Objektivtät (Zündel S. 174) freizusprechen im Namen Gottes. In jener Zeit war es, wo jene dichterisch schwache, aber erfahrungsgeladene Strophe entstand, die dann die ganze Blumhardtbewegung begleitet hat: «Jesus ist der Siegesheld Der all seine Feind besieget; Jesus ist’s, dem alle Welt Bald zu seinen Füßen lieget. Jesus ist’s, der kommt mit Pracht Und zum Licht führt aus der Nacht.» Möttlingen wird nun jeden Sonntag ein aus der Ferne und Nähe massenweise aufgesuchter Wallfahrtsort, «eine in erster Liebe strahlende Gemeinde». Aber schon hat sich ihrem Führer eine weitere neue Einsicht aufgedrängt. Wiederum gut neutestamentlich — aber nun kommt die Wendung von den Synoptikern zu Paulus möchte man sagen — kann er alle diese Erlebnisse doch nur als ein Angeld, als ein Unterpfand des Geistes, als ein Frühlingswehen vor einer umfassenden Gnadenoffenbarung auffassen. «Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch!» Diese Verheißung findet Blumhardt in seiner Möttlinger Bewegung so wenig erfüllt, wie in der Erweckungsbewegung überhaupt. Er durchschaut das menschlich Bedingte alles bisher Erreichten, alles unter den jetzigen Voraussetzungen Erreichbaren. Seine Gedanken und Gebete gehen über das Gegenwärtige hinaus. Wenn Jesus wiederkommt — und es kann nicht anders sein, als daß er nahe ist — dann muß ihm eine neue Gnadenzeit, eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes vorangehen. Die Lokomotive hat sich losgerissen vom Wagenzug der Kirche. Nun steht er auf der Strecke. Sie muß zurückkehren und neu angespannt werden; dann geht’s wieder vorwärts. Der abgerissene Faden der ersten christlichen Zeit muß wieder aufgenommen werden, aus der Höhe, aber nicht ohne Bereitschaft und Offenheit von unten.
So biegt Blumhardt an einer zweiten Stelle und nun entscheidend vom Weg des Pietismus ab. Er wird der Theologe der Hoffnung. Die Möttlinger Bewegung flaute, wie es der Erweckungsbewegung überall gegangen ist, wieder ab, sie wurde zu einer großen heiligen Erinnerung, zu einem Denkmal der Taten Gottes, von dem aus der Weg nun doch weiterführen mußte. Ihn, Blumhardt, konnte diese Entwicklung nicht überraschen. Ihn konnte sie nicht tödlich treffen, wie sie so manche Männer der Erweckungsbewegung in ihrem Alter getroffen und in tiefe Resignation versetzt hat. Blumhardt suchte und fand einen anderen Wirkungskreis. 1852 erwarb er das Bad Boll bei Göppingen, das er nun, immer unter dem doppelten Gesichtspunkt: gegenwärtige Hilfe und Gnade Gottes im Einzelnen als Verheißung einer bevorstehenden Erscheinung seiner Herrlichkeit im Großen und Ganzen zu einer Freistätte für Angefochtene aller Art und zugleich zu einer Ausfallspforte für seine ausgedehnten Vortragsreisen gestaltete. Eine neue prinzipielle Wendung seiner Einsicht hat hier nicht mehr stattgefunden. Von seinem Sohne Christoph, der Bad Boll nach des Vaters Tode weiterführte, müßte freilich in einem späteren Zusammenhang ausführlich ebenfalls geredet werden. Die «Geschichte des Hauses» wie sie Zündel in seinem Buch erzählt, ist theologisch die durch allerlei Krisen sich bewegende Geschichte jener doppelten Einsicht von der gewiß und real gegebenen ἀπαρχή im Schatten der größeren, noch nicht erschienenen Fülle der Gnadenoffenbarung der Endzeit, die selber wieder nur der Vorbote des erscheinenden Reiches Gottes selber ist. Nur das ist zu sagen, daß Blumhardt den Anbruch dieser Gnadenzeit ganz konkret persönlich zu erleben hoffte, mit der Möglichkeit seines Sterbens tatsächlich nicht eigentlich rechnete und so seinem 1880 eingetretenen Tode — wiederum ganz unpietistisch — als einer fremden, abnormalen verwunderlichen Angelegenheit entgegenging. Blumhardt hat 1873-77 und wieder 1879-81 «Blätter aus Bad Boll» herausgegeben. Seine Äußerungen sind von seinem Sohne in einer Reihe von Bänden geordnet und gesammelt publiziert worden. Ich versuche es, seine Gedanken in folgenden Punkten zusammenzufassen:
1. Blumhardt schreibt einmal: «Nicht systematisch grübelnd, hinter dem Pult nachdenksam sitzend, bin ich auf meine Hoffnungsgedanken gekommen. Deswegen bin ich von manchen Fragen, die an mich gemacht werden, überrascht, daß ich nicht gleich weiß, wie antworten, und meine, die lieben Freunde dürften, durch meine Gedanken angeregt, selber nachdenken, wie es etwa sein könne, ohne mich zu einem Lehrmeister in allem machen zu wollen, der ich ja gewiß nicht sein will» (Glaubensfragen S. 52). Man kann diese Bemerkung als ein Bekenntnis der persönlich und historisch bedingten Ohnmacht Blumhardts zu einem systematisch theologischen Denken auffassen, die gegen den Inhalt seiner Gedanken ja keinen Einwand bedeuten muß. Man kann aber jedenfalls den damit gegebenen Wink nicht genug beachten, wenn man nach seiner Theologie fragt. Bleibt man bei dem Wortlaut der Äußerungen Blumhardts stehen, faßt man sie als Bestandteile eines durchgedachten abgeschlossenen Systems auf und behaftet man ihn bei ihren unmittelbaren oder mittelbaren Konsequenzen, statt durch sie angeregt selber nachzudenken, so verwickelt man sich und ihn in alle möglichen Absurditäten. So wie sie dastehen, wimmeln sie nämlich von aufs naivste vorgebrachten alten und neuen Unmöglichkeiten. Man versteht sie nur, wenn man ihren Wahrheitsgehalt noch viel mehr als dies bei allen theologischen Aussagen notwendig ist, in ihrer Ausrichtung auf den Gegenstand hin, an dem sie in Stücke zerbrechen, begreift. Sie ergeben weder einzeln noch in ein System gebracht einen Sinn, wenn dieser nicht gerade in jener ihrer Ausrichtung gefunden wird.
2. Man tut am besten, wenn man sofort von dem ärgerlichsten der Blumhardtschen Gedanken ausgeht, der von den ihm Nahestehenden oft genug entweder verschwiegen oder doch als Pudendum behandelt worden ist. Wir hörten schon: Blumhardt hat das Anbrechen einer der Wiederkunft Christi vorangehenden geschichtlichen Gnadenzeit für unmittelbar bevorstehend gehalten, so bestimmt, daß er im Alter in steigendem Maße, bei jedem Jahresanfang darauf hinwies: Dieses Jahr könnte …!, so sehr, daß nach glaubwürdiger Überlieferung in Boll jahraus jahrein eine Kutsche mit allem Zubehör bereitgehalten worden sein soll, um gegebenenfalls sofort die Reise ins heilige Land, dem wiederkommenden Christus entgegen, anzutreten, so sehr, daß Blumhardt, wie gesagt, nicht damit rechnete, zu sterben, sondern damit, als ein zweiter Simeon und mehr als Simeon den Herrn mit leiblichen Augen ewig sehen zu dürfen. Es ist gewiß erstaunlich, einen Menschen, der immerhin mit David Fr. Strauß dieselbe schwäbisch gründliche Ausbildung genossen hatte, einen solchen Gedanken fassen und vertreten zu sehen. Aber Blumhardt stellte seinen Zeitgenossen nun einmal die Gegenfrage, ob denn das wirkliche Leben der Menschen und ob denn das Evangelium von Christus so beschaffen seien, daß man auf diesen Gedanken verzichten könne. Von dieser seiner Gegenfrage aus wird man Blumhardt zunächst verstehen müssen. Er sah die Spannung, den schreienden Widerspruch zwischen Beiden, die Größe der menschlichen Not und die Größe der göttlichen Verheißung, so intensiv, er dachte von beiden so real, daß er die nicht bloß gedachte, sondern wirkliche Aufhebung dieses Gegensatzes nur erwarten konnte, wie man von einem Tag auf den anderen wartet. Über sein Sehen dieses Gegensatzes ist also zunächst zu reden.
3. Ihm ging es schon vor den Möttlinger Ereignissen im Unterschied zu seinem pietistischen Freund und Amtsvorgänger Chr. G. Barth darum, auch und gerade als Pfarrer das wirkliche Leben der Menschen im Auge zu behalten, das Heilige nicht wiederum in einen heiligen Raum, sondern in diese alltägliche Wirklichkeit hineinzustellen. Er war persönlich das Gegenteil eines Melancholikers und Pessimisten, wohl aber in ausgezeichneter Weise ein Mittragender an fremder Last, mit allen Poren offen für das Seufzen der ihn umgebenden Kreatur. Und so sah er im wirklichen Menschenleben, wie es ihm in jedem einzelnen Fall seiner Seelsorge entgegentrat, einen Tropfen von einer besonderen Woge des Meeres von Leid, das, im Zusammenhang mit der menschlichen Sünde, aber darum nicht weniger furchtbar real, und gerade darum widergöttlich, dieses Leben der Menschen charakterisiert und bestimmt (Zündel 244). «Soll es denn so, wie wir es wissen und sehen, in Ewigkeit fortgehen? Soll denn nicht einmal die ganze Wirtschaft, wie es die Menschen untereinander haben, aufhören müssen?» (Zündel 303). Nicht das subjektive, sondern das objektive Problem des Leides, das universal verstandene Hiobproblem ist gemeint. Ist in der ganzen Verfassung, in der wir uns befinden, nicht zu viel objektiv Ungehöriges, nicht zu viel radikale Unzweckmäßigkeit, zu viel satanische Finsternis, als daß man das Theodizee-Problem mit der üblichen Rede vom Segen, vom göttlichen Gewollt- und Gefügtsein des Leides beantworten darf? (Z. 244). Blumhardts Haltung nach dieser Seite ist ganz primitiv und eindeutig: Auflehnung, Protest, ein zorniges Nein ist die christliche Antwort dem objektiven Phänomen des Leides gegenüber. Dies beruht nun bei Blumhardt auf einer von der üblichen, auch von der üblich christlichen verschiedenen Sicht und Erkenntnis der Wirklichkeit, von der man sich zunächst nur wird fragen können, ob man sich ihr seinerseits wirklich entziehen kann. Blumhardt kann an dem unter die Mörder Gefallenen nun einmal nicht vorübergehen. Er kann sich aber vor dem Problem, vor das er sich da gestellt sieht, auch durch Helfen nicht helfen. Blumhardt hat zu helfen versucht und hat geholfen, aber darüber hinaus brennt ihn das Rätsel des Leidens, beschäftigt es sein Denken, drängt es ihn theologisch auf das Bestimmteste ab von den gewohnten Lösungen und Antworten.
4. Aber nun doch nicht die menschliche Not, sondern die göttliche Verheißung ist der Ausgangspunkt seiner Gedanken. Viel realer als die Realität der Finsternis, in der er die Menschheit leiden sieht, ist ihm ja die andere Realität: daß Jesus gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Nicht primär vom Standpunkt des leidenden Menschen aus, sondern von hier aus erfolgt jene Auflehnung, jener Protest, jenes zornige Nein. Gerade weil das Leid des Menschen aus der Sünde stammt, ist es etwas von Gott aus gesehen Ungehöriges, Nicht-Seinsollendes. Der Name Jesus aber bedeutet die Notwendigkeit, die Macht, die Reaktion Gottes gegen diese Ungehörigkeit. Eben darum können auch wir ihr nicht gleichgültig, nicht passiv gegenüberstehen. Nicht als ob wir sie wenden könnten, wohl aber so, daß wir von Jesus, wenn anders er ist, was er ist, und unser Glaube an ihn ist wie er sein soll, erwarten und erbitten sollen, daß er sie wende. Mit der Erscheinung Jesu ist nicht nur eine Gesinnungsfrage, sondern eine Machtfrage aufgeworfen, zu der wir Stellung nehmen müssen. In diesem Sinn hat Blumhardt auf dem Höhepunkt des Kampfes der Gottliebin Dittus zugerufen: «Lege die Hände zusammen und bete: Herr Jesu hilf mir! Wir haben lange genug gesehen, was der Teufel tut, nun wollen wir auch sehen, was der Herr Jesus vermag!» (Z. 114, 133, 141). Es ist also zunächst gar nicht der wiederkommende, der eschatologische Jesus, von dem Blumhardt ausgeht, sondern gerade der gegenwärtige, lebendige, von dem der Pietismus so viel und doch nach Blumhardts Einsicht zu wenig zu sagen wußte. Ihm fehlte am pietistischen Jesus gerade jener Unwille des wirklichen Jesus am Grabe des Lazarus (Z. 284), der Helferwille und Herrscherwille des wirklichen Jesus, wie er ihn sah. Wieder geht es auch hier um die Frage: ob man sich der Blumhardtschen Sicht und Erkenntnis etwa faktisch entziehen kann? Ist der Gedanke theologisch erträglich, daß vor 2000 Jahren durch Zeichen und Wunder die Herrlichkeit Gottes über die Finsternis verkündigt wurde, heute aber die duldsame Ergebung in die Macht der Finsternis das letzte Wort sein soll? Für Blumhardt war er unerträglich. Jesus Christus gestern und heute derselbe. Darum nimmt er im Namen Jesu den Kampf auf mit der Not.
5. Man macht sich ein falsches Bild von Blumhardt, wenn man ihn für einen quietistischen Eschatologen hält, der mit gefalteten Händen auf das kommende Wunderreich «gewartet» habe. Im Gegenteil: er hat sich über die Beteiligung des Menschen an diesem Himmel und Erde bewegenden Kampf oft genug in einer Weise ausgesprochen, über die man von Kohlbrügge und in anderer Weise von Feuerbach aus in ernstliche Bedenken geraten möchte. «In letzter Linie ragt so viel Erlösung ins Menschenleben hinein oder nicht hinein, als seitens der Menschheit Glaube und glaubendes Wünschen da ist oder nicht» (Z. 115). «Damals hat der Heiland vor der Tür gestanden und angeklopft und ich habe ihm aufgetan» konnte er im Rückblick auf seinen Kampf sagen (Z. 116). «Es ist viel leichter sich in eine Ergebung in Gottes Willen hineinzuleben, als die Riegel wegzuschieben, welche Gottes Hilfe aufhalten» (Z. 218). «Was Gott verspricht, dessen Erfüllung ist immer von des Menschen freiem Willen mehr oder weniger abhängig gemacht, ob sie das Versprochene wirklich begehren oder nicht» (Z. 265). Solche Sätze mögen zeigen, daß es der den Menschen in Anspruch nehmende Gott war, von dem Blumhardt jene große neue Hilfe erwarten zu dürfen meinte, aber, und das ist gegenüber der pelagianisierenden Bedenklichkeit dieser Sätze zu sagen: der den Menschen für sich, für den Glauben, für das Schreien und Rufen nach ihm in Anspruch nehmende Gott. Wir befinden uns faktisch an einem Ort jenseits des Gegensatzes von Quietismus und Aktivismus. Von da aus wurde Blumhardt zum Seelsorger.
6. Der Begriff Seelsorge ist freilich zu eng für das, was Blumhardt in Möttlingen und Boll wollte und wirklich getan hat. Es ging ihm zum vornherein und prinzipiell um den ganzen Menschen, um die Heilung des Leibes und der Seele. Und so ist Sündenvergebung und Krankheitsheilung in seiner Tätigkeit immer nebeneinander hergegangen, immer so, daß das Verhältnis des Menschen, des ganzen Menschen zu Gott zur entscheidenden Frage gemacht wurde. Also anders als im modernen Scientismus, indem es sich eben notorisch nicht um die Herrlichkeit Gottes, sondern um das Gesundwerden der Menschen handelt. Aber auch anders als in der üblichen Haltung der Kirche und des Pietismus, die die Gottesfrage nur auf die Seele, das Gewissen, die Innerlichkeit des Menschen sich erstrecken lassen wollen. Blumhardt denkt insofern östlich-christlich und nicht westlich, als ihm die Not der φθορά über der Schuld der ἁμαρτία nicht gleichgültig wird, als ihm der Name Jesus hier und dort das lösende Wort bedeutet. Ich brauche nicht zu sagen, wie weit weg wir uns hier von der Bewußtseinstheologie des Jahrhunderts befinden. Nur schon um dieser Stellungnahme willen, wie unakademisch er sie immer vertreten haben mag, würde Blumhardt eine Stelle in der Geschichte der neueren Theologie zukommen.
7. Man kann nicht kräftiger in der gegenwärtigen christlichen Erfahrung drin stehen, als dies Blumhardt wollte, und auch die Anklage, die er gegen die Kirche gelegentlich erhoben hat, lautete nicht etwa dahin, daß sie die Eschatologie, die Hoffnung, vernachlässige, sondern daß sie nicht tue, was im Namen Jesu durchaus heute getan werden könnte. «Die Ernte ist reif, die Schnitter sind da, aber sie tragen Bedenken, die Ernte einzuheimsen» (Z. 176). Aber über die Gegenwart, auch über seine eigenen gegenwärtigen Erfahrungen hinaus greift mit dem Ende der 40er Jahre immer kräftiger ein weiterer, höherer Ausblick. Ein Begriffsgegensatz wird dabei vor allem wichtig: das Einzelne bzw. der «Einzelne», der einzelne Christ und das «Ganze», nämlich das das Ganze der Kreatur umfassende Reich Gottes. Daran leidet alles, was uns jetzt als Gnade, Hilfe, Befreiung, Erlösung geschenkt sein mag: es geht immer nur einige Wenige an. Ihn beunruhigt die Frage, über die der normale Pfarrer sich beruhigen zu können und zu sollen meint, ihn beunruhigt dauernd und prinzipiell: was wird aus Allen, aus der Menschheit, aus der Welt? Was ist das Wenige, was durch Kirche, Erweckung, Mission usf. jetzt mitgeteilt werden kann im Verhältnis zu dem unendlich Vielen, dessen Not gen Himmel schreit. Nicht für sich allein, sondern für die Menschheit soll der Christ zu bitten wagen: rette mich von meinem Widersacher! (Z. 242). Blumhardt, so schreibt Zündel «war und blieb arm und zu Gott schreiend fürs Ganze. Leute, die sich etwa mit einem: Gottlob, ich bin’s, ich hab’s, oder wir sind’s, wir haben’s! trösten oder gar brüsten konnten, konnte er absolut nicht verstehen» (Z. 247). Es ist nach Blumhardt eine «kleinliche Auffassung», das Christentum als eine Privatsache eines jeden Einzelnen zu behandeln. Auch das Seligwerden der einzelnen hängt doch zusammen mit dem innersten Inhalt der ganzen Menschengeschichte, mit der Vollendung des in Christi Versöhnungstod und Auferweckung begründeten Sieges. «Ach ja, lieber Christ, mach’s immerhin so, daß du einmal selig stirbst! Aber der Herr Jesus will weiter. Er will nicht nur meine und deine Erlösung, er will aller Welt Erlösung, will dem Übel überhaupt, das in der Welt herrscht, den Garaus machen, will die ganze Welt frei machen, die in lauter Gottlosigkeit sich bewegt» (Z. 302). Zuviel vom lieben Ich war Blumhardt gerade in unseren schönsten Kirchenliedern die Rede, die mit dem Sterben zu schließen pflegen, als ob sich das von selbst verstehe (Z. 360). Und denselben Vorwurf hat er auch gegen die Theologie seines Landsmannes J. T. Beck erheben zu müssen gemeint. — In diesem Drang nach Objektivität (darum handelt es sich ihm ja auf der ganzen Linie) nicht nur des Ursprungs, sondern auch des Ziels und der Verwirklichung der Erlösung bildet Blumhardt nun seine «Hoffnungsgedanken» im engeren besonderen Sinn.
8. Er erwartet auf Grund der Schrift vor allem eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes. «Ich spüre es, so ärmlich darf’s nicht fortgehen. Die ersten Gaben und Kräfte oh! die sollten wiederkommen, und ich glaube, der liebe Heiland wartet nur darauf, daß wir darum bitten» (Z 155). So schreibt er mitten in der Zeit der ersten Liebe in Möttlingen. Er kann nicht begreifen, wie man sagen kann: der Heilige Geist ist da, ohne daß man doch zu sagen weiß, wo. Wo ist der Geist der Wahrheit, der in alle Wahrheit leitet? Wo ist der andere Tröster, das Persönliche aus Gott, das Christtum vertreten soll und bei denen bleiben, die ihn haben? Wo ist der Geist der Sanftmut und der Demut? Wo ist er? Wer hat ihn? Oder sind die genannten Worte des Herrn nur Phrasen und Redensarten, die in Wirklichkeit anders zu nehmen sind als sie lauten?» (Z. 253). Nein, wer sagen kann: der Heilige Geist ist da, die Kirche hat ihn und dergleichen, der redet aus einem System heraus, aus einmal aufgefaßten Grundgedanken, die keinen Halt in der Schrift und ebensowenig in der Erfahrung haben. «Wir werden es mit dem Heiligen Geist uns ganz anders vorzustellen haben, als daß er etwas einmal Gegebenes sei, das ewig fortwirke» (Gl. Fr. 50). Von wiederholten Geistesausgießungen redet ja die Schrift ausdrücklich, nicht von einem ein für allemal gegebenen Vorrat (Gl. Fr. 53). Eine solche Geistesausgießung meinte Blumhardt in der Reformation zu erkennen. Jetzt aber stehen wir in einer geistesleeren Zeit und können nur, müssen den Herrn bitten, er möchte das Angefangene aufnehmen und fortsetzen, bis es überallhin gegeben ist (Gl. F. 52). «Soll das durch die Reformation Angebahnte, später wieder ins Stocken Geratene wieder in Fluß kommen — und das muß es ja, wenn anders die Zukunft des Herrn nicht soll gar zu einem Nichts werden — so kann es nicht anders geschehen, als daß der Strom von oben aufs neue sich ergießt und mit dem in der Reformationszeit Gekommenen gleichsam zusammenfließt und so auch dieses wieder in Fluß bringt. Ja, das wünsche ich und werde davon zeugen, solange ich lebe, und mein letzter Atemzug soll die Bitte enthalten: Herr, gib deinen Strom des Geistes und der Gnade, daß die ganze Welt davon erregt wird» (Z. 276).
9. Im Zusammenhang damit erwartet Blumhardt dann den Anbruch jener neuen Gnadenzeit auf dieser Erde. Man kann Blumhardt den Ketzernamen eines Chiliasten — wenn das wirklich nur eine Ketzerei sein sollte — nicht ersparen. «Wer nicht eine große Erlösung, die der Herr noch vor seinem Kommen zum Gerichte schaffen wird, glauben kann, glaubt im Sinne Jesu, möchte ich sagen, eigentlich gar nicht» (Z. 317). Die Gaben des Heiligen Geistes müssen, das ist seine Vorstellung davon, in die Weite und Breite wirksam werden. Die Vergebung der Sünden muß durchdringen zu Allen. Die Weissagungen — die des Deuterojesaia waren Blumhardt besonders wichtig — müssen in Erfüllung gehen. Dann das Ende, dann die Wiederkunft des Herrn zum Gericht, bei der es sich doch nicht um ein Hinrichten, sondern um ein Herrichten handeln wird (Z. 464). Denn: «Glaubt doch nicht, daß der Heiland als der große Kaputmacher kommen will» (Z. 238). Eine gewisse Blasse und Unbetontheit dieses letzten Gedankens: der Wiederkunft des Herrn selbst, im Unterschied zu dem ihm vorangehenden Segen, ist bei Blumhardt nicht zu verkennen. Er hat den letzten Schritt, der hier zu tun gewesen wäre: die klare Unterordnung alles Vorletzten unter dieses Letzte nicht mehr getan, das eschatologische Prinzip der von ihm so gewaltig bejahten christlichen Objektivität vielleicht als solches doch nicht erkannt, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben vielleicht doch mit einem tausendjährigen Reiche verwechselt. So paßte vielleicht auch seine auf den ersten Anblick so barock wirkende Erwartung des Anbrechens dieses Reiches nur allzu gut gerade in das 19. Jahrhundert, nun doch auch ein wenig zu Schleiermacher und Rothe.
Mag das anerkannt sein als der Tribut, den schließlich auch er seiner Zeit nicht schuldig geblieben ist. Es bleibt innerhalb dieser Schranke seine Leistung, mit stammelnder Zunge, aber hörbar für viele, die Ohren hatten zu hören, eine ganze Reihe von Fragen wieder aufgeworfen zu haben, die diese Schranken, und zwar die Schranken der liberalen ebenso wie der pietistischen Theologie durchbrechen mußten: die Theodizee-Frage, die Frage nach der Universalität der Offenbarung und des Glaubens, die Frage nach der praktischen Bedeutung der neutestamentlichen Wunder, die Frage nach der Einheit von Seele und Leib, die Frage nach der realen Macht der Versöhnung, die Frage nach der Art und Gegenwart des Heiligen Geistes, die Frage nach der Realität der christlichen Hoffnung. Die akademische Theologie hat es sich zu leicht gemacht, indem sie diese Fragen überhörte, weil Blumhardt sie nur seelsorgerlich, nicht wissenschaftlich gestellt und beantwortet hat. Der Augenblick mußte kommen und er ist gekommen, der die Einsicht brachte, daß hier Entscheidendes zu lernen war: gerade für die akademische Theologie.
Quelle: Karl Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert: Ihre Geschichte und ihre Vorgeschichte, Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag 1947, S. 589ff.