Kurt Marti, Der Name Gottes: „Dieser Name enthält kein Rollenbild von Gott, ist kein Begriff, in den wir eigene Machtträume hin­einprojizieren können. «JHWH» – das ist einfach ein Eigenname, der Gott alle Freiheit lässt, der zu sein, der er je sein wird – und nicht der, als den wir ihn gerne benützen und manipulie­ren möchten.“

Der Name Gottes

Von Kurt Marti

I

Mose aber sprach zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten führen sollte? Er sprach: Ich werde mit dir sein; und dies sei dir das Zeichen, dass ich es bin, der dich gesandt hat: Wenn du das Volk aus Ägypten führst, werdet ihr an diesem Berge Gott verehren. Da sprach Mose zu Gott: Siehe, wenn ich nun zu den Israeliten komme und ihnen sage: ‹Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt›, und wenn sie mich fragen: ‹Was ist’s um seinen Namen?› – was soll ich ihnen dann antworten? Gott sprach zu Mose: ‹Ich bin, der ich bin (= Ich werde da sein, als der ich da sein werde).› Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der ‹Ich bin (= Ich bin da›) hat mich zu euch gesandt. Und Gott sprach weiter zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sagen: ‹Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandte Das ist mein Name ewiglich, und so will ich angerufen sein von Geschlecht zu Geschlecht.
2. Mose 3,11-15

Wie haben wir uns den Dialog Moses mit Gott vorzustellen? Wie geht es zu, wenn ein Mensch Gott reden hört? Geschieht das in Form von Erleuchtungen, von nicht ableitbaren Gewissheiten, von inneren Stimmen – oder wie? Und wie wird man sicher, dass man nicht einer Selbsttäuschung oder Eingebungen des eigenen Unterbewusstseins erlegen ist, dass also der Dialog nicht nur ein Monolog war?

Sicher ist: Wir sind nicht Ohrenzeugen des Gesprächs zwischen Mose und Gott. Wir haben dieses Gespräch in Form eines [30] Berichtes vor uns, den nicht Mose geschrieben hat, son­dern ein späterer Chronist, dessen Quellen wir nicht kennen. Dieser Chronist stellt den Dialog am Dornbusch in wohlartikulierter Rede und Gegenrede dar, damit er einigermassen verständ­lich wird. In welcher Form sich der Urdialog wirklich abgewickelt hat, wissen wir nicht. Der Bericht über ihn ist eine Adaption an die Verständnismöglichkeiten späterer Leser und zu­gleich schon Deutung dessen, was Mose am Dornbusch widerfahren ist.

Fragt man, ob in diesem Bericht überhaupt Gottes Wort zu uns komme oder ob alles mensch­liche Phantasie und Erfindung sei, so gibt es für die innere Authentizität eines solchen Textes nur ein Kriterium, nämlich, seine einleuchtende Kraft für Generationen späterer Leser. Die Überlieferungsgeschichte gerade der Mose-Texte, vor allem im Judentum, dann auch im Chri­stentum und sogar im Islam, bestätigt, dass diesen Texten eine seltsam faszinierende, bewe­gende und zugleich prägende Kraft innewohnt – bis heute. Das dürfte wohl Indiz dafür sein, dass an ihnen tatsächlich «etwas dran» ist, dass da nicht nur Willkür der Phantasie am Werk gewesen ist.

Mose fragt: «Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten führen soll?»

Mose, der Hirt in der Steppe, der Gastarbeiter unter midianitischen Kamelnomaden, ist ein «Niemand» ohne politische Macht und soziales Prestige. Wie soll er mit dem Pharao verhan­deln können?

«Wer bin ich?»

Dem «Ich» dieser Frage setzt Gottes Antwort das «Ich» der Zusage entgegen: «Ich werde mit dir sein.» Doch was taugt diese Zusage des Vätergottes?

«Da sprach Mose zu Gott: Siehe, wenn ich nun zu den Israeliten komme und ihnen sage: ‹Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt›, und wenn sie mich fragen: ‹Was ist’s um seinen Namen?› – was soll ich ihnen dann antworten?»

Es kann ja jeder kommen und behaupten, Gott habe ihn gesandt. Wir kennen das. Es wimmelt von Leuten, die behaup-[31]ten, Gott sende sie. Sie stehen auf Kanzeln, klopfen an Haustüren, treiben Politik, führen Krieg – immer mit der Behauptung, im Auftrag Gottes zu handeln.

«Was ist’s um seinen Namen?»

Das ist die Frage, ob unser Reden von Gott nur Gerede oder ob es Zeugnis einer wirksamen Realität sei. Das Wort «Gott» ist ein allzu oft missbrauchtes und geschändetes Wort, so dass es viel, bei manchen schon fast allen Kredit eingebüsst hat.

Hier zielt die Frage zunächst auf eventuelle magische Qualitäten eines Gottesnamens. Viel­leicht gibt es neben oder hinter dem Gattungsbegriff «Gott» noch etwas Wirksameres, näm­lich einen Namen, der, mit übernatürlichen Kräften magisch geladen, wunderhaft helfen könnte? Einen Namen, dessen Gebrauch Gott beschwören, herausfordern und dazu zwingen könnte, zu erscheinen und zu retten?

«Was ist’s um seinen Namen?»

«Gott sprach zu Mose: ‹Ich bin, der ich bin.› Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der ‹Ich bin› hat mich zu euch gesandt.»

Weil im Hebräischen zwischen Gegenwart und Zukunft nicht unterschieden wird, kann eben­so gut übersetzt werden: «Ich werde sein, der ich sein werde.» Der Satz kann noch prägnanter gefasst werden: «Ich werde da sein, als der ich da sein werde.» Das wäre dann Wiederholung und zugleich Ausweitung der vorherigen Zusage an Mose: «Ich werde mit dir sein.»

Gott gibt somit nicht einen Namen her, mit dem man magisch-instrumental umgehen könnte, um Gewünschtes herbeizuzwingen. Gott gibt mehr als seinen Namen, er gibt sich selber her, er engagiert sich persönlich: «Ich werde da sein …»

Diesem persönlichen Engagement entspricht jedoch auch die Freiheit, die Gott sich wahrt. Er lässt sich nicht von uns vorschreiben, was zu tun oder zu unterlassen sei. Er lässt sich nicht auf bestimmte Verhaltensweisen jetzt oder für die Zukunft festlegen. Er ist so gegenwärtig, wird so da sein, wie er es in seiner Souveränität für richtig hält: «Ich werde da sein, als der ich da sein werde.» Das besagt: «Ihr braucht mich nicht zu beschwö-[32]ren, denn ich bin da, bin bei euch, aber ihr könnt mich auch nicht beschwören, denn ich bin jeweils so bei euch, wie ich jeweils sein will, ich selber nehme keine meiner Erscheinungen vorweg, ihr könnt mir nicht begegnen lernen, ihr begegnet mir, wenn ihr mir begegnet.» (Martin Buber) So entzieht sich Gott jeder Beschwörung und Magie. Dafür wird Israel «auf ein Geschehen verwiesen, das von JAHWE ausgeht, auf das, was er unternimmt: den Zug, den er mit Israel zieht aus Ägypten in das gelobte Land und weiter ins Exil und in die Diaspora, verwiesen auf die ‹Tage› und die ‹Taten›, welche die Tage und Taten Gottes sind» (Kornelis Heiko Miskotte).

«Und Gott sprach zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der ‹Ich bin› (d. h. auch: der ‹Ich werde da sein›) hat mich zu euch gesandt. Und Gott sprach weiter zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sagen: ‹Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt.) Das ist mein Name ewiglich, und so will ich angerufen sein von Geschlecht zu Geschlecht.»

Unerwarteterweise scheint Gott nun also doch noch einen, seinen Namen preiszugeben: «Jahwe – das ist mein Name ewiglich.»

Zu Recht hat man aber gesagt: Dieser Name ist im Grunde der Name einer Namensverweige­rung (Karl Barth), «ein namenloser Name» (Kornelis Heiko Miskotte). Er ist unübersetzbar, undeutbar, nicht hebräisch, sondern vielleicht midianitischen Ursprungs – ein Fremdwort jedenfalls auch für die Israeliten!

Dieser erratisch fremde Gottesname bezeugt einen Gott, der nicht ein Produkt nationaler Wünsche und Aspirationen ist. Dieser Gott kommt, wie sein Name, von aussen, kommt als Fremder zum Volk Israel. Kein Eigengewächs also, kein «Gott im hehren Vaterland», kein Nationalgötze.

Sicher ist, dass «Jahwe» ein Eigenname ist, somit kein allgemeiner Gattungsbegriff wie etwa das Wort «Gott». Dazu kommt, dass der alttestamentliche Satz «Jahwe ist Gott» unumkehrbar ist. Es ist also nicht so, dass Gott unter anderem den Namen Jahwe trägt (was Hellmut Rosin nachgewiesen hat). Der [33] Satz «Gott ist Jahwe» findet sich im Alten Testament nirgends. «Jahwe» ist demnach nicht eine Manifestation des Göttlichen, das sich ein bisschen überall in den Religionen und ihren Göttern findet, doch seit der Religionskritik von Feuerbach und Marx dem Verdacht ausgesetzt ist, Selbstprojektion des Menschen oder fromme Überhöhung irdischer Herrschaftsverhältnisse zu sein. Der Eigenname «Jahwe» setzt den Gott Israels ent­schieden ab gegen die Götter der Religionen.

Allein: Gerade ein so fremder, undeutbarer Eigenname könnte als magisches Mittel miss­braucht werden. Zauberer, Kartenschläger, Wahrsager murmeln ja mit Vorliebe völlig unver­ständliche Namen und Wörter. Dem beugt unser Bericht jedoch vor. Er deutet den undeutba­ren Namen nun doch, und zwar als Kurzform des Satzes: «Ich bin, der ich bin (Ich werde da sein, als der ich da sein werde).» Das ist aus dem äusserlichen, sozusagen musikalischen Grunde möglich, weil im Hebräischen das Wort «Jahwe» dem Satz «Ich bin, der ich bin» ähnlich tönt. Diese Deutung ist also nicht wissenschaftlich, sondern künstlerisch, von asso­ziativ-formalen, nicht von inhaltlichen Gesichtspunkten bestimmt. Aber mit dieser Deutung wird dem magischen Missbrauch des Gottesnamens gewehrt, wird zurückgelenkt zu jenem Satz, der Namensverweigerung und persönliches Engagement Gottes zugleich ausspricht: «Ich bin, der ich bin – Ich werde da sein, als der ich da sein werde.»

II

«Jahwe – das ist mein Name ewiglich, und so will ich angerufen sein von Geschlecht zu Geschlecht.» Und doch ist der Gottesname «Jahwe» aus unseren übersetzten Bibeln ver­schwunden und ersetzt worden durch das Wort «Herr».

Wie kam es dazu?

Aus Ehrfurcht vor dem Gottesnamen und um ihn ja nicht mit menschlich unreinen Lippen zu verunehren, gewöhnten sich bereits die Juden an, den Namen «Jahwe» nicht mehr auszu­sprechen. Wo immer «Jahwe» im gedruckten Text des Alten [34] Testamentes steht, lasen (und lesen) sie ein anderes Wort, nämlich «Adonai», was «Herr» bedeutet. Die Übersetzungen des Alten Testamentes ins Griechische, später ins Lateinische und alle andern Sprachen setzten an die Stelle von «Jahwe» ebenfalls den Begriff «Herr».

Im Laufe der Zeit wurde der Name «Jahwe» so unbekannt, dass man nicht mehr wusste, wie er, falls man im hebräischen Text auf ihn stiess, auszusprechen sei. Man las zu Beginn der Neuzeit statt «Jahwe» zunächst: «Jehovah». So kam der Name Jehovah in einige Kirchenlie­der. So kamen aber auch die «Zeugen Jehovahs» zu ihrem Namen. Bis die Forschung heraus­fand, dass der Name eben nicht als «Jehovah», sondern als «Jahwe» ausgesprochen werden muss. Davon nahmen allerdings die «Zeugen Jehovahs» keine Notiz – Selbstkorrektur ist nicht gerade ihre stärkste Seite. Eines jedoch ist ihnen zugute zu halten: Indem sie auf den Namen «Jehovah/Jahwe» zurückgriffen, stellen sie unsere Tradition, die den Namen durch einen Begriff («Herr») ersetzte, in Frage. Diese Ersetzung könnte eventuell Mitursache ver­schiedener Missverständnisse und Fehlleistungen im Christentum gewesen sein.

Der oberste Herr eines Landes war der Monarch: Kaiser, König, Pharao, Fürst – oder wie immer er hiess. Indem Gott als «Herr» bezeichnet wurde, machte ihn die menschliche Vor­stellung zum Weltmonarchen, zum Weltkönig. Wir sehen das am deutlichsten im Islam: Hier ist Allah der absolute Weltmonarch, der alles irdische Geschehen lenkt und bestimmt in der Art eines orientalischen Fürsten alten Stils.

Wenn aber Gott absoluter Weltherr in diesem Sinne ist, hat er dann also auch Auschwitz, Treblinka, Vietnam gewollt und bewirkt? Ist es dann also sein Wille und seine Tat, wenn heute Tag für Tag Abertausende von Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben müssen?

Der Islam antwortet auf diese Frage: Allah ist weder gut noch böse. Er ist absoluter Herrscher, der tut, was ihm passt. Der Mensch hat Allahs Entscheidungen und Verfügungen zu akzeptie­ren, auch wenn sie ihm böse vorkommen mögen. [35] In dieser Auffassung von Gott spiegeln sich ein geschichtlich bedingtes Verständnis von Herrschaft und eine bestimmte, hierarchische Gesellschaftsform. Es wird also eine gesellschaftliche Struktur auf Gott projiziert. Man wird z. B. gespannt darauf sein dürfen, ob und wie sich die islamische Gottesvorstellung verändern wird, ja verändern muss, falls in den Ländern des Islam einmal demokratische Strukturen und Entscheidungsprozesse etabliert sein werden.

Damit ist auch gesagt, dass wir in unseren hiesigen Verhältnissen und mit unserem heutigen Denken das Gottesbild vom absoluten Weltmonarchen kaum mehr nachvollziehen können.

«Gott, Du willst auch nicht mehr
mit unterwürfigem Gemurmel begrüsst
und mit Sätzen angesprochen werden
die man nur noch einem Welttyrannen
zumuten möchte.»
(Gonsalv Mainberger)

Indem wir Gott nicht mehr als «Herrn» in einem absolutistischen Sinne verstehen, nehmen wir ihn sozusagen in Schutz. Wir nehmen ihn in Schutz gegen den Verdacht, ein grausamer, menschen- und weltzerstörender Despot zu sein, dem es zuzutrauen wäre, dass er der eigent­liche Urheber von Massakern und Genoziden, dass er der direkte oder indirekte Anstifter von Auschwitz, Treblinka, Vietnam ist. Indem wir Gott solches nicht zutrauen, vertrauen wir der Aussage Jesu, dass Gott gut ist (Mt 19,17). Und wir vertrauen dem Zeugen Johannes, wenn er die Gutheit des von Jesus verkündigten Gottes mit dem Satz definiert: «Gott ist Liebe» (1Joh 4,8). Und wir interpretieren ferner den mit dem «Jahwe»-Namen assoziativ verbundenen Satz «Ich werde da sein, als der ich da sein werde» nicht im Sinne despotischer Willkür, als ob sich Gott hiermit vorbehalte, nach Art eines Super-Pharao freie Hand sowohl für das Gute wie für das Böse zu haben. Ich möchte den «Jahwe-Satz» vielmehr entschieden im Sinne Jesu und des Neuen Testamentes interpre-[36]tieren: Die Freiheit, die sich Gott vorbehält, ist die Freiheit der Liebe! «Gott ist verrückt vor Liebe und daher ist Sein Benehmen nicht vorausschaubar. In irgendeinem Augenblick begeht der Liebhaber eine Verrücktheit, weil er, wie alle Liebenden, Vernunftgründen nicht zugänglich ist.» (Ernesto Cardenal)

Ein Gott, der nicht nur teilweise Liebe zeigt, sondern wesenhaft Liebe ist, legt wenig, oft gar keinen Wert auf den Gebrauch seiner Macht. Er sucht als Antwort nicht Unterwerfung, sondern wiederum Liebe. Diese kann jedoch durch Machteinsatz nicht erzwungen werden.

Ein Gott, dessen Macht zuletzt keine andere ist als diejenige der Liebe, ist gut. Gut ist mehr, ist etwas anderes als «gütig». In der «Güte» steckt doch immer das Moment patriarchalischer Herablassung, insofern auch schon ein Hauch wissender Resignation. «Das Gute ist hart und herrlich. Die Güte hat immer etwas von Resignation.» (Ludwig Strauss) Gott ist gut!

Wie kann aber ein Gott, der «gut», der «die Liebe» ist, Auschwitz, Treblinka, Hiroshima, Vietnam und den Hungertod von Millionen gewollt haben? Wie kann er «Herr» im Sinne des alten orientalischen Despotismus sein? Er kann es nicht. Er ist nicht dieser «Herr» der totalen Allmacht, der uns Menschen der eigenen Verantwortung enthebt. Lange nicht alles, was in dieser Welt geschieht, ist Gott anzukreiden, entspringt seinem Willen. Der Weltzustand, wo Gott «alles in allem» ist (1Kor 15,28), ist noch ausstehend. Jesus sagte diesen Zustand, die Herrschaft Gottes, als Zukunft an – nicht als Gegenwart. Jetzt, in der Gegenwart ist der gute Gott keineswegs der, auf dessen Willen und Anordnung alles Weltgeschehen im Grossen und im Kleinen zurückgeführt werden kann, also auch Krieg, Terror, Hunger. An uns ist es, Frie­den, Recht und Brot für alle zu schaffen! Wir sind dafür verantwortlich, wenn es stets wieder zu Katastrophen der Gewalt und des Unrechts kommt. Es heisst den Namen Gottes missbrau­chen, wenn wir ihn als Alibi für unser Versagen verwenden. Es heisst sich ein falsches Bild von Gott machen, wenn wir ihn für unsere Schuld verantwortlich machen. Man könnte ihn höchstens dafür verantwortlich [37] machen, dass er uns so viel Freiheit schenkt, so viel Ver­antwortungsfähigkeit zutraut, zuletzt also: dass er darauf verzichtet, unser Tyrann und Despot zu sein. An diesem Punkt erweist sich vermutlich, dass Gott gerade in seiner Liebe hart ist: «Dass Gott uns nicht zwingt, ist seine Härte.» (Ludwig Strauss)

*

Ist es, nach all diesen Überlegungen, richtig, Gott so unbedacht wie wir es wohl bisher taten, den «Allmächtigen», den «Herrn» zu nennen?

Noch ein anderer Gesichtspunkt muss dazu geltend gemacht werden.

Das Gottesbild vom Weltmonarchen hat in der Vergangenheit des Christentums oft zu einer allzu schnellen Rechtfertigung irdischer Herren und Mächte geführt. Alsbald brachte man die obersten irdischen Herrscher in Analogie zum höchsten Weltmonarchen, verwendete somit Gott zur Sanktionierung irdischer Monarchen, die sich selber als «von Gottes Gnaden», ja als politische Abbilder der «Herrschaft» Gottes auffassten.

Das heisst: Indem Gott zur Projektion irdischer Herrschaft wurde, verschafften sich die irdi­schen Herren ein göttliches Alibi. Damit wurde Gott auf die Seite der jeweils Herrschenden gezogen, es entstand der Bund zwischen «Thron und Altar»; der hierarchische Gottesbegriff und die hierarchische Herrschaftsform wurden durch die einseitig interpretierte «Herr»- und «Herrschafts»-Theologie miteinander vermählt.

Bis heute geht Gott dieser Vorwurf nach, dass er Parteigänger der irdischen Machthaber sei, dass er auf jeden Fall von den Kirchen stets wieder als Gott der Herren und der Herrschenden ausgegeben und der Gehorsam gegen Gott mit dem Gehorsam gegen die Herrschenden identi­fiziert worden sei.

Dieser Vorwurf, sofern an die offiziellen Grosskirchen adressiert, stimmt.

Er stimmt, sofern er an das von den Kirchen ideologisch verformte Gottesbild gerichtet ist.

Am Gott Jesu geht dieser Vorwurf vorbei. [38]

Jesus, der das Wort Gottes ist, wurde nicht im Königspalast oder Herrenhaus, er wurde in einer Notunterkunft geboren. Er verbrüderte sich nicht mit den Herrschenden, sondern mit den Beherrschten. Er war ohne Macht im gesellschaftspolitischen Sinne, wurde vielmehr ein Opfer der Mächtigen. Die damit bezeugte Solidarität Gottes mit dem kleinen Mann, der unter­privilegierten Frau, dem ungebildeten Provinzler, dem geächteten Zöllner ist bereits vorgebil­det in der Parteinahme für die entrechteten Sklaven im pharaonischen Ägypten.

Noch einmal: Ist es richtig, gerade diesen Gott als «Herrn» im irdisch-monarchischen Sinne dieses Begriffs zu verstehen? Legen wir damit Gott nicht auf eine Rolle fest, die er gar nicht spielt? Projizieren wir so nicht unsere eigenen Machtwünsche auf ihn?

Vielleicht wäre der so fremde, so undeutbare, erratische Name «Jahwe» zutreffender? Dieser Name enthält kein Rollenbild von Gott, ist kein Begriff, in den wir eigene Machtträume hin­einprojizieren können. «Jahwe» – das ist einfach ein Eigenname, der Gott alle Freiheit lässt, der zu sein, der er je sein wird – und nicht der, als den wir ihn gerne benützen und manipulie­ren möchten.

*

Freilich: Das Wort «Herr» hat sich so eingebürgert, dass es so rasch nicht ersetzt werden kann. Wir müssen aber fortlaufend interpretieren, müssen beim Gebrauch dieses Wortes so­gleich mitdenken: «Herr» – doch ganz anders als irdische Herren Herr sind! So «Herr», wie Jesus gewesen ist – kein Komplize der Herrschenden also, sondern Bruder der Beherrschten.

Der Lateinamerikaner Ernesto Cardenal, einmal nach dem Sinn des Wortes «Gott» befragt, antwortete: «Ich habe keinerlei Theorie des Wortes ‹Gott›. Das einzige, was ich sagen könnte, ist, dass mein Wort Gott Christus heisst.»

Eine ähnliche Antwort wäre auch auf die Frage nach dem problematisch gewordenen Wort «Herr» denkbar. [39]

Wie der Gott der Väter einen Eigennamen hatte, so trägt ja auch der neutestamentliche Wort­führer dieses Gottes einen Eigennamen: Jesus ist der Wortführer und existenzielle Zeuge Jahwes. Vor diesen beiden Namen verblassen alle allgemeinen Funktions- und Rollenbegriffe der jüdischen und christlichen Tradition. Unveränderbar und unverwechselbar bleiben die Eigennamen. Sie bezeugen erfahrene, gelebte Existenz.

Ich schliesse mit den letzten Zeilen eines heutigen Hymnus Auf den allerheiligsten Namen. Er wurde in der Mitte der fünfziger Jahre vom elsässischen Dichter Jean-Paul de Dadelsen ge­schrieben und bezieht sich am Schluss direkt auf die Offenbarung des «nicht zu entziffernden Namens» Jahwe beim Dornbusch:

«Preisen wir an der Schwelle des Schweigens
den uns geliehenen Leib, diese Zeit, diesen Ort,
Diese Freiheit, die uns vergönnt, kindlichen Lobpreis zu singen.
Auch die Fledermaus und der Maulwurf und drüben unter dem Horizont, dem erschöpften,
Diese dürftige Flamme aus dürrem Gezweig, sie ehren
Den nicht zu entziffernden Namen.»

(Anfang 1970er-Jahre)

Quelle: Kurt Marti, Gottesbefragungen: Ausgewählte Predigten, Theologischer Verlag Zürich, 2020, S. 29-39.

Hier der Text als pdf.

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