Karl Barth, Vom christlichen Leben. Zwei Bibelstunden über Römer 12, 1-2 (1926): „Und nun noch einen dritten Begriff: Bereitschaft: daß man ein Mensch wird, der auf der Wache ist, der weiß, worauf es ankommt, der gesehen hat, wie es mit dem Le­ben steht, der gehört hat, daß das große Halt! Noch nicht! gesprochen ist, zugleich aber auch das große: Fürchte dich nicht, freue dich!“

Vom christlichen Leben

Von Karl Barth

Vorwort

Das Folgende ist der Abdruck eines Stenogramms, das die Herren stud. theol. Hans Bayer und Otto Maschke von zwei im Mai d. J. im Schoß der hiesigen „Christ­lichen Studentenvereinigung“ gehaltenen Bibelstunden aus­genommen haben. Dem dringlichen Wunsch, sie in dieser Form zu veröffentlichen, habe ich (etwas kopfschüttelnd) Folge geleistet. Es steht nun Alles so locker, ausgebreitet und angreifbar da, wie es eben frei geredet wurde, da­mals ohne Gedanken an solche Weiterungen. Ich muß also die Leser bitten, die gegenüber einem theologischen Aufsatz oder einer schriftlich vorbereiteten predigt berech­tigten Maßstäbe hier nicht anzuwenden, sondern anspruchs­los aufzunehmen, was anspruchslos geboten wird.

Münster i. W., im Juli 1926.

Paulus an die Römer, Kap. 12, V. 1 und 2:

„Ich ermahne Euch nun, meine Brüder, durch die Barm­herzigkeit Gottes, Eure Leiber darzustellen als ein leben­diges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer — Euer ver­nünftiger Gottesdienst! Und paßt Euch nicht der Gestalt dieser Welt an, sondern nehmet neue Form an durch Er­neuerung Eures Denkens, gerichtet auf die Prüfung, was der Wille Gottes, das Gute und wohlgefällige und Voll­kommene sein möchte.“

I.

Liebe Freunde! Sie haben mir eine schwere Aufgabe gestellt. Es ist mir gesagt worden: vom Aufbau eines christlichen Lebens möchte ich zu Ihnen reden. Und dann ist mir noch heute morgen gesagt worden: man wolle es lieber anders ausdrücken: von der Gestaltung eines christlichen Lebens solle die Rede sein. Ich will die beiden Worte nicht auf die Goldwaage legen. Man hätte viel­leicht noch andere Umschreibungen derselben Frage und Aufgabe finden können. Johann Tobias Beck hat ein Buch geschrieben über die Geburt des christlichen Lebens. Daran anschließend wäre dann vielleicht vom Wachstum und von der Entfaltung des christlichen Lebens zu reden. Ich nehme an, Ihre Frage und Ihren Auftrag richtig zu verstehen, wenn ich denke, daß Sie auf alle Fälle, wenn vom Leben, vom christlichen Leben die Rede war, in irgendeinem Sinne an das Leben ge­dacht haben, das nun schlechterdings und ganz eindeutig wirklich wir Menschen, wie wir hier sind, ein Jedes mit seinem kleinen Ich an der Spitze seiner Existenz zu leben haben — ganz konkret und bestimmt an die Frage: Was sollen, vielleicht auch was dürfen wir tun als Christen: wir, die wir — um das Allgemeinste zu sagen — getauft sind und nun in irgend einem Sinn auf das hin, daß wir getauft sind, daß wir in unserer Taufe den Ruf Gottes gehört haben, diesem Ruf ge­horchen möchten durch Glauben — wenigstens die Sehn­sucht danach haben, das Verlangen, diesem Ruf gerecht zu werden; was bedeutet (und wenn es nur diese Sehn« sucht wäre) diese Aufmerksamkeit, dieser Gehorsam gegen einen Ruf, dein wir nicht ganz ausweichen können, — was bedeutet das für unser Leben, wie wir es leben alle Tage; was soll nun werden aus diesem, unserem Tun — unser Leben einmal unter diesen Aspekt gestellt —, wenn es auch noch so schwach, hilflos und ungeschickt ist; was wird dann geschehen, was für ein Aufbau, welche Gestal­tung sich einstellen Tag für Tag in unserem inneren und äußeren Handeln, da unser Leben doch von Stunde zu Stunde ein Handeln, wirken, eine Betätigung, unser Wille in Bewegung ist, wo wir uns Ziele stecken, wo wir Stationen erreichen und von da weiterblicken auf andere Stationen;

Lassen Sie uns zunächst einen Augenblick darüber nach­denken, was das heißen muß: christliches Leben. Es steht doch zunächst so, daß wir uns sagen müssen: das christliche Leben im eigentlichen und wahren Sinn, das christliche Leben, das seinen Namen wesenhaft und wahr­haftig verdient, dieses christliche Leben leben nicht wir, sondern dieses christliche Leben lebt ein ganz anderer, lebt Gott in Jesus Christus durch seinen heiligen Geist für uns und in uns. Und wir würden von vornherein unsere Frage, auf die wir nach Antwort suchen wollen, ver­fehlen, wenn wir uns nicht ganz dringend an diesen eigentlichen Sinn unserer Frage erinnern wollten, daß wir dabei primär im Tiefsten und Letzten fragen nach etwas, was nicht wir tun, sondern was Gott getan hat, tut und tun wird.

Er lebt für uns in seinem Sohn Jesus Christus. Das ist’s, was uns in unserer Taufe zugesagt ist, worauf hin wir Christen sind, worauf wir es wagen können, an so etwas, wie christliches Leben als unser Leben, Leben unseres Ich von ferne zu denken. Gott lebt für uns in Jesus Christus. Es ist jetzt nicht der Augenblick, das, was hier in einem kurzen Satz ge­sagt ist, auszuschöpfen in seiner ganzen Tiefe. Das heißt: wir sind, ich bin, du bist von Gott angeschaut von Ewig­keit her: so wie ich jetzt da bin in meiner Situation, meiner Lebenslage, auf dem Wege, den ich gekommen bin und zu gehen habe, geschaut und erkannt und zwar in meiner grenzenlosen Ferne von ihm. Nicht als ein zweiter Gott, sondern als Mensch, der gesündigt hat, sündigt und sündigen wird und der sich selbst, nicht anders, als verloren erkennen kann, bin ich von ihm in Jesus Christus, seinem geliebten Sohn, erkannt, erwählt und, als die Zeit erfüllt war, versöhnt mit ihm. In ihm, dem Sohn Gottes, haben wir Frieden mit Gott. Er hat ge­nug getan für mich und tritt für mich ein vor dem ewigen Gott, vor dem ich als Mensch Staub und als Sünder dem ewigen Verderben verfallen bin. Gott spricht durch seinen Sohn für mich, bei sich selber. Er ist mein Fürsprecher bei ihm selber; das ist sein Leben für mich, das ist das christliche Leben, das Christus lebt, gelebt hat und leben wird in Ewigkeit. — Daß er lebt als der Mittler zwischen Gott und dem Menschen, mein Heiland, das ist mein christliches Leben!

Und dazu noch das andere, das nicht davon zu trennen ist: Gott lebt in mir, durch seinen heiligen Geist, der auch wieder kein anderer ist, als er: Gott selbst in Ewig­keit. Durch seinen heiligen Geist hat er mich, der ich in Sünde war, wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung, daß ich mich selber erkennen darf als sein Rind, in meiner Sünde, Verlorenheit, Staubhaftigkeit erkennen darf als gerecht vor ihm. Nicht weil ich selber es bin in mir selber, sondern weil er mich in Christus berufen und er­wählt hat, diese seine Gabe mir zugesprochen hat durch den heiligen Geist, weil er mich geheiligt hat und d. h. ausgesondert, daß ich mich nicht mehr als verloren erken­nen muß, sondern gehalten von ihm, getröstet von ihm, geführt von seiner Hand. Daß wir diese Zusage haben der Teilnahme an diesem unbegreiflichen Leben Gottes, das ist der Sinn der Taufe. Gottes Leben für uns in Christus — in uns durch seinen heiligen Geist: das ist das christliche Leben!

Liebe Freunde! Warum machen wir nun nicht Halt; warum bleiben wir nun nicht stehen in diesem Heilig­tum, dessen Grenzen ich ja bloß umschrieben habe in ein paar Worten, von denen jedes einzelne uns nur erinnern konnte an den ganzen Reichtum dessen, das damit ge­meint ist, wenn wir vom Leben Gottes sprechen in Chri­stus und durch seinen Geist; wie kommt es, daß auch der Apostel Paulus in seinem Römerbrief, nachdem er elf Kapitel lang gesprochen hat von den Tiefen Gottes, von dem Leben Gottes für uns und in uns, von der un­endlichen Verheißung der uns als Christen zugewandten Gnade Gottes, daß er nun fortfährt, hier an dieser Stelle, wo ich den Text gewählt habe, mit den Worten: „Ich ermahne Euch;“ was hat das für einen Sinn, wenn das Leben Gottes das christliche Leben ist, zu Menschen, denen dieses Leben zugesprochen ist, zu sagen: ich ermahne Euch; Ermahnen heißt offenbar: nun sind wir beim christlichen Leben, im Sinn der uns gestellten Frage — da soll etwas getan werden, da soll nicht damit die Sache beendigt sein, daß wir in dieses Heiligtum hineingestellt sind, lobend und anbetend unsere Hände erheben, daß wir dastehen dürfen, uns freuend dessen, daß Gott, Gott selber, Gott allein alles tut in der Fülle seiner Kraft und Herrlichkeit — sondern da soll es nun — ist es nicht, als ob wir plötz­lich in eine ganz andere Welt einträten; — auf einmal doch wieder so sein, daß wir Menschlein uns da finden, ganz und gar wie wir sind, wie wir uns selbst kennen, wie wir einander kennen. Und nun wird zu uns gesagt: Du Mensch, ich ermahne dich! —

Und nun wollen wir diesen Ruf aufnehmen — das muß doch die Frage nach dem christlichen Leben in dem Sinn, wie sie mir hier gestellt ist, bedeuten — ihn an uns selber richten, uns gegenseitig ermahnen. Gott brauchen wir nicht zu ermahnen, aber offenbar uns. Ist das nicht ein gefährlicher Augenblick, ein gefährlicher Schritt, den wir da tun; könnte es nicht so sein, daß nun ein großer Ab­fall geschieht, indem wir eintreten in diese Frage, ein Vergessen dessen, was wir uns eben in Erinnerung ge­rufen haben: ein Vergessen Christi und des Geistes, ein Zurückkommen auf uns selber, auf uns Menschen in unse­rer Lage, wie sie nun einmal ist und dann doch wohl auch auf unsere Kräfte und Möglichkeiten, auf den Umkreis unserer Existenz, wo wir uns wieder bei uns selber finden und wer weiß, wenn wir uns allzutief darauf einlassen, alles wieder so wird, wie wir die Sache verlassen haben in dem Augenblick, wo wir anfingen uns zu besinnen: was das heißt: ein Christ sein; Fängt nun nicht doch wieder die ganze Jämmerlichkeit unserer Existenz an und aller Illusionen, die bei dem Menschen, der bei sich selber ist, unvermeidlich sind: Illusionen über seine Einsicht, seine Kräfte und Ziele, die er erreichen kann- Hat es über­haupt einen Sinn, die Frage aufzuwerfen: was sollen, was können wir tun- Ist es nicht eine Auflehnung gegen Gott selbst, der uns in seiner Gnade zugesagt hat: ich will es tun, ich mache alles neu! Soll nun doch wieder der Mensch handelnd an Gottes Stelle treten?

Lassen wir die Einsicht von der ganzen Gefährlichkeit dieses Unternehmens nur auf uns wirken, wir brauchen nicht zu zweifeln, daß der Apostel Paulus, als er diesen Übergang machte von den Tiefen Gottes zu dem Men­schen, wie er ist (dem Menschen, der nicht allzutiefen Wesens ist), daß er gewußt hat, was er tat und nicht blindlings an dem Abgrund, der sich da auftut, Vorüber­gegangen ist! — Dieser Übergang zur Ermahnung: zum christlichen Leben, nunmehr ganz konkret gefaßt als unser Leben, diese Frage nach unserem eigenen Tun könnte ja auch etwas ganz anderes bedeuten. Es könnte bedeuten, daß wir gerade im Angesicht des heiligen und lebendigen Geistes, gerade indem wir sein Wort gehört haben und in Schwachheit oder Kraft, wahrscheinlich in Schwach­heil, versucht haben, ihm Glauben zu schenken, daß wir gerade dann uns eingestehen, ehrlich uns eingestehen: auch als solche glaubende Menschen sind wir Menschen auf der Erde lebend, und dieses große Wort der Gnade ist zu mir gesprochen durchaus so, wie ich bin und keinen Augen­blick will ich es vergessen, daß ich, indem ich dieses Wort in den Ohren und im Herzen habe, bin, der ich bin und daß alle meine Fragen, Lebensfragen, Sorgen, Versuchun­gen, auch die ganze grenzenlose Kompliziertheit unsers Lebens in der Gemeinschaft der Menschen nach wie vor besteht und daß ich in dieser Situation, dieser Beklem­mung das Wort vernommen und zu glauben habe. Außer­halb dieses Zwiespalts sein, nicht mehr angesichts der Tatsache, daß ich, der ich Gottes Wort gehört habe, ein Mensch bin und bleibe, das würde bedeuten, daß die Zeit vorbei ist, die Vollendung schon geschehen, daß wir nicht nur in Christus und durch seinen Geist versöhnt, sondern erlöst des ewigen Lebens teilhaftig sind, daß wir am Ziel stehen. Das ist das Ziel des Weges, das ist die Hoffnung, zu der wir wiedergeboren sind, das ist die vollendete Ge­meinschaft mit Gott! Aber der Apostel Paulus hat nicht zu Vollendeten und Erlösten gesprochen, sondern zu Ver­söhnten, zu Menschen, die das Wort vom Glauben gehört haben, aber wohnend in dieser Zeitlichkeit, die das Zelt noch nicht abgebrochen haben, die noch warten der Be­hausung, die im Himmel ist. In dieser Lage sind auch wirr Und der Übergang zum Ermahntwerden und uns Ermahnenlassen könnte, weit entfernt, daß wir uns etwas einbilden, vielmehr gerade bedeuten, daß wir ehrlich be­greifen, daß Gott mit uns erst auf dem Wege ist.

Nach dem christlichen Leben des Weges im Zwiespalt fragen wir. Es erhebt sich also neben der Frage des Glaubens in der Tat — wenn auch untrennbar von ihr — eine zweite Frage. Es ist beschämend und nieder­drückend, daß die Frage nach dem christlichen Leben eine andere ist, als die nach dem Glauben. Es müßte nicht so sein. Aber es ist so. Darum ist Gott noch auf dem Wege mit uns, noch nicht am Ziel — darum weil unser Glauben nie und nimmer das Gehorchen, das Lieben, das Tun wirklich schon in sich hat und vollbringt, wie Luther es so schön beschrieben hat. Meines Erachtens zu schön, wie ich Gott liebe, nachdem ich vernommen und begriffen, daß er mich zuerst geliebt, das steht auf einem zweiten Blatt, weil wir diesseits der Vollendung in der Zeit und noch nicht in der Ewigkeit existieren, darum ist die Frage nach dem christlichen Leben eben als Frage nach dem, was geschieht bei uns, die Frage nach unserem kleinen Ich eine sehr wohl auszuwerfende, besondere Frage! Indem wir diese Frage aufwerfen, sind wir ehrlich, wahrhaftig, geben wir Gott die Ehre, wie wir es jetzt tun müssen, wo wir es nur als Christen, die auf dem Wege sind, als die viatores überhaupt tun können. Indem wir uns ermah­nen lasten, ganz schlicht und simpel (nicht nur im Gefühl und mit dem Hintergedanken: eigentlich habe ich es nicht nötig) durch die Hand, die aufgehoben ist, den Finger des Gesetzes, durch die Frage, wo bist Du, Adam, wo steckst Du? durch das Gebot: Du sollst! oder auch durch die Ein­ladung: Du darfst! jedenfalls den Hinweis auf etwas, das getan werden soll, auf ein Handeln, das durchaus geschehen muß: indem wir uns das gefallen lasten, uns demütigen als glaubende Menschen und uns gestehen, daß wir noch nicht am Ziele sind, eben damit stellen wir uns — und das ist das Große — auf festen Boden, sichern uns vor den Einbildungen, die sich allzuleicht einstellen würden, wenn wir es sein ließen. Lasten wir es uns nicht reuen, uns ermahnen zu lasten, zu fragen nach dem christlichen Leben, das uns nicht abgenommen ist durch das Leben Got­tes. Durch das Leben Gottes, das christliche Leben in einem ursprünglichen Sinn, ist etwas von uns gefordert. Diese Forderung gerade ist das Band der Wahrheit, das uns mit jenem Leben Gottes verbindet. Denn Gott ist ein Gott der Wahrheit. Er will r» nicht haben, er er­tragt es nicht, daß er für uns und in uns lebt und unser Leben ein ganz anderes ist. Sondern indem er für uns und in uns lebt, tritt er selbst an uns heran. Er selbst ist die Notwendigkeit dieser Frage! Indem wir diese Frage als Druck empfinden, indem sie uns beängstigt, er­fahren wir die Wahrheit der Versöhnung, der wir nicht ausweichen wollen. Könnten wir ihr ausweichen, uns träumend in eine Sphäre erheben, wo wir denken könnten: es ist genug, daß ich glaube, darin liebe und gehorche ich auch, Gott hat alles für mich getan, nun will ich mich ihm einfach hingeben und sein und verströmen in ihm, wie ein TKopfen Wassers in einem Strom, nun brauche ich keine Besinnung, keine Frage, kein Gesetz mehr, nun bin ich in die Freiheit der Kinder Gottes entlassen — wehe, wenn wir uns dahin begeben könnten! Es könnte nicht anders sein, angesichts der furchtbaren Wirklich­keit Gottes und angesichts der furchtbaren Wirklichkeit unseres Lebens, als daß wir eines Tages aus diesem Traum erwachten: als solche, die wie Ikarus nach der Sonne stiegen wollten und erleben mußten, daß das nicht geht. Die Freiheit, in der kein Unterschied zwischen Got­tes und unserem Handeln mehr ist, haben wir nicht, son­dern ihrer warten wir, nach ihr seufzen wir. wir sehen: da ist Gottes ewiges, großes Handeln und nun sehen wir als etwas ganz anderes, zweites, weil Gott wahrhaftig ist, die Aufforderung, die Frage nach dem christlichen Le­ben, das wir zu leben haben.

Von da aus müßte uns in den Grundzügen deutlich werden, was der Apostel uns zu sagen hat. Heute wollen wir uns auf den ersten Vers beschränken: Lassen Sie uns kurz nachdenken über die drei Dinge, die da entscheidend sind.

  1. ich ermahne Euch durch die Barmherzigkeit Gottes
  2. ich ermahne Euch, Euer Leben darzubieten
  3. ich ermahne Euch, Euer Leben darzubieten als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer: zuletzt zusammengefaßt mit dem merkwürdigen Begriff des ver­nünftigen Gottesdienstes, den wir darbringen sollen.

Liebe Freunde! Ich meine, wenn ich es recht ver­stehe, wird durch diesen Ausdruck, den Paulus da braucht, durch diesen Gesichtspunkt, unter den er die Frage, um die wir gemeinsam ringen, stellt, gesagt, daß gerade das, was wir zusammengefaßt haben als das große Wort von der Gnade Gottes, daß gerade das und nichts anderes der Grund ist und das eigentlich Bewegende dessen, wonach wir fragen: unseres eigenen menschlichen Tuns als Chri­sten, als Menschen, die getauft sind und das Wort der Taufe vernommen haben: ich ermahne Euch durch die Barmherzigkeit Gottes, wenn ich das richtig verstehe, so heißt das vor allen Dingen, ich ermahne euch als solche, die keinen Augenblick andere sind, als solche, die Barmherzigkeit nötig haben, wir sollen wissen, es han­delt sich bei der Frage nach unserem Tun um uns als Wesen, die gar nichts anderes sind als verlorene Sünder. Gerade indem Christus für uns eintritt und indem wir durch seinen heiligen Geist wiedergeboren sind, können wir uns selber, so wie wir sind, nur als verlorene Sün­der erkennen.

Ermahnen durch die Barmherzigkeit Gottes kann nicht bedeuten, daß nun wieder auf irgend einem Umweg ein Zutrauen in uns gesetzt wird; in unsere Kräfte, Möglich­keiten, Vernunft, Einsicht, Güte und Freiheit unseres Willens, wohlverstanden: es ist durchaus der Mensch mit dem geknechteten willen, der da ermahnt wird, der wirkliche Barmherzigkeit nötig hat, der ganz und gar ein Gefangener ist, nicht nur, wie wir gewöhnlich denken: der irdischen Unvollkommenheiten, der Sinne, der Natur, sondern ein Gefangener des Bösen, des Teufels, wie unsere Väter mit Recht sagten, ein gefallener Mensch, der sich nicht wieder erheben kann.

Es steht nicht etwa so, daß dieses Ermahnen bedeuten könnte, daß dem großen Gott-für-uns und Gott-in-uns nun von unserer Seite aus ein Leben für Gott und in Gott entsprechen könnte. Viel zu leicht sind wir geneigt, die Sache so einfach umzukehren und gerade die Frage des christlichen Lebens so zu beantworten, indem die Sache gleichseitig gesehen wird: da hat Gott etwas für uns getan, nun gilt es etwas für ihn zu tun. Sie kennen Zinzendorf’s Wort: „Das tat ich für Dich, was tust Du für mich?“ Ich will dieses Wort nicht anfechten in sei­nem rechten Sinn. Aber es ist wohl zu verstehen: das sind nicht gleiche Seiten. Zunächst kommt ganz und gar kein Für-Gott von uns her in Betracht. Es bleibt dabei, daß alles, was wir sind, gegen Gott ist und es gibt keine Stufe in unserem Leben, wo wir andere würden, es kommt nicht dazu, daß irgendwo in unserer Existenz ein Winkel entdeckt wird, wo wir sagen könnten: so gefähr­lich ist es jetzt nicht mehr, nun bin ich für Gott. Son­dern das rechte Ermahntsein besteht gerade darin, daß wir es uns endgültig gesagt sein lassen: Du bist gegen Gott!

Ganz ebenso steht es mit dem Anderen: dem Leben Gottes in uns. Gewiß man kann auch reden von einem Leben der Christen in Gott. Aber immer wieder möchte ich die Hand aufheben und warnen: nicht zu rasch geredet von diesem unserem Leben in Gott! Sondern wenn wir uns ansehen, müssen wir sagen: unser Ort ist durchaus nicht in Gott. Sondern wir leben in der Welt, bei uns selber. Das ist die große Anklage, unter der wir stehen, das ist das Erschütternde des Anblicks, den wir von uns selbst haben: daß wir so in der Welt leben, in einem Ort wirklich ferne von ihm, außerhalb Gottes. Und wenn es anders ist, wenn wir unser Leben bezeichnen dürfen als ein Leben in Gott, so müssen wir daran denken, daß Paulus sagt: es ist verborgen mit Christus in Gott. —

Es ist nicht offenkundig, daß man es einsehen kann, son­dern ein Gotteswunder, daß das wahr ist, daß wir da in der Welt in Gott sind, daß wir diese Welt als Gottes Welt begreifen dürfen, unseren Ort als die Stätte, da er der Herr ist. Unser wirkliches Leben in Gott besteht ge­rade darin, daß wir uns eingestehen: wir leben nicht in Gott, sondern fern von Gott. Wer in Gott ist, gerade der weiß, daß er fern ist von Gott, weiß, daß er Barm­herzigkeit nötig hat. Es tritt nie die Situation ein, daß er etwas anderes als reine Barmherzigkeit nötig hatte, wo etwas anders als Gnade wichtig werden könnte für uns. Die Gnade, nichts als die Gnade, die ganze Gnade!

Dann aber heißt durch Barmherzigkeit Gottes ermahnt werden ganz gewiß auch das andere: ein Mensch sein, dem Barmherzigkeit widerfahren ist. Und das wird recht verstanden heißen, ein Mensch sein, der nun gerade in diesem seinem Fernsein von Gott und Gegen-Gott-sein durch diesen Gott, von dem er fern ist und dessen Feind er ist, erkannt und verstanden ist, begriffen ist; denn Got­tes Verstehen ist ein Handeln an uns. Daß uns Barm­herzigkeit widerfahren ist, heißt, daß wir erkannt sind von Gott!

Liebe Freunde! Wir können ja unsere Erkenntnis Got­tes, wenn wir gefragt werden, wenn uns die Pistole auf die Brust gesetzt wird: wie kommst Du dazu, mit der Realität Gottes zu rechnen, an so etwas nur zu den­ken und gar darauf hin zu leben (und vielleicht noch Verkündiger dieses Wortes: Theologe zu sein) nicht dar­aufhin behaupten, daß wir Gott erkannt haben, sondern all unser angebliches Erkennen Gottes kann immer nur endigen in dem Bekenntnis, nicht daß wir Gott erkannt haben, sondern daß er uns erkannt hat in unserer Blind­heit, in unserer Torheit und Finsternis, innerhalb der Grenzen der Humanität und der reinen Vernunft — daß wir da von ihm angesprochen sind, ohne daß wir uns rechtfertigen können. Es ist Barmherzigkeit und in kei­nem Augenblick etwas anderes als Barmherzigkeit, von Gott begriffen zu sein und daraufhin versuchen, ihn mit unseren Gedanken zu begreifen. Verstanden, begriffen sein von Gott wird dann heißen, daß wir uns klar machen, Gott geht uns mit seiner Barmherzigkeit nach von Schritt zu Schritt, von Stufe zu Stufe. Es ist nicht anders: das menschliche Leben in der Zeit, gerade wenn man ver­suchen möchte, es vor Gott zu leben, ist eine Stufenreihe, die menschlich betrachtet immer abwärts führt. Mensch­lich betrachtet erkennt man immer deutlicher, wie wenig man Gott erkennt, wie wenig es möglich ist, ein Christ, ein Theologe zu sein. Der Faden, an dein mein Leben mit Gott hängt, wird menschlich betrachtet immer dün­ner, man kommt nicht weiter, sondern immer weiter rück­wärts, kommt sich immer hilfloser vor, man lernt sich immer besser kennen, erschrickt immer mehr vor sich, merkt, was für ein Seufzen unser Glaube, was für ein Stammeln unser Reden, was für ein Dahinwackeln, wie das eines Rindes, unser sogenanntes christliches Leben ist!

Wenn wir unser christliches Leben nicht ermahnt durch die Barmherzigkeit Gottes leben, so ist es zum Verzwei­feln. Es ist aber nicht zum Verzweifeln. Das ist die wunderbare Kraft des christlichen Glaubens und der wun­derbare Halt des christlichen Lebens; das Wort von der ewigen Barmherzigkeit, die uns nachgeht: daß, während wir abnehmen, durch die Barmherzigkeit Gottes unser innerer Mensch wächst. Aber bitte, denken Sie dabei nicht an irgend etwas, was wir für uns geltend machen könn­ten, an eine Möglichkeit, uns nicht mehr zu schämen, nicht mehr aus der Tiefe flehende Hände zu Gott zu erheben. Sondern da fängt erst recht das Beten, Schreien und Rufen und In-der-Not-sein an! Aber es wächst der inner­liche Mensch: denn „alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit“. Gottes Barmherzigkeit hat nicht nur kein Ende, sondern nimmt zu und wächst: während wir hinuntersteigen von Stufe zu Stufe, wird sie groß und größer und begleitet uns. Und dann ist es nicht zum Ver­zweifeln! Und dann könnte ich auch das andere sagen, daß auch von Stufe zu Stufe, durch die man hindurch­geht, etwas stattfindet von einem immer größeren Loben und Preisen und Danken auch für die Güte Gottes, für die Wahrheit dessen, daß er uns seine Rinder nennt, daß unser Getröstetsein kein Trug ist, seine Wahrheit in Chri­stus und in seinem Geist keine Illusion, sondern daß wir wahrhaftig davon leben können. — Ohne das ist es un­möglich zu leben!

Dazu möchte ich noch das Dritte hinzufügen: daß durch Gottes Barmherzigkeit sich ermahnen lassen dann doch wohl heißt: ein Mensch sein, der durch die demütigende und tröstende Hand Gottes ganz schlickr gehalten ist. Nehmen Sie es ganz neutral, ohne die Frage, ob es uns wohl ist oder nicht, ob wir freudig sind dabei oder zer­knirscht! Ich kann nur sagen, wenn man auf das sieht, wie es bei einem selber zugeht, so befindet man sich immer auf der Schaukel Goethe’s: „himmelhochjauchzend — zu Tode betrübt“, wir müssen vielmehr lernen, daraus nicht allzu großes Gewicht zu legen, lernen, daß die gött­liche Freudigkeit und Traurigkeit nichts zu schaffen hat mit den Gefühlen, die wir haben. Das verstehen Sie viel­leicht jetzt nicht, sondern müssen es erst ein bischen üben in ihrem eigenen Leben. Es ist nicht ganz leicht, diesen Unterschied zwischen der göttlichen Freudigkeit und Trau­rigkeit und unserem „himmelhochjauchzend und zu Tode betrübtsein“ zu machen. Aber es ist so: durch alles hin­durch heißt Vergebung ein Gehaltensein! Lassen wir die Frage, ob Freude oder Schmerz, zunächst beiseite! Halten wir uns zunächst daran: da ist eine Hand. Gottes Gnade gilt eben. Die Vergebung gilt, hält mich, so wie ich bin. Ich bin von Gott angesprochen, angenommen. Er sieht mich nicht zu gering an, mich heute wieder zu brauchen, wie er mich gestern gebraucht hat. Er scheint etwas an mir zu finden, das ich selber nicht finden kann. Es ist seine Güte. Daran will ich mich jetzt halten: für die nächste Aufgabe, den nächsten Kampf, die nächste Kompli­kation. Gottes Gnade gilt. Ich habe diese Zusage. Und damit will ich nun leben: kein großes Programm fassen, sondern einfach daran denken, wieder eine Viertelstunde zu leben! Und das würde doch einen Anfang von christ­lichem Leben bedeuten. Es ist etwas, was geschehen kann bei uns: eine innere Haltung, die der Mensch einnimmt, ein menschliches Tun und darin ein Begegnen mit Gott! Rein Eins-werden, keine Verschmelzung! Auf diese Be­gegnung hin es wagen, würde dann den ersten Schritt eines christlichen Lebens bedeuten.

Wenden wir uns nun zu den anderen Begriffen des Paulus, die er braucht, um zu sagen, was es heißt: fragen nach dem christlichen Leben: Also wir sollen ermahnt werden durch die Gnade unsere Leiber darzustellen zum Opfer. Es ist entscheidend, daß da von den Leibern die Rede ist. Plicht etwa nur die Seele, der Geist, das innere Leben! Es ist wieder die Hand, die auf uns gelegt wird. Nun heißt es: so Mensch, ich brauche Dich ganz und gar wie du bist. Es gibt nicht ein besseres Teil in dir. Es ist nichts mit dem absoluten Gegensatz zwischen Geist und Natur, Seele und Leib. Das ist nicht neutestamentlich gedacht. Wir müssen uns vom Apostel sagen lassen: es gibt nichts Vornehmeres in dir. Du bist Sünder vom Kopf bis zum Fuß. Aber Gott will dich auch brau­chen vom Kopf bis zum Fuß. Denken Sie bei diesem Wort von den Leibern an das große Zeichen, das am Anfang des christlichen Lebens im ursprünglichen Sinn steht: Kreuz und Auferstehung des Leibes Christi. Das Kreuz ist das Sterben seines Leibes und die Auferstehung ist die Erweckung seines Leibes. Und was uns in Chri­stus gezeigt ist als Logos, soll gelten auch für uns: für den ganzen Menschen. Das ist wiederum ein Trost für den Menschen. parakaleĩn heißt gleichzeitig trösten und ermahnen: Es ist gut, daß es nicht so ist, daß der Mensch in der Gespaltenheit des Materiellen und Geistigen blei­ben soll, sondern daß wir berufen sind zu einer Einheit; daß die Hand auf uns gelegt ist, wie wir sind in unserer ganzen Kreatürlichkeit. wir sündigen mit Seele und Leib, Seele und Leib sind versöhnt, Seele und Leib sollen auch erlöst werden.

Eure Leiber darstellen, heißt doch wohl, daß euer ganzes Leben wartet der Auferstehung des Fleisches! Euer Leben, wie es ist: in seiner Kreatürlichkeit, Bündigkeit. Es brauchen euch keine Flügel zu wachsen, es braucht kein künstliches Wesen aus euch gemacht zu werden! Das christliche Leben ist nicht ein Aufbau auf das übrige Leben. Es ist ganz profan und banal das Leben, das jeder an seiner Stelle zu leben hat. Man braucht nicht das und das zu unternehmen, um das christliche Leben zu leben, wir leben es an unserem Ort, in unserer Situa­tion!

Aber nun ist dieses Leben in Anspruch genommen durch Gott. Es gibt keine Provinzen, von denen wir sagen können, da hat Gott nichts zu schaffen — da braucht Gott nicht dreinzureden. Es ist nicht so, daß es eine religiöse Sphäre gibt, wo wir mit uns reden lasten — und da­neben eine andere, wo das Leben seine eigenen Gesetze hat und wir uns nichts vom Lichte Gottes hineinfallen lassen. Sondern wie dem Ganzen Barmherzigkeit wider­fährt, so wird auch das Ganze unter die Strenge der Gnade gestellt. Gott will und braucht nichts weniger als alles.‘

Eure Leiber darstellen: das heißt diesen Anspruch an­erkennen und ihm Recht geben — gegen uns selbst, im Kampf mit uns selbst. Es gibt keine Situation und kei­nen Ort in unserem Leben, wo der Trost versagt, aber auch keinen, wo der Gedanke an Gott nicht die tiefste Erschütterung bedeutet, wo wir Ruhe bekommen. Unser Leben, wie es ist, ist durch Christus und seinen Geist in Gottes Licht gestellt.

Zum Letzten: ein Opfer soll unser Leben werden, sagt Paulus. Ich meine das doppelt verstehen zu müssen. Es liegt einerseits eine gewisse Zurückhaltung in dem Ausdruck „Opfer“, wenn geopfert wurde in den alten Religionen, an die Paulus hier zweifellos auch gedacht hat, in Israel und unter den Heidenvölkern, so bedeutet Opfern immer eine Handlung, die einen Ersatz darstellt, für das, was der Mensch Gott gegenüber eigentlich tun möchte, wollte und sollte und was von ihm gefordert wird. Er zeigt dadurch, daß er sein Bestes hingibt (das beste Stück Vieh z. B.), seinen guten willen. Er bezeugt vor Gott, daß es ihm ernst ist. Und wenn es ihm ernst ist, dann nimmt Gott sein Opfer an: dann ist dieses Opfer ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer! Nicht darum, weil Gott braucht, was der Mensch ihm gibt — Gott braucht das Opfer nicht! Aber darum, weil er es annimmt als Zeugnis dafür, daß der Mensch sein Wort gehört hat und glauben und gehorchen möchte. Es gibt ein Opfer, das Gott annimmt und ein anderes, das er nicht annimmt, weil es nicht in Wahrheit bezeugt, was das Opfer bezeugen soll. Opfern heißt uns selber und unsere Existenz anerkennen als in Anspruch genommen von Gott. Darin liegt ein Vorbehalt und eine Schranke gegenüber dem, was wir als christliches Leben bezeichnen. Es steht nicht so, daß wir, indem wir nun anfangen ein christliches Leben zu leben, schüchtern die ersten Schritte tun, damit zu Organen Gottes werden, die seinen Wil­len vollstrecken, durch die Gott wirkt. Es besteht keine Kontinuität zwischen dem Wirken Gottes und unserem Wirken; auch wenn unser Wirken das christlichste, gläu­bigste, beste wäre, bleibt es unser wirken. Der Mensch bleibt der Mensch und Gott bleibt Gott. Es gibt keine Blutgefäße, durch die das Leben Gottes in unser Leben überströmte. Das sind Phantasien, wir können Opfer bringen, aber nur darauf hin, daß es Gott wohl- gefällt, unser Opfer anzunehmen als Zeugnis, daß wir Gott gehört haben. Es kann in keinem Augenblick des Opferns dazu kommen, daß wir uns rühmen, beruhigen könnten, nicht mehr daran denken könnten, daß wir Barm­herzigkeit nötig haben. Es bleibt Opfer und nur Opfer. Aber dieses Opfer ist von uns gefordert. Gott will es haben. Es gilt nicht Organe des Wirkens Gottes zu werden, aber es gilt unser Leben darzubringen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer. Dadurch, daß wir Gottes Wort anerkennen, anerkennen: Gott hält uns, dürfen wir es wagen, darauf die nächste Viertel­stunde zu leben. Sehen wir ein, was diese Viertelstunde bedeuten wird, so werden wir uns die Frage vorhalten lassen müssen: wie sollen wir Gott unseren willen, unsere kleine Existenz opfern, gehorsam glauben- Nicht daraufhin, daß er es brauchte, er mich nötig hätte, aber darauf hin, daß er Wohlgefallen daran hat, daß er mein Opfer annimmt, daraufhin soll ich es und darf ich es tun. Es ist von uns gefordert, daß wir es tun sollen, wir können es nicht anders. Gerade so, wie die Menschen in Israel und den alten Religionen nicht anders konnten, als diese Handlung zu vollziehen im Bewußtsein der Beschränktkeit, aber zu vollziehen, weil sie dazu aufgerufen waren, wer aufgerufen ist, der fragt nicht wie der Knecht im Gleichnis: was soll ich tun, du hast mir nur ein kleines Pfund gegeben, sondern geht hin und führt den Befehl aus. Als solche, die einen Befehl auszuführen haben, stehen wir da: als solche, denen es nicht anders wohl sein kann, als so, daß sie gehorsam sind, wir sollen uns dem Opfer nicht entziehen mit der Frage, was sollen wir tun-, sondern müssen uns Gott zur Verfügung stellen.

Indem wir das anerkennen im Akt des Glaubens, ist der Anfang des Christenlebens gemacht, aber nicht ein­mal gemacht, sondern es wird sichtbar, wie er immer wie­der gemacht werden muß als der Anfang des Lebens, das wir selber zu leben haben! Der Anfang, in dem unser kleines Ich sagen muß: ich glaube — lieber Herr, hilf meinem Unglauben — aber ich glaube, ich kann nicht mehr anders!

II.

Liebe Freunde! Wir haben am Ende der letzten Zu­sammenkunft an Hand des ersten Verses festgestellt: Ein Christ, der das Subjekt des Begriffs christliches Leben sein soll, ist zu verstehen als ein von Gott in Anspruch Genommener. Christen sind das Volk Israel, das Volk des Eigentums Gottes, von dem darum Opfer gefordert sind.

Stellen wir uns noch einmal die ganze Situation vor Augen: ein Christ sein, ein Glied des Volkes Gottes sein, hat zur Voraussetzung die große Tat der Barmherzig­keit Gottes. Darauf beruht die Möglichkeit der Ermah­nung, die Möglichkeit eines christlichen Handelns. Das christliche Leben, das wir leben, hat zur Voraussetzung das christliche Leben im primären Sinn, das Gott der Herr in Jesus Christus durch seinen heiligen Geist für uns und in uns selbst lebt. Darum, haben wir uns deut­lich gemacht, kann es sich bei dem, was wir als Christen leben, tun sollen und tun dürfen wirklich nur um ein Opfer handeln. Opfer im Sinn einer dankbaren, Gott die Ehre gebenden Huldigung, eines Zeugnisses dafür, daß der Anspruch, den Gott an uns stellt, von uns ver­nommen ist. Es kann sich nicht handeln um jenen Begriff von Opfer, wonach wir durch unser Opfer Gott etwa zu versöhnen hätten, wonach wir mit dem, was wir tun können, die Brücke zu schlagen hätten zwischen uns und Gott, wir müssen bedenken, daß der Gedanke des Opfers im neuen Testament verstanden worden ist eben in dem Sinn, daß es hier ja nicht mehr um etwas gehen kann, was wir etwa zur Vollendung unserer Versöhnung, Er­lösung schaffen könnten. Sie ist geschaffen, das Opfer ist vollbracht — unsere Opfer können nur Zeugnis, Widerspiegelung, Reflexe, Echo sein von jenem großen Opfer, das Gott aus seiner Barmherzigkeit für uns ge­bracht hat! Aber nun schreiten wir weiter: Wir haben gesagt: der Glaube an Gottes Barmherzigkeit kann nicht ohne den Gehorsam sein, der nun in aller Demut, aber auch ohne Wahl, sondern notwendig dieses Opfer bringt, das Opfer des christlichen Lebens, dessen Subjekt wir selber find: wir armen, kleinen Menschen, in unserer Niedrigkeit, in unserer inneren und äußeren Verfassung, die wir zu dem, was Gott ist, in unendlichem Wider­spruch standen, stehen und stehen werden, solange wir Menschen find und in der Zeit, in dieser Welt leben.

Worin soll nun dieses Opfer, die Darbringung eines christlichen Lebens bestehen- Es würden uns zwei Mög­lichkeiten offen stehen über dieses worin- zu sprechen.

Wir könnten versuchen, was Calvin in seiner Institutio in dem berühmten Kapitel: de vita hominis christiani versucht hat: eine kurze Skizze, einen Umriß der christlichen Lebensnotwendigkeiten im Einzelnen zu geben — an Hand einiger Tugendbegriffe zu bestimmen, was nun christliches Handeln in dieser Richtung wäre, das Handeln eines Menschen, der ein Geopferter ist, der sich selbst als notwendig dargebrachtes Opfer weiß. Wie würde sich dieses Opfer auf Grund der Ermahnung durch die Barmherzigkeit Gottes darstellen hier und dort? Die andere Möglichkeit wäre die: wenn wir ganz direkt ein anschauliches einzelnes Problem unseres praktischen Le­bens herausgreifen und uns davorstellten: etwa unsere Existenz als Akademiker oder unsere Stellung zur Fa­milie — ein Problem, das uns an einem bestimmten Punkt brennen kann und Not macht und dann versuchen, das Gesagte darauf anzuwenden.

In unserem Text geschieht weder das eine noch das andere, wenn wir den Worten des Paulus nachgehen, die er im 2. Vers zu uns redet, so ist uns einfach die Aufgabe gestellt, uns klar zu machen: wenn wir diesen Ruf gehört, diesen Anspruch vernommen haben und mit Ernst Christen sein möchten: was kann dann der Sinn aller von da aus uns möglichen Akte unseres Lebens sein, was ist nun querschnittmäßig der Nenner, aus den alles zu stehen kommt, auf Grund der Voraussetzung des ersten Verses. Und nun hören wir folgendes. Es wird zunächst gesagt:

Ihr sollt Euch nicht fügen in die Gestalt dieser Welt, euch ihr nicht anpassen, bei ihr nicht mitmachen. (mḕ sunschēmatízein! schēma = die Gestalt, Form), da sollt Ihr nicht dabei sein: nicht mit in dieser Gestalt sein! — son­dern metamorphoũsthe!: das bezeichnet einen Wandel, auch wieder der Gestalt, der Form: an die Stelle einer Gestalt soll eine andere treten. Eure Tätigkeit, euer Streben soll darauf gerichtet sein, daß diese andere Gestalt an euch zum Vorschein kommt! Aber wir müssen uns klar sein, daß mit der einfachen Übersetzung schon zuviel gesagt ist. Gesagt ist zunächst nur: die Richtung weg von dieser Ge­stalt, die Richtung hin auf diese andere Gestalt!

Und dann ist hinzugefügt: dies soll geschehen durch Er­neuerung eures noũs, eures Denkens, damit es dann kommt zu einem Prüfen, auf Grund von Prüfung wissen, was der Wille Gottes ist: das Gute, wohlgefällige, Voll­kommene.

Bei dieser Forderung, die eigentlich ganz einheitlich ist, müssen wir also unterscheiden:

  1. Es ist ein Widerstand zu leisten und die Richtung auf das Neue hin zu nehmen,
  2. das soll geschehen durch die Erneuerung eures Den­kens zum Zweck der Prüfung!

Das ist die Antwort, die Paulus gibt auf die Frage: was ist der Sinn des Handelns eines Christen? Das muß in allen Taten, auf allen Gebieten, bei allen Pro­blemen der leitende Gesichtspunkt sein, der Blickpunkt, dein zugesteuert werden muß, die Linie, auf der man wandert: — Um das zu verstehen, müssen wir uns ganz kurz die wichtigsten Begriffe, von denen Paulus spricht, vergegenwärtigen:

Zunächst heißt es: sich nicht mit der Gestalt abfinden, die diese Welt hat. Diese Welt: Christen sind Men­schen, die durch das, was Gottes Barmherzigkeit an ihnen getan, eingesehen haben, daß das Ganze, in dem wir leben (und zwar nicht nur als Steine uns darin befinden, als Lebewesen darin vegetieren, sondern als Menschen, Träger des Bewußtseins, Handelns sind): diese Welt charakterisiert ist als diese Welt, als ho aiṑn ho oṹtos! Was heißt das? Damit ist nicht gesagt, daß wir in einer Welt leben, die, — wie nachher etwa Marcion gemeint hat (d. h. gemeint hat, den Paulus verstehen zu muffen) — von einem bösen Gegengott geschaffen ist oder gar vom Teufel. Es ist nicht damit gesagt, daß wir in der Hölle leben, wir leben in der Welt und diese Welt ist Gottes Welt: von ihm geschaffen, erhalten und regiert, wir leben durchaus in der Welt, in der die Versöhnung geschehen ist in Christus. Nicht in einem Abgrund, wo Gott ganz und gar nicht gegenwärtig ist, sondern an einem Ort, wo Gott gesprochen hat und durch sein Wort gehandelt hat — und nun trotzdem: in dieser Welt! Offenbar ist der Gedanke der: es ist eine andere Welt und diese Welt ist noch nicht diese andere Welt, die mit dem: Wandelt Euch! als Ziel angegeben ist, auf die wir als Christen hinzublicken, der wir entgegenzuwandeln haben. Durch die Barmherzigkeit Gottes ist der Mensch in die Erkenntnis seiner Verlorenheit gesetzt, als Sünder erkannt, aber freilich von Gott erkannt und damit auch von Gott gehalten, als einer, dem Erbarmen wider­fahren, dem seine Sünden vergeben sind. Aber indem er das weiß und erkennt, erkennt er zugleich seine eigene und der ganzen Welt Vorläufigkeit, das große Noch- nicht, unter dem alles steht, was er jetzt erlebt, er und alles, was seinesgleichen ist, was zu dem Zusammenhang gehört, in dem er mitbedingt als einzelnes Glied darin steht. Er erkennt damit, daß dieser Lebenszusammenhang nicht in solcher Gestalt, nicht in solcher Verfassung ist, wie Gott ihn geschaffen hat, sondern daß nur leben in einer Welt, die bestimmt ist durch den Abfall des Men­schen von Gott, dadurch, daß der Mensch von Gott sich abgesondert hat, sich gegen Gott gestellt hat, sein Feind geworden ist. Diese Tat, an der wir fortwährend teil­nehmen, die fortwährend auch unsere Tat ist, läßt unser ganzes Leben nicht unberührt, sondern unser ganzes Le­ben ist durch diese Urtat Gott gegenüber bestimmt, von: Höchsten bis zum Tiefsten, vom Äußerlichsten bis ins Innerste hinein, ohne daß irgendwo eine Insel wäre, wo das nicht zu sagen wäre. Nun freilich ist diesem Sünder in dieser Welt eine Gnade zugesagt, ist ihm damit, daß er ein peccator iustus ist, in seiner Sündigkeit eine Hoff­nung gegeben: er ist ein Mensch geworden, der einer Er­lösung wartet, einer anderen Welt entgegensieht. Aber eben indem er ein Hoffender ist auf eine andere Welt, ein wartender auf ein Neues, von Gott Geschaffenes — kann es gar nicht anders sein, als daß er mit einer ganz bestimmten, — von allem Pessimismus und aller Welt­verdrossenheit wohl zu unterscheidenden —, mit einer christlichen Resignation hinblickt auf das Ganze, das jetzt vor unseren Augen steht. Er meint nicht, an irgend einem Punkt der Welt der reinen Schöpfung Gottes zu begegnen, sondern weiß: die ganze Gestalt der Welt steht unter dem Fluch Gottes. Dieser Fluch ist wohl durch Christus ewig weggenommen, aber der Vollzug dieses Weggenommen­seins ist noch nicht da. Wir wandeln in der Zeit, im Glauben und nicht im Schauen. Wir sehen die neue Schöpfung nicht, sondern die alte, wie sie ist, aber wir sehen sie im Lichte der Verheißung!

Und nun: was ist gemeint mit der „Gestalt dieser Welt“; was ist das Bezeichnende für die Welt, die wir kennen; Ich möchte fragen, ob es nicht das sein könnte: wir sehen in allem, was wir Welt heißen, einen Trieb, einen Lebenstrieb walten, den wir wohl verstehen kön­nen als von Gott mit der Schöpfung allem Leben mit­gegeben. Aber in der Form, in der wir den Lebenstrieb sehen, ist das Lebenwollen, das zum Leben drängende der Kreatur, wie wir es aus uns selbst kennen, ist dieses Lebenwollen des Menschen eine Bewegung, die wir auf keiner Stufe anders verstehen können denn als ein Tun, bei dem wir uns mit Schuld beladen, unter einer Anklage stehen, indem wir nicht rein sind, sondern unrein. Und zweitens (in Konsequenz desselben): eine Bewegung, ein Trieb, der nicht anders kann, als irgendwo endigen, dem Tode, der Vergänglichkeit verfallen. Alles Ding, das da lebt, hat seine Zeit. Und wenn ich vorhin von einem Fluch geredet habe, der auf der Welt lastet, so ist das einfach der Todesfluch, dem alles irdische Leben unter­worfen ist.

Wenn wir noch einen Augenblick dabei stehen bleiben, so wäre die Gestalt dieser Welt und das Schuldhafte in ihr im Menschen daran zu erkennen, daß alles Lebenwollen des Menschen vom Grund aus bis auf die höchste Spitze, auch wenn andere Elemente mitzuwirken scheinen, irgendwie ein Streben ist zur Vergrößerung, zur Erhöhung, zur Verlängerung unseres Selbst, unseres Ich. Damit ist nicht einfach nur ein roher Egoismus gemeint, sondern ganz einfach das Natürliche, das jeder Mensch möchte: unsere Eigenart ausleben, unser Eigenrecht ausüben, un­sere Eigenmacht behaupten, unsere Eigenkraft betätigen. Und indem wir das tun: dieses Ich sich ausleben, dieses Eigene sich entfalten lassen, werden wir schuldig, über­treten wir das Gesetz, sind wir böse. Daß hier etwas Schuldhaftes vorliegt, erfahren wir fortwährend daran, daß wir mit anderen in diesem Tun Zusammenstößen, daß das, was wir Leben nennen, notwendig zu Konflikten führt, denen wir nicht ausweichen können, durch die das Leben der Menschen untereinander zum Kampf wird. Auch unser höheres, geistiges Leben wird in irgend einer Form zum Kampf ums Dasein positiv oder negativ. Z. B. dadurch, daß wir andere vernachlässigen oder be­nachteiligen. wie oft führen wir den Kampf in dieser Weise, wir gehen unsere Wege, ohne an die Folgen zu denken. Und doch können wir diese Last nicht abwälzen — ganz abgesehen von den vielen Fällen, wo wir mit anderen positiv Zusammenstößen, in Widerstreit mit ihrem Leben geraten. Und in diesen: Widerstreit des Lebens gegen das Leben möchte ich die eigentliche, bezeichnende Gestalt des Lebens in dieser Welt sehen.

Soweit diese Bestimmung der Gestalt dieser Welt zu­trifft, stehen wir nun vor der großen Frage: inwiefern können wir sagen, daß diese Welt, in der es von den höch­sten Lebewesen bis zu den Infusorien, in der es im Gei­stigen, wie im Natürlichen so zugeht, „Gottes Welt“ ist; Paulus antwortet nicht theoretisch, sondern mit der Er­mahnung: Ihr sollt Euch der Gestalt dieser Welt nicht anpassen!

Wir werfen noch einen Blick auf das „wandelt Euch“! Es wird damit im Gegensatz zu dem „Nicht sich gleichstellen“ hingewiesen auf eine andere, nicht gegebene, als solche in der Zeit nicht erscheinende Welt. Und wenn wir das Leben in dieser Welt sehen als das Leben, in dem der Mensch sich auslebt, das sich tragisch widerspiegelt im ganzen Ablauf der Kreatur, so wird das Leben der ande­ren, nun zukünftigen Welt offenbar im Gegensatz dazu bestehen in einem Leben, in dem Gottes Eigenheit in allem herrscht, vor allem wiederum im Menschen, in dem an die Stelle der Eigenheit des Ich die Eigenheit Gottes selber tritt, wie es der Sinn der Schöpfung war und ist, daß die Welt wieder seine Welt fei. Darum heißt diese andere Welt das Reich Gottes, in dem er und nicht wir der Meister ist. In diesem „Er und nicht wir“ liegt der Gegensatz des Neuen und des Alten!

Diese neue Welt des Lebens, in dem Gott herrscht, haben die Apostel anbrechen sehen in Jesus Christus, was uns in rätselhafter Weise in den Evangelien erzählt wird von der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist doch offenbar grundsätzlich nichts anderes als eine auf das Endgültige hinweisende Erscheinung und Erkenntnis dieses Reiches Gottes, eines Lebens, das Gott eigen, nicht menschliches Eigenleben ist, sondern als menschliches Le­ben Gottes und darum Leben, das dem Fluch und Bann des Codes entronnen ist: Auferstehungsleben. Es ist also diese andere Welt die Welt, die in der Erlösung anbricht, auf die wir warten, auf die wir angesprochen durch Got­tes Barmherzigkeit als Hoffende Hinblicken. Aber beden­ken wir: die Auferstehung erfolgt jenseits des Kreuzes, das neue Leben folgt auf den Tod. Die alten Christen haben gebetet: es vergehe die Gestalt dieser Welt, und dann: es komme Dein Reich!

Verstehen wir nun die Forderung: Fugt Euch nicht in die Gestalt dieser Welt, sondern wandelt Euch! — was bedeutet sie dann konkret für uns?

Ist es nicht so, daß wir offenbar, solange wir Menschen sind, die Gestalt dieser Welt an uns tragen und die Ge­stalt der zukünftigen Welt entbehren; wollen wir etwas ablassen von der Strenge der Wahrheit — beides: der Wahrheit des Menschen, der gegenwärtigen Welt und der Wahrheit Gottes, der zukünftigen Welt; wollen wir es uns leichter machen, uns unsere Situation einfacher vorstellen dadurch, daß wir sagen: es gibt eine Mischung zwischen beiden: nun ist man sowohl alt, wie neu, wächst das eine in das andere hinein; wir würden wiederum in Täuschung hineingeraten, wenn wir nicht klar und deut­lich sehen würden: es kann sich nicht darum handeln, daß wir die Form dieser Welt sprengen, von uns ab­werfen, die Auferstehung vorausnehmen. Es gilt nicht nur für die unbekehrten Menschen, sondern auch für die bekehrten Christen: sie sind und bleiben Wesen, die in dieser Welt sich befinden, die Gestalt dieses Aeons tragen in allem, was sie tun und sind. Und ihre feinsten und ernsthaftesten und noch so wohl gemeinten Handlungen werden immer den Charakter einer Aktion dieses großen Lebenstriebes an sich tragen. Nichts ist einfacher als auch die höchsten, intimsten, christlichen religiösen Re­gungen auf diesen biologischen Nenner zu bringen, sie zu verstehen als einen Lebensakt neben anderen, der ganz unter derselben Fragwürdigkeit steht. Schuld und Ver­gänglichkeit ist die Grundbestimmung auch unserer besten Taten. Gerade hier können wir nichts anderes als be­kennen: „es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben“. Und das kann gerade erst der bekehrte Mensch sagen.

Aber als die Menschen, die das besser von sich wissen als die noch nicht durch Gottes Barmherzigkeit Ange­sprochenen, sind wir begnadigte, müssen wir uns verstehen als nunmehr geopferte Menschen, als solche, die nun die Ausgabe haben, — welche Ausgabe; —: in der Welt drin­nen etwa schon ein Stückchen neue Welt zu sein, ein Stück­chen Auferstehung, ein Engel oder so etwas, oder gar ein Stückchen Christus; Achtung! wer da zuviel will, könnte wiederum zu wenig bekommen! Darum kann es nicht gehen! Aber darum kann es gehen: in dieser Welt stehend wissen, daß das große Opfer, das für uns geschehen mußte, ge­schehen ist, daß wir heilig, gerecht, rein sind durch Jesus Christus, daß wir als die Sünder, als die Verlorenen, als Lebewesen unter anderen, berufen sind Zeugnis zu geben — Zeugnis zu geben, auf der einen Seite gegen die Gestalt dieser Welt, auf der andern Seite für die Gestalt der kommenden Welt!

Das ist der Doppelsinn unseres Tuns: nicht ein Tun, dem wir zuschreiben könnten, daß es als solches heraus­genommen wäre aus den Gesetzen dieser Welt, die zum Vergehen bestimmt ist, aber ein Tun, das in dieser Welt drin dazu bestimmt ist, Gott die Ehre zu geben. Das ist Gottes Barmherzigkeit, daß diese Möglichkeit besteht, daß wir auch als Sünder, die nichts zu rühmen haben, ihm die Ehre geben können und dürfen.

Diese Möglichkeit besteht. Es ist Gnade, daß sie be­steht, aber sie besteht. Es gibt Unterschie­de in dem, was wir tun können — keine absoluten Unterschiede, so daß eine Tat nun als solche eine Tat wäre, die der neuen Welt schon angehörte. Nein, das nicht! Sondern alle Taten liegen wie von einem Schleier zugedeckt. Aber unter diesem Schleier, unter dieser Decke gibt es Unter­schiede von größer und kleiner, höher und tiefer, besser und schlechter — irdisch relativ unter dem Vorbehalt, daß das Ganze immer noch sündig ist, unter der Schuld steht, dem Tode verfallen ist — und doch Unterschied! Man darf sich durch die Erinnerung, die wir noch einmal voll­zogen haben, an die Art, wie wir vor Gott stehen, nicht blind machen lassen: es darf nicht so sein, daß man, wie einer, der in die Sonne gesehen hat, überhaupt nichts mehr sieht. Auch wenn man nur ein Pfund und nicht fünf empfangen hat, darf man nicht sagen, ich kann nichts ma­chen, sondern mit dem Pfund soll man etwas tun. Was wir machen können, sollen wir auch machen. Unter dem, was wir Menschen tun können, gibt es Dinge, die einen Protest bedeuten können gegen die Gestalt dieser Welt, gegen sie Herrschaft dieses Lebenstriebes. Es gibt Mög­lichkeiten, wo der Mensch sich selbst widerstehen kann, wo er gegen sich selbst Gott Recht geben kann — relativ auf Erden, aber es gibt das! Und wenn nun der Mensch diese Möglichkeiten ergreift als ein von Gott Angespro­chener, der gehorchen möchte, so ist das in Gnaden ange­nommen als Gott wohlgefällig, als gut, als vollkommen. Nicht weil es an sich vollkommen ist, sondern weil er es im Gehorsam getan hat. Und es gibt Möglichkeiten, die mehr als andere voll Zeugniskraft sind, voll Hinweis, Gleichnis der künftigen Welt, der neuen Welt, des Reiches Gottes. Nicht als ob das Reich Gottes mit solchen Taten, solchem menschlichen Handeln anbräche. Man kann nicht das Reich Gottes bauen. Sondern wir wollen ehrlich sagen: da geht es um die Kirche — oder weniger theo­logisch ausgedrückt: um das Gute. Um das kann es gehen, nicht um das Reich Gottes, — aber vielleicht um die Kirche Christi, die den Kampf der Abwendung von der alten und der Zuwendung zur neuen Welt aufnehmen möchte. Es gibt Handlungen, die ein Protest, und solche, die eine Verkündigung sind. Das ist das Gute, Wohlge­fällige, Vollkommene! Und nun sagt Paulus: Es soll ge­schehen durch Erneuerung unseres Denkens, daß wir er­kennen, was Protest, was Verkündigung, was Abwendung vom Alten und Zuwendung zum Neuen ist, was Gott wohlgefällig ist, was er von uns haben möchte in dieser Welt.

„Erneuerung unseres Denkens“ nennt hier Paulus die Grundforderung, den Grundsinn alles unseres christlichen Tuns. Ich denke, ich greife nicht daneben, wenn ich das in Beziehung setze zu dem bekannteren Ausdruck: Buße: metánoia. In dieser Wendung spielt aber das Denken eine entscheidende Rolle. Die Vernunft wird eingesetzt als der Ort, wo fort und fort eine Erneuerung stattfinden soll, wo diese Wendung sich vollziehen soll: die Abwendung und die Zuwendung. Denken wir nicht gering vom Den­ken, machen wir nicht mit mit dem Antiintel­lektualismus unsrer Tage! Man kann nicht handeln ohne zu denken! Die große Forderung, die die Barmherzigkeit Gottes an uns richtet, ist primär die Forderung eines richtigen Den­kens, eines Wissens, aus dem dann das richtige Tun hervorgehen soll! Buße heißt: es muß in unserem Denken die unseren willen bewegende Erkenntnis Platz greifen, daß wir Gott dankbar zu sein haben.

Dankbarkeit ist ja nicht ein Tun, bei dem man meint, dem, dem man dankbar ist, etwas adäquat zurückgeben zu können. Das ist keine Dankbarkeit, das ist Krämergeist. Die rechte Dankbarkeit ist dort, wo man einsteht: er hat mir etwas gegeben, was ich in gleichem Werte nicht zu­rückgeben kann und muß. Wirkliche Dankbarkeit sieht in dem Geschenk immer etwas unendlich Großes, und kann nur darin bestehen, daß man wieder ein Zeichen gibt: ich habe verstanden, wie du es meinst, ich freue mich, daß du mich lieb hast, ich fühle mich dir verpflichtet, jetzt will ich es soviel ich kann, mir auch merken lassen. Dieses Sich-merken-laffen, diese Dankbarkeit ist das Opfer, das wir darbringen können. Das kann nicht heißen, etwas Göttliches tun — denn Unendliches hat Gott für uns ge­tan —, wir können nur ein Zeichen geben: ich habe es verstanden, gehört, will so zu Dir stehen, weil Du mich liebst, wenn dieser Gedanke gefaßt wird, dann findet diese Erneuerung statt. Das ist die Buße: etwas Hartes und Strenges, aber zugleich auch das Herzlichste, Innigste, was wir uns denken können. Von da aus soll es zu diesem prüfen und wissen kommen.

Und nun noch einen dritten Begriff: Bereitschaft: daß man ein Mensch wird, der auf der Wache ist, der weiß, worauf es ankommt, der gesehen hat, wie es mit dem Le­ben steht, der gehört hat, daß das große Halt! Noch nicht! gesprochen ist, zugleich aber auch das große: Fürchte dich nicht, freue dich! Dann muß man wie ein Soldat sein, der auf einen Posten gestellt ist, der wartet auf die Ge­legenheit, daß er schießen kann, wenn der Feind kommt. Oder um es biblischer auszudrücken: daß man dann zu den klugen, nicht zu den törichten Jungfrauen gehört! Diese Aufmerksamkeit ist gemeint, daß man weiß: jeder Lebens­moment ist eine Entscheidung! Jetzt kommt es daraus an, trotz meiner Torheit, Blindheit, daß ich das tue, was ich tun muß, weil Christus für mich gestorben, der heilige Geist mir gegeben ist. Das ist Erneuerung, dieses Aufpassenwollen — darauf kommts an!

Und nun wäre das der Sinn eines christlichen Lebens im Einzelnen, in den Handlungen, daß diese Besinnung fortwährend stattfinden würde, diese Erneuerung unseres Denkens! Und dann auch das Letzte nicht zu vergessen: daß wir gerade, indem wir handeln und uns verantwortlich fühlen, indem wir nicht faul sind unter Berufung auf die Gnade, ganz genau wissen: daß ich überhaupt in dieser Lage bin, etwas tun zu können, das nun gut, voll­kommen, wohlgefällig ist vor Gott, das ist nun doch lauter Barmherzigkeit, dazu braucht es nicht mich, ich kann kein christlicher Lebenskünstler werden, ich kann mir nicht mei­nen weg vornehmen nach keiner modernen christlichen Schlauheit — ich kann mich nur in jedem Augenblick zu Gott wenden und sagen: Du bist es, der mich hält, der es vollbringt. Du allein durch Jesus Christus, in Deinem heiligen Geist lebst Du das christliche Leben — und darauf hin will ich es wagen, als Mensch, als Christ auf Erden es auch zu leben!

Nun bitten wir den heiligen Geist
um den rechten Glauben allermeist,
daß er uns behüte an unserm Ende,
wenn wir fahren aus diesem Elende.

Quelle: Karl Barth, Vom christlichen Leben. Zwei Bibelstunden über Römer 12,1-2, München: Chr. Kaiser, 1926.

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