Von Kurt Walter
Wenn ich nach dreijähriger Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau der an mich ergangenen Aufforderung Folge leiste, für eine größere Leserzahl darüber etwas zu schreiben, so sei eins vorausgeschickt: nämlich, daß ich sehr starke Hemmungen habe, davon überhaupt zu reden. Einmal deshalb, weil ich nicht einfallen mag in den großen und lauten Chor derer, die nun den Dreck zurückschmeißen, mit dem sie im Lager beschmissen worden sind, die da laut klagen und anklagen und ihre bösen Erlebnisse und Beobachtungen in das schier ungläubige Staunen, in das wollüstige Interesse der Öffentlichkeit zu schieben versuchen und sich selbst und jene ganze böse Sache „interessant“ machen wollen. Sodann aber auch deshalb, weil ich meine, daß all das Böse und Schwere jener Gefangenschaft nun einmal ein wenig zurückzutreten habe vor dem, was unsere Soldaten im Kriege geleistet und gelitten haben, vor dem, was in den Ostgebieten Deutschlands sich inzwischen abgespielt hat an unvorstellbarem Hunger und grauenvoller Gewalttat, vor den auf den Landstraßen, den Eisenbahnen und Bahnhöfen herumgeisternden Elendsbildern der Ostflüchtlinge und der aus dem Osten heimkehrenden Kriegsgefangenen, vor dem Wissen, daß im Laufe dieses Winters gewiß viele Hunderttausende, vielleicht Millionen deutscher Menschen im Elend umkommen werden, wenn nicht Gott noch ganz bald ein Wunder tut. Wer all das einige Wochen lang auf der Reise an vielen Tausenden grauer Elendsbilder, die aber nur der Abschatten dessen sind, was im Hintergründe sich abspielt, und in Hunderten von Gesprächen förmlich studieren konnte, so wie ich soeben dazu Gelegenheit hatte, dem vergeht sehr gründlich die Lust zu allem anspruchsvollen Gerede über seine Erlebnisse und Leiden im Konzentrationslager. Wer von den Lesern lediglich zu den von anderen bereits gemachten Enthüllungen und Sensationen hier noch weitere erwartet, der lese diese Seiten nicht weiter! Das sei für alle Fälle vorausgeschickt.
Ich bin oftmals gefragt worden, ob das, was in Zeitung und Rundfunk, in Schriften und Vorträgen an Greueln in den Konzentrationslagern enthüllt worden ist, denn nun eigentlich wirklich wahr sei und nicht vielleicht Aufbauschung und ungeheuerliche Übertreibung zu Propagandazwecken. Darauf ist nur zu antworten: Ja, es ist leider „wirklich wahr“. An der Tatsache kann auch hier nicht vorübergegangen werden. Es hat zwar nicht jeder alles am eigenen Leibe durchkosten müssen; aber das, was inzwischen jedermann zu Augen und zu Ohren gekommen ist, alle die Untaten und Scheußlichkeiten, zu deren bloßem Ausdenken nur eine böse, verdorbene Phantasie fähig ist, all das ist leider geschehen, und zwar nicht bloß in besonderen, seltenen Fällen, sondern laufend, sowohl systematisch wie beiläufig; und manchmal lag gerade in der Beiläufigkeit einer Mißhandlung, in der gedankenlosen Selbstverständlichkeit, mit der sie geschah, die besondere Niedertracht.
Es darf aber hierbei nicht verschwiegen werden, was in allen Berichten, die ich gelesen oder gehört habe, viel zu wenig beachtet war, daß es nämlich keineswegs nur immer ff-Leute waren, die jene Scheußlichkeiten begingen, sondern daß sie weithin von Häftlingen geschahen, die einen Aufsichtsposten erlangt hatten und zur Macht gekommen waren und sich ihren Posten nun durch besondere Grausamkeit und „gewissenhafte“ Durchführung der ff-Methoden zu sichern suchten. Ich weiß von Häftlingen, welche das Leben von vielen Hunderten von Kameraden auf dem Gewissen haben. Ich erinnere mich von fern her eines Sprichwortes, welches dem Sinne nach besagt, daß ein Sklave, wenn er zur Macht gelangt, zu einem böseren Tyrannen wird, als sein Herr es war. Das Leben im Lager mit seinen Praktiken hat die Richtigkeit dieses Wortes vielfach bestätigt.
Im Lager ging der Teufel um, wirklich der Teufel mit seinen Dämonenscharen. „Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Wer aber Gott abgesagt hat und sich vor Gottes Angesicht verbirgt, der wird dafür die Dämonen zu sehen kriegen, der wird denjenigen Gewalten begegnen, ja die werden über ihn kommen, die das Bild Gottes im Menschen höhnisch verzerren, um es zu zerstören.
Das hat das deutsche Volk an sich selbst erleben müssen. Es hatte Gott, den Herrn, der in Jesu Christo, seinem Sohne, sich der Welt offenbart und sein Angesicht gezeigt hat. abgeschafft oder hatte wenigstens ohne viel Kummer zugesehen, wie die Machthaber ihn für das Volk abschafften, und hatte sich neue Götter angeschafft, hatte angefangen, Menschen zu vergöttern und Menschen und menschlichen Befehlen bedingungslos zu vertrauen und zu gehorchen. Und auf einmal, als es schon zu spät war, wurde es gewahr, daß es höllische Dämonen waren, denen es ins frauenhafte Angesicht blickte. Aber vorher war für den, der sehen konnte, zu sehen gewesen, wie das ansteckte, wie das übersprang vom einen auf den anderen, wie das die Masse ergriff und wie mancher harmlose, gutherzige Familienvater, der bis dahin ruhig seinen ordentlichen Weg gegangen war, auf einmal seinen göttlichen Ursprung und seine göttliche Bestimmung und sein göttliches Ebenbild vergaß und preisgab und selbst die Frage der Dämonen annahm und zeigte. Anders sind die fürchterlichen Massenverbrechen an Juden, Polen, Tschechen, anders ist das grauenhafte Blutsäufertum, anders ist das ganze bedenkenlose Zerbrechen und Zertrampeln alles Rechtes einfach nicht zu verstehen, weil da ja alle vorhandenen moralischen und psychologischen Maßstäbe einfach gesprengt und zur Erklärung und Beurteilung unbrauchbar geworden sind.
Auch das, was in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches geschehen ist und sich abgespielt hat, kann man wohl überhaupt nur dann verstehen, wenn man davon ausgeht, daß das sein kann: daß Dämonen losgelassen sind und auf der Erde und mit den Menschen ihr böses Spiel, ihr Unwesen treiben.
Das Konzentrationslager war eine Anstalt mit dem unverhohlenen, klaren Zweck, Menschen zu vernichten: schnell, durch mörderische Gewalttat, oder langsam, durch allmähliches Umkommenlassen — je nachdem, wobei höchstens noch einige Nebenzwecke eine Rolle spielten, z. B. die Arbeitskraft bis zu ihrem Ende auszuschöpfen, oder wissenschaftliche Experimente mit den Gefangenen anzustellen, welche oft genug tödlich, niemals aber ohne gesundheitlichen Schaden abliefen. Die Konzentrationslager waren die großen Kehrichthaufen der Menschheit Europas. Es war buchstäblich so, wie der Prophet Jeremia weissagt: „Der Menschen Leichname sollen liegen wie der Mist auf dem Felde“ (Jeremia 9, V. 21).
Wir waren nichts als Nummern, jeder die Nummer, die er sich an seinen Anzug hatte annähen müssen; es wurde uns auch gleich nach unserer Ankunft auf dem Zugangsblock gesagt, daß wir Nummern seien; aber „schlechte Nummern“, „Nieten“ seien wir. Und in der Tat waren wir bar jeglichen Rechtes der Persönlichkeit auf Ehre, Freiheit, Menschenwürde. Wessen Leben aber jahrelang als wertlos, ja als schädlich an dem Rande der Welt entlanggeschoben wird: mag es doch abstürzen! — wer jahrelang in Lumpen gekleidet ist und wem jahrelang gepredigt wird, daß er ein Lump sei und ein Schwein, der Abschaum und Auswurf der Menschheit, den mag in einem labilen, gleichsam ungeschützten psychologischen Augenblick, etwa schon gleich in dem Augenblick, in welchem zum ersten Male die Gefängnistür oder das Lagertor hinter ihm zufällt, mit dem Dröhnen seine gesamte Existenz, auch seine innere Existenz erschütternd und ins Wanken bringend — in einem solchen Augenblick, der sich immer einmal auf die eine oder auf die andere Weise wiederholte, mochte ihn wohl einmal der Zweifelsgedanke befallen, ob da nicht vielleicht etwas daran wahr sei, ob er denn eigentlich recht getan habe mit dem, was ihn an jenen Ort geführt, ob er nicht vielleicht wirklich ein Lump sei, eine auszuscheidende Nummer, unwert der Beachtung und jeglichen Erbarmens, von Menschen nicht bloß, sondern auch von Gott verlassen. Jawohl, wir haben manches Mal Grund gehabt, ernstlich auf uns Acht zu geben, daß wir nicht dahin stolperten und fielen, wo man uns hinstoßen wollte. Solche Augenblicke des Verlassenseins von Gott mögen es wohl auch gewesen sein, als am Ende denn auch in Dachau jene paar Fälle geschahen, in denen Hunger, Elend und körperliche und seelische Heruntergekommenheit letzte menschliche Schranken fallen ließ und einfach die nackte Kreatur, ja die Bestie, zum Vorschein brachte, die ihresgleichen anfraß.
Und doch war das: solches Denken wie solches Abstürzen, war jene ganze böse Zeit nur ein Augenblick, ein „kleiner Augenblick“, der Augenblick Gottes, der da spricht: „Ich habe Dich einen kleinen Augenblick verlassen“, der aber gleich danach spricht: „Aber mit großer Barmherzigkeit will ich Dich sammeln“; der da spricht: „Ich habe mein Angesicht im Augenblicke des Zornes ein wenig vor Dir verborgen“, der aber gleich danach tröstet: „Aber mit ewiger Gnade will ich mich dein erbarmen“; der wohl eine Welt, die wir uns kunstvoll aufgebaut haben, um uns ein- und über uns Zusammenstürzen läßt: „es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen“, der aber mitten zwischen den Trümmern unserer Existenz bei uns steht mit dem Worte, das da bleibet in Ewigkeit: „Aber meine Gnade soll nicht von Dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen“.
. . . Doch nun sei hier bezeugt: wem sich das Angesicht Gottes in Jesu Christo, seinem Sohne, zugewandt hatte und wer umgekehrt sich dem Angesichte Gottes in Gottes Wort und in seinem Sakrament zuwandte, der hat auch im Lager dann doch immer wieder das Bild Gottes im Menschen sehen und erkennen können. Menschen haben uns unwert geachtet. Aber Gott hat uns Menschen alle so wert geachtet, hat uns „also geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab“, hat auch uns im Lager in unserer Niedrigkeit, in unserer Schmach, in unserem Verachtet- und Ausgestoßensein gnädig heimgesucht und — nicht, weil wir es von uns aus wert waren, sondern um seines Sohnes willen — sich zu uns bekannt als unser Vater. Wir, die wir nach Leib und Seele — ja, auch nach der Seele — einem langsamen Sterben überantwortet waren, wir, unser Leib und unsere Seele, haben davon gelebt, wirklich davon gelebt, daß immer wieder Gottes Wort, seine Zusage und Verheißung, zu uns kam.
An kleinen Dingen, die für uns aber den Tag, das Leben bedeuteten, ist uns das immer wieder aufgegangen. Wir haben auf so engem Raume gelebt, wie wir es früher alte nicht für möglich gehalten hätten; die enge, die immer und überall unausweichliche, jeden einzigen Schritt hemmende, drängende Menschenfülle, die gänzliche Unmöglichkeit Jahre hindurch, auch nur einen einzigen Augenblick und irgendwo einmal allein zu sein, war eine der ärgsten körperlichen Plagen und nervösen Belastungen des Lagerlebens, die die Nerven reizte und spannte und auf die Dauer das Gemüt verärgerte. Aber wie oft ist da zu mir das Psalmwort (31, V. 9) gekommen: „Du stellest meine Füße auf weiten Raum!“ Und ich habe erfahren dürfen, wie Gottes Wort in seiner ganzen Unwahrscheinlichkeit dennoch Wahrheit wird für den, der dem Worte glaubt und sich ihm anvertraut, habe spüren dürfen, wie der unsagbar enge Raum weit wurde unter dem zuerst mit zagendem Zweifel und dann mit zunehmendem Glauben gebeteten Wort: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“, es ist unmöglich, aber Du kannst es, Du tust es, „Du stellest meine Füße auf weiten Raum.“
Es ist uns ganz ernst und volle, deutliche Wirklichkeit geworden, was geschrieben steht: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.“ Und der inmitten von Hungersnot, Seuchen und Gewalttat, inmitten von zehntausendfachem Sterben der Menschen und in eigener Todeskrankheit immer wieder wunderbar bewahrt blieb, der hat mit Furcht und Zittern und auf den Knien gelernt, was das für den Jünger Christi wohl einmal heißen mag: das Wort, das der Herr Christus seinen Jüngern mitgegeben hat auf den Weg, als er sie sandte „als die Lämmer mitten unter die Wölfe“ und das wir, wenn wir zu Zweien gingen, manchmal einer dem andern aufgesagt haben, das ebenfalls ganz unwahrscheinliche Wort: „Sehet, ich habe Euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und über alle Gewalt des Feindes, und nichts wird Euch beschädigen“ (Lukas 10, V. 19); der hat auch gelernt, was das für den Jünger Christi wohl einmal heißen mag, das andere Wort, welches einst die Jünger ihrem Herrn antworteten, als er sie fragte: „So oft ich Euch ausgesandt habe ohne Beutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt Ihr auch je Mangel gehabt?“ Sie sprachen: „Nie, keinen!“ i
Und dazu haben wir gelernt, was ja unser ganzes Volk und insonderheit unsere Ostflüchtlinge nun auch unter Schmerzen lernen müssen: nämlich mit wie wenig Gepäck man im Leben auskommen kann. Wir waren wirklich arm, und unser irgendwie zusammengebrachtes bißchen armseliges Zeug, das wir eifersüchtig hüteten, wurde uns dann auch noch gelegentlich von unseren Wächtern geraubt. Aber wir konnten dann auch mit besserem Verstehen den Vers singen: „Man muß wie Pilger wandern, / frei, bloß und wahrlich leer; / viel sammeln, halten, handeln / macht unsern Gang nur schwer. / Wer will, der trag’ sich tot! / Wir reisen abgeschieden / mit wenigem zufrieden. / Wir brauchen’s nur zur Not.“ Freilich, ach, wir waren nicht immer zufrieden; wir waren manchmal zornig und begehrlich; aber ich weiß heute, wie gut es uns war, daß Gott uns in den Ernst und in die Zucht seiner Prüfung genommen hat.
Ich weiß auch, daß wir, die wir im Lager gebetet haben, ganz anders als bis dahin, viel, viel ernster, viel wahrhaftiger die vierte Bitte des Vaterunsers beten gelernt haben: „Unser täglich Brot gib uns heute!“, und wie diese unsere Bitte täglich sinnfällig ihre Erhörung gefunden hat.
Ich weiß von Stunden einer Nacht zu sagen, da ich krank lag zum Tode und von den Strohsäcken zu meiner Rechten und meiner Linken und über mir das Todesröcheln der von der gleichen Seuche befallenen Kameraden vernahm, bis es jedesmal still geworden war und immer einer nach dem anderen mit rohem Griff und unter rohem Wort hinausgetragen wurde, und wie die Angst der Kreatur mich gefangen nahm und ich beten wollte, und wie ich „nicht wußte, was ich beten sollte, wie sich’s gebührt“, und wie ich wie mit ausgestreckten Armen nach dem Gebet des Herrn griff und es in meine Hände faltete und das Vaterunser zu beten begann: einmal, noch einmal, wieder und immer wieder, eine Stunde lang und länger, immerzu das Vaterunser, einen ganzen evangelischen Rosenkranz, und wie ich spürte, daß „der Geist meiner Schwachheit aufhalf“ und mich „aufs Beste vertrat mit unaussprechlichem Seufzen“ und daß Gott längst seine Engelwache um mein Lager gestellt hatte.
Ich weiß, wie wir dadurch getragen wurden, davon gelebt haben, daß unsere Lieben daheim, daß unsere Gemeinden, daß eine ganze Kirche für uns gebetet hat, und was uns das an Trost und an Kraft bedeutet hat und wie uns das reich und froh gemacht hat; und aus vielen Heimatbriefen an mich und an die Brüder weiß ich, wie auch unsere Fürbitte für unsere Gemeinden die Jahre hindurch den Weg zu ihnen hingefunden und wieder zu uns zurückgefunden hat.
Ja, die im Lager gebetet haben, wissen, daß sie wahrhaftig davon gelebt haben, daß sie das Gebet hatten und daß sie Gottes Wort und das Sakrament hatten. Als Neulinge auf dem Zugangsblock, auf dem wir noch ohne Gottesdienst und ohne Bibel waren, haben wir an uns selbst gemerkt, daß wir ohne Gottes Wort nicht leben konnten, und haben uns Stücke aus der Heiligen Schrift aufgesagt und einander eingeholfen, wenn einer angefangen hatte und auswendig nicht weiter wußte.
Freilich, ich will uns nicht als Heilige aufspielen und als Märtyrer. Nein, wir waren keine Heiligen, wirklich nicht! Wir waren oft sehr anders als Heilige, wir waren manchmal sehr verzagte Menschen; uns sind oft genug die Nerven gerissen, und manches böse Mal zerbrach uns alle geistliche Haltung; mehr als einmal beherrschten Ungeduld mit den Brüdern und nervöse, hysterische Ausbrüche, ja selbst Neid und Hartherzigkeit das Feld, daß wir viel Grund hatten, uns zu schämen. Aber wir haben dann auch immer wieder vor uns selbst und unserem Herzen, diesem „trotzigen und verzagten Ding“, die Flucht angetreten in die Gemeinde unter das Wort, unter das Wort der Vergebung und des Trostes.
Das war ja im Lager der ganz große Vorzug, den wir Pfarrer genossen, daß wir füreinander Gottesdienste halten durften, zu denen sich gegen einen ausdrücklichen Lagerbefehl freilich auch andere Kameraden heimlich hinzufanden. Und inmitten der Hoffnungslosigkeit, Gefährlichkeit und grauen Öde des Lagerlebens waren unsere Sonntagsgottesdienste und Abendmahlsfeiern, auch wenn da mitten hinein „antreten!“ geschrien wurde, und unsere täglichen Morgenandachten, auch wenn wir sie draußen in Wind und Regen an irgendeiner zugigen Ecke unserer Baracke halten mußten, dennoch die wahrhaftigen Lichtstunden, die wohl wieder ein Stück Weges leuchten konnten und geleuchtet haben. Und selbst auf jenem Hofe des Reviers vor der Leiche eines lieben Bruders in einer Umgebung, deren Schauer und Grauen selbst dein alten Feldsoldaten die Sprache schier verschlug und in der wir paar Brüder, die wir wie die Diebe dort hingeschlichen waren, herumstanden, ein dürftiges, armseliges, verkümmertes Häuflein Menschen — selbst dort konnte ich, wenn auch heimlich, den auferstandenen Christus und die Hoffnung der Auferstehung und des ewigen Lebens verkündigen, und das Licht von Ostern fiel auf all den Graus. — Und ich weiß auch, daß jenen unheimlichen Todeszügen der morituri, der zum Tode Bestimmten, welche je und dann durch das Lager wankten und draußen im Dunkel verschwanden, um nirgends wieder aufzutauchen, manches angstvoll und doch zugleich trostvoll gebetete stille Vaterunser nachgefolgt ist.
Es ist müssig, darüber nachzudenken, wer wohl mehr gelitten, ausgehalten und durchgemacht hat: die Soldaten im Felde, oder die Gefangenen in den Konzentrationslagern. Aber ein Unterschied war da jedenfalls: wir in den Konzentrationslagern haben — wenn denn von Leiden geredet werden soll — „gelitten außen vor dem Tor“ (Hebräer 13, V. 12), d. h. wir waren von unseren Familien, von Weib und Kind, von Volksgenossen und Gemeinde, von all dem waren wir nicht bloß eben getrennt, sondern wir waren aus der Familie, aus der Volksgemeinschaft, ja überhaupt aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, wurden schon vor der Verhaftung sogar in der Kirche, ja hier und da in der eigenen Gemeinde mit Mißtrauen und vorsichtiger Zurückhaltung behandelt, waren weggeworfen auf den Schindanger, auf den Aashaufen der Völker. Und man kann uns schon glauben, daß uns das geschmerzt hat. Es hat uns weh getan, und ich wüßte von mancher Gelegenheit zu sagen, wo mir nicht bloß verhaltener Grimm, sondern wo mir die Scham das Blut ins Gesicht getrieben hat.
Aber da hat dann schließlich und auf die Dauer etwas ganz anderes förmlich durchgeschlagen, nämlich das Gedenken daran, daß ja auch der Herr Christus gelitten hat „außen vor dem Tor“, vor den Toren der Königsstadt, die sich zum Feste rüstete, gelitten auf Golgatha, der Schädelstätte der Verbrecher, als ein Ausgestoßener, der nicht mitfeiern durfte, obwohl gewiß auch er „gern wollte hingehen mit dem Haufen und mit ihnen wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken unter dem Haufen, die da feiern“ (Psalm 2, V. 5), gelitten als Einer, der da „hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte; er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn nicht geachtet.“
Und das Gedenken daran vermochte das aufbegehrende Herz still zu machen; freilich nicht, weil man sich mit Jesus nun vielleicht doch wieder sozusagen in guter Gesellschaft befand, sondern weil wirklich „die Schmach Christi“ größerer Reichtum ist, denn die Schätze Ägyptens“ (Hebräer 11, V. 26). Nein, es war keine Ehre damit einzulegen, und ich will auch jetzt lieber keine Ehre davon haben, ein Häftling des Dritten Reiches gewesen zu sein; was uns da jetzt zuweilen entgegengebracht wird, das will mir manchmal vorkommen wie eine unanständige Ehre, und ich will lieber bleiben in der „Schmach Christi“, die seinen Jüngern wahrhaft ansteht. Denn ich habe mit tiefem Dank gegen meinen Erlöser zu bezeugen, daß es seine Schmach war, von der ich drei Jahre lang gelebt habe, jawohl: gelebt von der Schmach Christi, sonst wäre ich vielleicht auch unter den vielen, die sich im Laufe der zwölf Jahre auf den Hochspannungsdraht geworfen haben, der um das Lager gezogen war.
Als ein Gefangener der Menschen, damit wir frei würden, als unser Bruder, der unser Heiland wurde, ist ja Christus den Weg gegangen, der auch unsere Füße müde machte, mühte sich mit der Arbeit, die auch unsere Hände schmutzig und schwielig und blutig werden ließ, litt unsern Hunger und Durst, unsere Krankheit, Müdigkeit und Erschöpfung, trug sich mit der Sorge und Not, Enttäuschung und Angst, die auch unsere Herzen unruhig und wund machte, mit dem Schmerz und der Traurigkeit und Sehnsucht, die auch unsere Augen übergehen ließ, mit der Qual, die auch unsere Leiber sich aufbäumen und unsere Seufzer der Brust entströmen ließ. In diejenige letzte Tiefe ist Christus für uns alle hinabgestiegen, wo alle menschliche Größe und Herrlichkeit und Großartigkeit längst vergangen und zu Ende ist, wo kein großes, feines Wort, kein schöner, seliger Klang mehr gehört, kein großer, herrlicher Gedanke, auch kein „religiöser Gedanke“, mehr vernommen, aufgenommen, angenommen wird, wo der Mensch nichts, gar nichts anderes mehr ist, als der Mensch einfach in seiner Not, der getretene Wurm, die in der Angst und Qual sich windende Kreatur, die nichts anderes mehr weiß als dies: „Mich dürstet!“ und „Warum verlassen?“ — in diese letzte Menschentiefe ist Christus, als er am Kreuze hing, für uns und mit uns hinabgestiegen, auf daß er unser Heiland würde und „ein treuer Hoherpriester vor Gott“. Und weil im Konzentrationslager diese Tiefe der Raum war, in welchem wir oft genug uns vorgefunden haben, darum haben wir, soweit wir Christo angehörten, auch die Gnade gekostet, Ihm zu begegnen und die Spur Gottes zu entdecken und ihr zu folgen. Denn Gottes Spur auf Erden war in Christo eine Blutspur. Und ist doch zugleich die Leuchtspur, die den Weg von der Erde zum Himmel weist.
So darf denn am Ende jener bösen Zeit der Dank stehen und das Lob Gottes. Nicht der Wunsch nach Vergeltung und das Gefühl der Rache. Allein Dank für tägliche Bewahrung und endliche Errettung — und für die heilsame Züchtigung Gottes. Denn daß war es freilich: Züchtigung für unsere Sünde. Nicht so, daß Menschen Recht und Vollmacht gehabt hätten über unser Tun, das uns ins Lager gebracht hat, jene Züchtigung zu verhängen. Aber Gottes Züchtigung haben wir in dem, was uns auferlegt wurde, zu erkennen.
Die Kirche hat in unseren Tagen manchen Vorwurf zu hören, weil sie in dem Unheil, das über unser Volk gekommen ist, Gottes Gericht verkündet und das Volk zur Buße ruft. „Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören!“ Aber wenn nun einer, nein, gebe Gott, mancher, der seine Jahre im Konzentrationslager zugebracht hat und also kaum verdächtig ist, gerade die besonderen Sünden des Nationalsozialismus mitgetan zu haben, sich nun mit unter jenes Gericht Gottes stellt und bekennt, daß es auch seine Schwachheit, sein matter Glaube, sein trotzallem noch viel zu leises Reden, sein Zweifel und seine Menschenfurcht, seine Untreue gegen Gott und Menschen, daß es seine große Sünde war, über die Gott sein hartes Gericht bringen mußte, und wenn er bekennt, daß gerade die harte Zeit im Lager Gottes Gericht über ihn war und eine notwendige, heilsame Züchtigung, mit der Gott ihn geliebt hat und ihn zu sich gezogen hat aus lauter Güte, ob dann wohl solches Zeugnis ein wenig dazu hilft, daß unserem Volke die Augen sich öffnen und es seine Schuld erkennt und Gottes Gericht und daß es endlich in die Buße gehen will? Gott in seiner Gnade schenke das unserem Volke!
Von mir weiß ich, daß Gott mich hat richten und züchtigen wollen, als er mich den Weg ins Lager geführt hat, und ich will fest daran glauben, daß er mich um des allein unschuldigen Leidens und Sterbens seines Sohnes willen begnadigt hat. Und darum bin ich ohne Bitterkeit im Herzen durch das Lagertor hinausgeschritten in die Freiheit und bin durch den Frühlingstag gegangen mit tiefem Atmen und mit lauter frohem Dank. Und noch einmal kam das Wort zu mir: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“
Quelle: Kurt Walter, Gott im Konzentrationslager, Stuttgart-Zuffenhausen: Verlag Evangelischer Weg, 1946.