Wie frei ist unser Wille wirklich?
Von Gerhard Sauter
„Gottes Wille ist die Freiheit des Menschen“: auf diese einprägsame Formel brachte mein Bonner Kollege Josef Simon, ein Philosoph Kant’scher Prägung, die Beziehung zwischen Theologie und Philosophie. So werden viele die Quintessenz christlicher Freiheit ansehen. „Zur Freiheit hat euch Christus befreit – lasst euch nicht unter ein fremdes Joch zwingen, legt euch nicht ein fremdes Joch wieder auf“: so umreißt Paulus in Gal 5,1 die Freiheit des Glaubens, die an Christus gebunden ist. Gott will, dass wir frei sind. Würde Unfreiheit dann bedeuten, dass wir uns nicht selbst bestimmen können? Dass wir bevormundet sind, vielleicht gar getrieben, wenn wir meinen, unser Leben treiben und betreiben zu können? Ist Unfreiheit gleichbedeutend mit Fremdbestimmung, zumindest mit einer Begrenzung unserer Wahlmöglichkeiten?
Wir kommen der Freiheit des Glaubens wohl am ehesten auf die Spur, wenn wir fragen, wo wir ihr Gegenteil auffinden. Aber ist das ohne weiteres möglich? Vielleicht gelingt es eher, jene Gleichstellung von Gottes Wille und menschlicher Freiheit – das vieldeutige „ist“ in der Wendung „Gottes Wille ist die Freiheit des Menschen“ – genauer unter die Lupe zu nehmen und zu erwägen, was sie gerade nicht besagen kann.
Dürften wir etwa sagen: „Gottes Wille erschöpft sich in der Freiheit des Menschen“? Geht Gottes Wille in der Freiheit des Menschen auf? Oder tritt er nur in menschlicher Freiheit in Erscheinung? Können wir Gottes Willen nicht anders erkennen als in der Freiheit, mit der wir ausgestattet sind? Dann wäre Gottes Wille zwar nicht gerade in dieser Freiheit aufgegangen, aber wir könnten von ihm nur im Blick auf diese Freiheit sprechen. Dies betrachten viele Menschen heute, auch in der Kirche, als die einzige Möglichkeit, von Gott zu reden: Gott ist Grund der Freiheit, auf die wir aufgebaut sind, und er kann nur in ihr wahrgenommen werden. – Gottes Wille ist die Freiheit des Menschen könnte aber auch bedeuten, dass Gott den Menschen, jeden Menschen, in die Freiheit entlassen hat: die Menschen als „die ersten Freigelassenen der Schöpfung“, wie ein Büchlein von Jürgen Moltmann überschrieben ist. Dann bliebe Gott nichts mehr zu tun übrig, als gleichsam mit verschränkten Armen zu sehen, was Menschen mit ihrer Freiheit anfangen, was sie anrichten, was sie ausrichten und vielleicht auch verbiegen und verderben. Gott als der kritische Begleiter und kommentierende Betrachter menschlicher Freiheit: darauf ist die Rede vom Handeln Gottes oftmals reduziert worden. Doch hat uns Gott losgelassen, indem er uns Freiheit schenkte? „Wehe, wenn sie losgelassen“: so hat Friedrich Schiller im „Lied von der Glocke“ allerdings nicht die Menschen, von deren Freiheit er sehr viel hielt, sondern die ungebändigten Elemente beschrieben. Doch entfesselte Menschen können weit größere Schrecken in die Welt setzen.
Welche Freiheit meinen wir also, von der wir annehmen, sie sei dem Willen Gottes entsprungen und uns gegeben, damit wir uns in unserer Welt zurechtfinden? Wo entdecken wir sie und ihre Gefährdung?
Wenn wir uns als diejenigen erfahren möchten, die in die völlige Freiheit entlassen worden sind, dann bliebe uns allein auch die Verantwortung für alle Folgen unseres Tuns und Lassens überlassen. Können wir aber diese Folgen sämtlich und in ihrem vollen Ausmaß überblicken? Sie reichen ja über unseren Tod hinaus! Nur wenn wir sie alle einkalkulieren könnten, vermöchten wir unbeschränkt verantwortungsvoll handeln. Der Philosoph Hans Jonas hat dieses Junktim von Verantwortlichkeit und Freiheit eindrücklich in seiner Programmschrift „Das Prinzip Verantwortung“ skizziert. Dort taucht als Gegenspieler menschlicher Freiheit eine Determination auf, die von uns Menschen verursacht worden ist, ein geradezu schicksalhafter Zwang, der auf uns zukommt, der nicht hinter nur uns steht und uns lähmt, sondern der die Zukunft unabwendbar beherrscht. Das Schicksal kommt uns in den Folgen unseres eigenen Tuns oder Unterlassens entgegen; das muss ja nicht gleich die ökologische Weltkatastrophe oder der atomare Winter sein, doch die Feinstruktur unserer Selbstbestimmung tritt uns in vielen Nebenwirkungen und Krisen entgegen. Craig Venter – ein Forscher, der zur Entschlüsselung des genetischen Codes erheblich beigetragen hat und am 14. März 2002 den Paul Ehrlich-Preis erhielt – stellte die Prognose, dass es jedem Menschen möglich werden könnte, die totale Kontrolle über sich selbst zu erhalten; doch was aus diesem Menschen dann wirklich wird, vermochte er nicht zu sagen. Dank der Gentechnik erleiden wir eine Freiheit, die zu unserem größten Leidwesen werden könnte. Ein anderes Beispiel: Viele junge Menschen von heute scheuen vor der Partnerwahl zurück, weil sie allzu viel überblicken und einkalkulieren wollen. Sie riskieren es nicht, in eine Bindung einzugehen, und möchten sich lieber auf Optionen hin miteinander verständigen. Oder die Berufswahl ist für manche, die sich zwischen vielen Chancen entscheiden können, so schwierig geworden, weil sie eine Überfülle von Folgeerscheinungen vor sich sehen, die sie nicht glauben bewältigen zu können. Der Esel, der verhungert, weil er zwei gleich große und gleichermaßen appetitliche Heuhaufen in gleicher Entfernung vor sich sieht – die klassische philosophische Figur für das Dilemma einer Entscheidungsfreiheit – ist gleichsam durch eine Party ersetzt worden, die sich von einem überreichen Büfett nicht mehr selber bedienen kann, vor allem wenn sie berücksichtigen will, was von dem Angebot genetisch verändert worden ist oder andere gesundheitliche Risiken in sich birgt.
Könnte Freiheit vielleicht daher rühren, dass wir eine Offenheit riskieren und den Blick für manche – manche, beileibe nicht alle! – Nebenwirkungen und Folgen verschließen müssen, damit wir vermeiden, uns mit dem Unabsehbaren zu beschäftigen und unversehens handlungsunfähig zu werden? Mir ist bewusst, dass dies eine risikoreiche Frage ist, die keinesfalls dazu herhalten darf, verantwortungslos zu handeln. Aber könnten wir vielleicht dazu befreit werden, dass uns eine völlige Übersicht genommen wird, die uns so bedrückt, dass sie uns auf uns selbst zurückwirft? Gottes Wille kann unsere Freiheit nur soweit sein, dass diese Freiheit sich auf Gottes Willen verlassen kann.
Eine weitere Beobachtung: Das große Thema europäischen, dann noch stärker des nordamerikanischen Denkens im 18. und 19. Jahrhundert war die Entdeckung individueller Freiheit, zunächst im Sinne der Autonomie, der Selbstbestimmung, die jede Fremdbestimmung abschüttelt, alsbald aber auch die Entdeckung von Freiheit als der dialektischen Gegenspielerin der Notwendigkeit, also all dessen, was unbedingt sein muss: Freiheit ist begriffene Notwendigkeit, die in die eigene Hand genommen werden kann, weil und sofern sie durchschaubar ist. Im Namen dieser Entscheidungsfreiheit – so lautete die Parole – gilt es, gegen überkommene und undurchschaubare Abhängigkeiten anzugehen. Denn nach wie vor lauert die Gefahr, dass Menschen zum Treibgut werden, wenn sie nicht begreifen, dass sie mit dem Strom der Geschichte schwimmen müssen, um nicht weggespült zu werden. Wer die Richtung der Strömung inmitten des Wirbels von Geschehnissen nicht erkennt und sich nicht an sie hält, droht unterzugehen. Menschlich-allzu menschliche Kräfte reichen nur eine Zeitlang aus, gegen einen Stromverlauf wirksam anzukämpfen, so unverzichtbar dies gelegentlich sein mag. Auf Dauer gilt es einzusehen, dass keine Fortbewegung möglich ist, die gegen den Strom der Zeit arbeiten will. Notwendigkeit kann nur beherrscht werden, soweit sie als solche anerkannt wird, denn entrinnen können wir ihr nie.
Eine weitere Freiheits-Erfahrung, die ernüchtert: Entdeckungen von Spielräumen des Handelns haben ihren Preis. Wir können es schwerlich aushalten, für alles allein einstehen zu müssen. Oft genug müssen wir eingestehen, dass wir, obwohl oder gerade weil wir das Beste gewollt haben, anderes herausgekommen ist, vielleicht sogar das Gegenteil dessen, was wir anstrebten. Denn andere waren mit im Spiel. – Dies kann zur Ausrede werden: Ich rede mich aus meiner Allein-Verantwortung heraus, ich entschuldige die Diskrepanz zwischen meinem besten Wollen und dem mageren, vielleicht enttäuschenden, womöglich gar äußerst bedrückenden Ergebnis damit, dass „ich nichts dafür konnte“, zumindest nicht für alles. Ausrede und Entschuldigung, die andere und anderes belastet, sind offensichtlich aufs engste mit der Erfahrung von Freiheit und deren Grenzen verbunden.
Auch die Auskunft der Tiefenpsychologie, wir seien nicht Herr im eigenen Hause, das Unbewusste spiele uns immer wieder Streiche, welche die Rechnung unserer Entscheidungsfreiheit durchstreichen: auch dies kann zur Ausrede werden. Wir reden uns auf Fremdeinflüsse und Triebkräfte heraus, die wir mit unserer sozialen Genese in uns aufgenommen haben, ohne sie immer kontrollieren und noch weniger einkalkulieren zu können. Die Herrschaft im eigenen Selbst muss immer wieder errungen werden; auch sie ist begrenzt, und wenn sie durchgesetzt werden soll, geht dies nicht ohne Verletzungen anderer ab. Philosophen wie Peter Bieri[1] („Das Handwerk der Freiheit“) beruhigen uns dann mit der Versicherung, normalerweise seien wir doch durchaus Herr im eigenen Hause, wir könnten uns darin bewegen, ungehindert von dem, was uns im Tiefsten beeinflussen mag, wenn wir auch im Grenzfall spüren, dass wir uns mit anderen, unserem Willen fremden Kräften auseinanderzusetzen haben. Doch im Alltag können wir nicht ohne die Annahme auskommen, Herr im eigenen Willens-Haushalt zu sein. Wir beherrschen uns, indem wir damit beschäftigt sind, unsere ererbte Anlage mit unserer Umwelt auszugleichen. Anders könnten wir gar nicht leben, und dieser Balanceakt beansprucht uns oft mehr, als wir annehmen.
Die Beschreibung der Phänomene erfahrener Freiheit geht in eine Aufforderung über: die Aufforderung, sich so zu verhalten, als ob unser Wille frei wäre. Es kostet eine große Anstrengung, sozusagen zweigleisig zu denken: Unsere Handlungen verdanken sich einerseits der stetigen Balance zwischen Triebkräften und Umweltbedingungen (wie es uns der Sozialdarwinismus glauben macht), unser Leben vollzieht sich in der Auseinandersetzung zwischen dem, was wir mitbringen, und allem, was wir vorfinden. Anderseits müssen wir auf unsere Entscheidungsfreiheit hin ansprechbar sein, damit wir – um mit Kant in der Umdichtung von Goethe und Schiller zu reden – „können, weil wir sollen“.
Sind wir durch diese und ähnliche Beobachtungen auch schon auf die Frage vorbereitet: „Können wir glauben?“ „Sind wir frei, dies zu tun?“. Oder ist dies eine ganz anders geartete Frage? (Sie darf nicht mit der Forderung nach Glaubensfreiheit als einem Menschenrecht verwechselt werden!)
Das Phänomen der Ausrede, der Entschuldigung scheint jedenfalls für viele ihre Antwort auf diese Frage vorzugeben. Dann nämlich, wenn sie „glauben“ als eine Art Wahl zwischen zwei Möglichkeiten auffassen: Entweder kann ich glauben, nichts und niemand hindert mich daran – oder ich kann einfach nicht glauben, nichts kann mich dazu bewegen, oder noch schlimmer: es gibt, jedenfalls für mich, viel mehr Gegengründe als Gründe zu glauben.
Gerade dies: dass „glauben“ von einer Entscheidung abhänge, die volle Freiheit dazu voraussetze, war einer der großen Streitpunkte der Reformation, zumal zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Es war eine Zeit, in der allenthalben das Wort „Freiheit“ erklang; überkommene soziale Ordnungen wurden in Frage gestellt, in Luthers Kritik an kirchlichen Mißständen sahen viele das erste Anzeichen eines Aufbruches zu persönlicher Freiheit. Neue Freiräume wurden entdeckt, auch außerhalb der Kirche. Die Reformation schien eine Zeit der Freiheit einzuläuten, deren Ausmaße noch gar nicht abgesehen werden konnten. Bereits 1520 sah sich Luther genötigt, in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ den Charakter christlicher Freiheit klarzustellen. Luthers Theologie und Seelsorge ist weitgehend ein Kampf um das rechte Verständnis christlicher Freiheit gewesen: nicht nur der Glaubensfreiheit, sondern ebenso der Freiheit des Handelns aus Glauben. Die Spitze seiner Bemühung war die Gegenschrift auf die Verteidigung menschlicher Willensfreiheit, die Erasmus unter dem Titel „De libero arbitrio diatribe sive collatio“ 1524 in Basel veröffentlich hatte.[2] Auch Erasmus hatte in reformerischem Interesse geschrieben, allerdings aus der Sicht eines Humanisten, der kirchliche Reformen und geistige Neuordnung durch kritische Besinnung auf antike philosophische und christliche Traditionen erreichen wollte. Luther sah sich plötzlich in einen Zweifrontenkrieg verwickelt, denn 1525 brach auch der Bauernaufstand aus, und dessen theologische Anführer warfen Luther vor, die sozialpolitischen Folgen christlicher Freiheit viel zu gering einzuschätzen und die Radikalität des Evangeliums zu verraten. Luther hatte die politische Berechtigung dieser Revolution anfangs in vielen Punkten durchaus anerkannt. Doch je länger desto mehr sah er ihre geistliche Gefährdung darin, dass Menschen Gott zum Handeln zwingen wollen, indem sie in seinem Namen gegen schreiendes Unrecht zu Felde ziehen. Wenn Gott wirklich treu zu seinen Verheißungen für Gerechtigkeit und Freiheit steht, dann kann er – so proklamierten sie – gar nicht anders, als einzugreifen und denen zur Seite zu stehen, die für seine Sache kämpfen! Doch dies konnte für Luther für ein glaubwürdiges Reden von Gottes Handeln nicht in Frage kommen, er sah es geradezu als glaubenswidrig an.
Erasmus verstand sich als Reformer, nicht als ein revolutionärer Draufgänger. Er wollte das angeborene Verantwortungsbewusstsein vernünftig schulen, damit Veränderungen behutsam von innen her in die Wege geleitet werden können. Zu diesem Zwecke stellte er in seiner Freiheitsschrift eine Fülle von Bibelstellen zusammen, in denen Menschen aufgefordert werden, das Rechte zu tun, sich für das Gute zu entscheiden – und sich in alledem für Gott zu entscheiden, Gott zu wählen und nicht etwas, was Gott entgegensteht. Ist damit – so fragte Erasmus – nicht zwingend vorausgesetzt, dass wir Menschen die Wahlfreiheit besitzen? Gott hat dem Menschen mit dem freien Willen ausgestattet, mit dem er sich dem, was zum ewigen Heil führt, anzuschließen oder sich davon abzuwenden vermag. Erasmus dachte nicht daran, dass wir Menschen uns unser Heil schaffen oder auch nur mit bewirken können. Doch er war davon überzeugt, dass wir Menschen fähig seien, uns für Gottes Heil zu öffnen oder uns dagegen zu verschließen. Hinter beidem steht der Wille als eine Kraft, die in sich neutral ist, denn sonst könnte sie sich nicht frei entscheiden, sondern wäre schon in die eine oder andere Richtung gelenkt. Der Mensch bestimmt sich selber kraft seines Willens durch das, wem er zustimmt oder was er ablehnt.
Luther hat sich mit seiner Antwort genügend Zeit gelassen, mehr Zeit als bei anderen Kontrahenten, um dieser Streitfrage auf den Grund zu kommen. Er bezweifelt insgeheim, dass mit der Frage „Kann ich glauben wollen?“ überhaupt begonnen werden darf. Wie vermögen wir uns selber die Einsicht verschaffen, dass es nicht auf uns selber ankommt – oder eben nicht? Noch nicht einmal dies steht in unserer Macht!
In diesem Zusammenhang musste Luther noch auf weitere Fragen eingehen bzw. er musste sie überhaupt erst aufwerfen: Ist der Gott, für oder gegen den wir uns entscheiden können – wie Erasmus meinte – wirklich der Gott der Bibel? Und wo begegnet uns dieser Gott? Wie ist die Bibel auszulegen, um für diese Begegnung offen zu werden?
Weiter: Können wir Menschen in Gewissheit des Glaubens sprechen, oder ist Gottes Wahrheit für menschliches Fassungsvermögen letztlich verschlossen und sollten wir uns – so Erasmus – mit dem begnügen, was uns zugänglich ist? Welchen Charakter haben also theologische Aussagen? Bleiben sie begründete Erwägungen, deren wir zeit unseres Lebens nicht sicher sein können, oder sind sie assertorisch: „Behauptungen“, deren wir kraft des Heiligen Geistes gewiss sein dürfen? Das sind schwierige, verwickelte Fragen, und Luther macht es sich und uns nicht leicht, ihnen nachzugehen. Beim Lesen seiner ungemein dichten Schrift erhält unsereiner oft den Eindruck, als wolle Luther von Gipfel zu Gipfel springen und die tiefen Gräben dazwischen gar nicht wahrnehmen. Er überlässt es uns, in die Niederungen unserer Alltagsentscheidungen hinabzusteigen und dann hoffentlich wieder die Höhen theologischer Erkenntnis zu erklimmen. Entsprechend steil setzt Luther an: Wenn wir anfangen, von Freiheit zu sprechen, dann gilt es allererst zu sagen, dass allein Gott frei ist. Von seiner Freiheit lässt sich menschliche Freiheit nicht ableiten. Jede menschliche Freiheit ist unverhältnismäßig zu Gottes Freiheit zu wollen. Menschliche Freiheit verdankt sich einzig und allein der Befreiung, die Gott Menschen zuteil werden lässt. Sie werden zur Freiheit befreit, und das heißt zugleich (und nicht erst als mögliche Folge!): Gottes Heil umfängt sie.
Damit bestreitet Luther dem Erasmus die Angemessenheit seiner Prinzipien. Er führt als die alles entscheidende Grundfrage aus: Können wir die Gemeinschaft mit Gott wählen? Sind wir frei, uns dafür oder dagegen zu entscheiden? Ist sie ein Angebot, das wir annehmen oder ablehnen können? Die Antwort kann nur lauten: Nein, das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Diese Frage, ob wir die Gemeinschaft mit Gott wählen können oder nicht, kann theologisch rechtens gar nicht gestellt werden. Sie ist eine Fangfrage. Denn eine Wahl der Gemeinschaft mit Gott würde Gottes Erwählung widersprechen. Wir können von Gemeinschaft mit Gott nur sprechen, wenn wir von Gottes Erwählung reden – und sie ist in keiner Weise mit einer Wahl des Menschen vergleichbar. Erwählung ergreift uns und erfüllt uns, wir leben in ihr: sie ist keine Wahlmöglichkeit. Wenn ich hinter das Geschehen der Erwählung zurückgehe, um sie in den Status eines Angebotes zu versetzen, dann habe ich sie ganz und gar mißverstanden, ja verachtet und so versäumt. Wir sind zur Freiheit erwählt: nur so können wir von Freiheit, aber auch nur so von Erwählung sprechen. Gott will, dass wir mit ihm leben. Und Gottes Erwählung ist zugleich seine Tat, sie ist kein ferner Entschluss, der uns eine symmetrische Entscheidung offenließe.
Können wir glauben? Erasmus war davon zutiefst überzeugt, so skeptisch er sonst über Glaubensaussagen dachte. Gott will, dass wir sein Heil annehmen können, weil uns keine andere Wahl bliebe, vielmehr deshalb, weil Gott uns als Partner seiner Entscheidungen würdigen will. Die Frage „Wie können wir uns für Gott entscheiden?“ führte den Philosophen schnurstracks zum Aufweis menschlicher Willensfreiheit, weil – wie er meinte – „glauben“ als verantwortlicher Akt sonst gar nicht möglich sei. Luthers Gegenfrage lautete: Ist jene Frage vielleicht völlig falsch gestellt? Kennt sie wirklich die Tragweite dessen, „was zum ewigen Heile führt“, wie Erasmus formuliert hatte? Spricht sie womöglich von einem anderen Heil, als es uns in der Bibel entgegentritt? Kann vielleicht das angestrengte Bemühen, glauben zu wollen, dem Glauben gegenüber verschließen? Die Einsicht, dass es beim Glauben nicht entscheidend auf mich ankommt, könnte ja vielleicht die erste kleine Türspalte sein, durch die der Glaube eintreten möchte. Hinter dieser Vermutung steht, jedenfalls für Luther, die Auffassung, dass „glauben“ das Werk Gottes im Menschen ist, das Handeln Gottes am und im Menschen, bei dem der Mensch keinesfalls ausgeschaltet ist. Vielmehr ist er mit Leib und Seele, mit allen seinen Gefühls- und Verstandeskräften dabei, indem er Gott an sich wirken lässt. Glaube ist einem solche Maße und in einer solchen Weise niemals unsere „Sache“, dass „Freiheit“, angeborene Entscheidungsfreiheit, eine angemessene Konnotation dafür sein könnte. Darum wählte Luther als Titel für seine Kritik an Erasmus den formalen Gegenbegriff zu „Freiheit“, nämlich „Unfreiheit“, im Lateinischen klang es noch schärfer: „De servo arbitrio“.[3] Wie diese Überschrift angemessen zu übersetzen wäre, lasse ich erst einmal offen. Der Titel der ersten deutschen Übersetzung, die Justus Jonas bereits 1525 anfertigte: „Dass der freie Wille nichts sei“, erscheint mir jedenfalls irreführend.
Maßgebend war für Luther, dass es der Wille des Geschöpfes ist, das schließlich bekennen kann: „Ich glaube“. Das Geschöpf besitzt keinen Eigenwillen gegenüber Gott, auch wenn es Ja oder Nein zu Gott sagen „will“. Gott erwählt, weil allein Gottes Wille wahrhaft frei ist, weil dieser Wille zugleich Handeln ist. Darum ist es uns versagt, unseren Willen als Abbild von Gottes Willen anzusehen oder gar unsere Willenskonstellation auf Gott zu projizieren. Gott will, dass der Mensch in Gemeinschaft mit ihm lebt – so hat er ihn geschaffen. Des Menschen Geschöpflichkeit ist Zeichen, Ausdruck dieses Willens. Der Mensch wird als wollendes Wesen geschaffen. Es soll nicht sich selber wählen müssen. Es muss sich nicht in dem Sinne beherrschen, dass es über sich selbst verfügen kann. Der Mensch ist als unverfügbares Wesen geschaffen. Auch wenn er sich, wesenswidrig, einer anderen Macht anvertraut, bleibt er Geschöpf, Gottes Geschöpf.
Das servum arbitrium ist der Wille, wie Gott ihn gewährt: der geschöpfliche Wille, mit dem sich das Geschöpf nicht selber beherrscht, nicht sich selber in die Hand nimmt. Es kann nicht den Überblick über Gut und Böse gewinnen wollen, um sich dann vermöge dieses Überblicks entscheiden zu können – selbstredend für das Beste! Doch eben dies wäre nach Genesis 3 die Sünde schlechthin, die Übertretung des Gottesgebotes. Will menschlicher Wille sich über die Geschöpflichkeit hinaus schwingen, dann verfällt er einer Macht, der er nicht mehr entrinnen kann. Sein Versteigen in eine Position jenseits von Gut und Böse wäre eine ungeheure Lebenslüge. Das servum arbitrium ist also nicht ein kraftloser, hin- und hergetriebener oder botmäßiger Wille.
Nähern wir uns der Luthers Argumentation mit Hilfe zweier seiner früheren Schriften:
„Von der Freiheit eines Christenmenschen“, lateinisch „De libertate Christiana“ (1520) beginnt mit einem Paradox: Glaubensfreiheit und Liebesdienst sind gleichursprünglich. Keines von beiden kann aus dem anderen abgeleitet werden. Im Glauben wird der Mensch vor Gott und ihn allein gestellt, befreit zum Empfangen. Was „glauben“ heißt, formuliert die lateinische Fassung präziser als die deutsche: consentire Deo, Gott zustimmen, ich möchte sogar sagen: einstimmen in das, was Gott tut und will. Im Glauben, als „innerer Mensch“, steht der Mensch vor Gott, vor ihm allein, auch wenn viele andere Menschen ihn anblicken und er momentan zu ihnen hin sieht – ein Schielen zwischen Gott und Menschen kann es nicht geben! Glauben heißt: Gott recht geben dürfen – nicht: recht geben wollen, was die Möglichkeit nicht ausschließt, auch Nein zu Gott sagen zu können. Und doch wäre es grundfalsch zu behaupten, wir könnten gar nicht anders, als zu Gott Ja zu sagen. „Glaube“ schließt diese Alternative aus. Der zweite Begriff, der Luthers Ausführungen zusammenfasst, lautet: conformitas, gleichgestaltet werden, gleichförmig werden – dem Tun Gottes dort, wo ich mit anderen Menschen zu tun bekomme. Dort treffe ich in der Liebe und damit in anderer Weise auf Gott. Er begegnet mir in seinem Wirken an und mit anderen Menschen. Ich darf ebenso wie Christus diesen Anderen dienen. Mein Handeln, als „äußerer Mensch“, wird in Gottes Handeln hineingezogen, wird mit ihm verwickelt. Der Christ ist in der Einheit seiner Seele und seines Leibes, einstimmend und eingehend, von Gottes Handeln umfangen, der Glaube weist ihn zur Liebe hin, und die Liebe weist auf den Glauben, ohne dass diese Bewegung eine Dauerreflexion werden könnte. Sie ist ja in doppelter Hinsicht ein sich dem Handeln Gottes Aussetzen, in unmittelbarer und mittelbarer Form.
Den zweiten Schritt der Annäherung finden wir in Luthers „Wider den Löwener Theologen Latomus“ (1521)[4], wo er die Rechtfertigungslehre in einer Auslegung von Röm 7,14-25 entfaltet.
„Wir wissen freilich, dass das Gesetz heilig ist. Ich bin dagegen fleischlich, unter die Sündenmacht verkauft. Denn nicht erkenne ich, was ich vollbringe. Ich tue eben nicht, was ich will, sondern das tue ich, was ich hasse. Wenn ich nun aber gerade das, was ich nicht will, tue, gestehe ich (damit) dem Gesetz zu, dass es gut ist. Dann wirke jedoch nicht ich es mehr, sondern die in mir wohnende Sünde. Denn ich weiß, dass in mir, also in meinem Fleische, das Gute nicht wohnt. Liegt mir nämlich das Wollen nahe, so nicht, das Gute zu wirken. Denn nicht das Gute, das ich will, das tue ich, sondern das Böse tue ich, das ich nicht will. Wenn ich aber gerade das tue, das ich nicht will, dann wirke nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich stelle also für mich, der ich das Gute will, das Gesetz fest, dass das Böse mir anhängt. Denn nach dem inneren Menschen habe ich Freude an dem Gesetz Gottes. Ein anderes Gesetz gewahre ich aber in meinen Gliedern. Das liegt im Streit mit dem Gesetz meiner Vernunft und nimmt mich im Gesetz der Sünde gefangen, das in meinen Gliedern ist. Ich armseliger Mensch! Wer wird mich diesem Todesleib entreißen? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn! So diene ich also mit meiner Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch jedoch dem Gesetz der Sünde.“[5]
Ich versuche, Luthers Auslegung zu paraphrasieren: „Die in mir wohnende Sünde“ – das ist keine Entschuldigung (oder gar Siegmund Freud im theologischen Gewande). Gemeint ist das Verhaftetsein in die Sünde, die Gott fremd ist, aber nicht mir, dem Sünder. Paulus spricht also ein Sündenbekenntnis aus: Ich erkenne mich in der Unterscheidung zu dem, was mich bisher bestimmt hat. Ich erkenne, dass ich, während ich meinte, Herr im eigenen Hause zu sein, mit der Sünde zusammen wohnte, in Wohngemeinschaft mit einer Macht, die mich treibt, das zu tun, was ich nicht will – aber es ist meine eigene Kraft, mein Eigenwille, nicht mein eigener Wille. Es ist die Eigenbewegung, die mich von meiner Zustimmung zu Gott, von der Einstimmung in seinen Willen abhält. Jetzt jedoch bin ich erlöst, erlöst dazu, zwischen der Sünde und meinem inneren Menschen unterscheiden zu können. Meine Vergangenheit tritt mir gegenüber als das Durchdrungensein und Gedrängtwerden durch meine Sünde, die meiner jetzt nicht mehr mächtig ist – sonst könnte ich sie gar nicht sehen! Dies ist die Erlösung vom Geknechtetsein durch die Sünde. Freiheit, christliche Freiheit besteht in der Erkenntnis, dass ich mir nicht selber gehöre. Im Rückblick wird mir deutlich: die Sünde wird dadurch mächtig, anscheinend sogar allmächtig, dass ich meinte, mir zu gehören, meiner mächtig zu sein – und dann kommt, wie gesagt: im dankbaren Rückblick des Sündenbekenntnisses, heraus, dass ich gerade nicht wollte, was ich getan habe – doch dieses „Nicht“ blieb mir verschlossen.
Paulus hatte hier vom Gesetz gesprochen, vom ausgesprochenen Willen Gottes. Das Gesetz verheißt das Leben, das Leben, wie Gott es will – darum heißt es das „gute Gesetz“. Doch wenn sich die Sünde des Gesetzes bemächtigt, anders gesagt: wenn ich das Gesetz als eine (und sei es gottgegebene) Möglichkeit ansehe, das Leben wählen zu wollen, dann wird es unversehens verkehrt. Wenn ich sage: „Ich will das Leben kraft des Gesetzes“, dann dient dieses Gesetz mir nunmehr als Anspruch, mich selber zu wollen. Die Sünde ist in eine so innige Verbindung mit meinem Wirken eingegangen, dass ich gar nicht mehr wahrhaft sagen kann: „Ich will“, denn die Sünde hat dies zu ihrer Sache gemacht. Wohlgemerkt: Hier ist nicht vom „Willen“ als einem Vermögen des Menschen die Rede, nicht von einer facultas, die man an und für sich feststellen oder nach dessen Zentrum im Menschen man fragen könnte. Sondern es heißt, wie in der Bibel zumeist: „ich will“. Menschen sagen: „ich will“, oder sie sagen: „ich will nicht“ – wie dergleichen physiologisch und psychologisch zu erklären sein mag, überlassen wir lieber den Fachleuten!
Das Sündenbekenntnis sagt: Von dem Anspruch, mich selber zu wollen, hat Gott mich befreit, von dieser unerhörten und unaufhörlichen Anstrengung samt all ihren Nebenwirkungen, mit denen ich an anderen Geschöpfen schuldig geworden bin. Gott allein verdanke ich die Erkenntnis dessen, was ich gewesen bin – und was ich jetzt bin. Meine Vergangenheit ist zu Gottes Sache geworden. Weil sie nunmehr keine Gewalt über mich hat, mich nicht mehr beherrscht und unabsehbar in die Zukunft hineinreicht, darum bin ich dem Urteil über mich selber entnommen. Freiheit des Glaubens ist also Freiheit von dem Gesetz der Sünde – Paulus fügt noch hinzu: auch von dem Gesetz des Todes, durch das ich mich habe verführen lassen, den Tod übermächtig werden zu lassen, wo ich wähnte, das Leben zu wollen und zu suchen. Paulus sagt im Bekenntnis: „Das war ich, ich bin es nicht mehr, Gott sei Dank! Ich bin den Gnadentod gestorben.“ Luther hörte als Nachklang heraus: So bin ich immer wieder, nämlich als Gefangener meines Lebenswillens, ich bin es, sofern ich auf mich blicke. Was ich gewesen bin, das war ich allein dank der Befreiung durch Gottes Gnade, die mir diesen Rückblick gewährt. Ich bin davon befreit, mir selber im Wege zu stehen, nicht zu wollen, was ich will. Ich bin nicht mehr der in sich verkrümmte Mensch, „homo incurvatus in se“ (Luthers Umschreibung des Sünders), einer Spirale vergleichbar, in deren Drehungen ich mehr und mehr in mich hineingetrieben werde, anders gesagt: die mich in den Abgrund der Gottferne hinein verschlingt. Wenn diese Spirale durchbrochen wird, durch Gottes Gnade, in der Rechtfertigung, dann schmerzt dies über alle Maßen, denn ich selber bin ganz und gar betroffen. Dieser Schmerz gehört bleibend zum Widerfahrnis christlicher Freiheit.
Im Sündenbekenntnis spricht sich also nicht ein innerer Konflikt aus, der gelöst werden könnte, indem er bewusst gemacht wird. Das wäre eine therapeutische Katharsis, zu der ein psychoanalytisches Gespräch verhelfen könnte, wenn es denn gelingt. Das Sündenbekenntnis ist ein Akt der befreiten Selbsterkenntnis, der Befreiung zur Selbsterkenntnis vor Gott: Ich selbst werde mir gegenüber gestellt.
Diese beiden Schritte der Annäherungen hatte Luther gleichsam im Hinterkopf, als er gegen Erasmus zu argumentieren begann. Ihn beschäftigt zuallererst die Frage: Wie vermöchten wir uns selber die Einsicht verschaffen, ob es entscheidend auf uns selber ankommt – oder nicht? Noch nicht einmal dies steht wirklich in unserer Macht! Erst im Sündenbekenntnis, das allein im Glauben möglich ist, zeichnet sich die Freiheit ab, von unserem Wollen zu sprechen, wie es für Gottes Wirken befreit und so von ihm gelenkt wird.
Indem Luther diese theologischen Voraussetzungen namhaft macht, legt er gleichsam die Spielzüge für den Disput mit Erasmus offen, oder anders formuliert: Er begibt sich in ein Verfahren wie in einen Gerichtsprozess, dessen Regeln von allen Parteien anerkannt und befolgt werden müssen, wenn Rechtsfindung möglich werden soll. Sonst würde nur ein heilloses Durcheinander von Meinungen entstehen, mit denen Kontrahenten aufeinander losschlagen. Luthers Vorgehen ist deshalb durchweg rhetorisch bestimmt, und ohne Kenntnis einiger rhetorischer Züge bliebe vieles von seiner Gedankenführung unverständlich.
Ich beschränke mich auf zwei Schlüsselstellen aus Luthers Schrift:
Die eine skizziert das Bild vom Menschen als einem Reittier, das entweder vom Teufel geritten oder von Gott gelenkt wird – eine berühmt-berüchtigt gewordene Metapher:
„So ist der menschliche Wille in der Mitte hingestellt wie ein Lasttier. Wenn Gott darauf sitzt, will er [der Mensch] und geht, wohin Gott will. […] Wenn er Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin der Satan will.“[6]
Die sprichwörtliche Wendung „vom Teufel geritten“ darf, jedenfalls in Luthers Sinne, nicht formal mit Gottes Lenkung verglichen werden. Wir werden nicht von Gott geritten, so, dass wir ohne Sinn und Verstand einfach getrieben würden. Vielmehr lenkt uns und leitet uns Gott, er will mit uns seinen Gang gehen. Das Bild ist also asymmetrisch zu verstehen: Es kommt nicht nur darauf an, wer auf dem Reittier sitzt, sondern ebenso darauf, wie der Reiter mit dem Tier umgeht.
„Wenn Gott auf ihm sitzt, will er und geht, wie der Psalm sagt: ‚Ich bin wie ein Lasttier geworden. Dennoch bleibe ich stets an dir, und ich bin immer bei dir.‘
[Später wird Luther übersetzen: ‚Denn du hältst mich bei meiner rechten Hand.‘ (Ps 73,22f.).]
Wenn der Satan auf ihm sitzt, will und geht es, wohin der Satan will. Und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von beiden Reitern zu laufen und ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, festzuhalten und in Besitz zu nehmen.“[7]
Der Mensch lässt sich vom Teufel reiten, wenn er seine Geschöpflichkeit verlässt, wenn er der Versuchung erliegt, einen Standpunkt über Gut und Böse einzunehmen, um sich dann entscheiden zu können. Von Gott wird der Mensch „aus freien Stücken“ in Dienst genommen: in den Dienst dank seiner Freiheit, zugunsten seiner Freiheit. Kontext der Psalmstelle: Menschen sehen, was in der Welt vor sich geht, was sie im Namen Gottes zu tun beanspruchen, worin sie Gott widersprechen. Wenn Luther einen Psalmvers oder zwei zitiert, hat er nicht nur diese im Blick, sondern als Beter der Psalmen den gesamten Textzusammenhang. „Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich in Ehren an. Wenn ich dich nur habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. […] Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte. Meine Zuversicht setze ich auf den Herrn, dass ich verkündige all dein Tun.“ (Ps 73,24f.28) Von Gott gelenkt werden, heißt zugleich: an Gott festhalten. Vertrauen auf Gott ist ein Sich-Verlassen auf ihn, auf seine Treue. Könnten wir von diesem Vertrauen anders sprechen, als dass wir uns Gottes Führung anvertrauen? Wenn wir aber seiner Führung vertrauen, dann vertrauen wir zugleich seiner Leitung, seiner Herrschaft. Insofern ist die Metapher vom Menschen als einem Tier, das von Gott gelenkt wird, der äußerste Ausdruck des Vertrauens. Wer dieses Bild als übertrieben empfindet, der sollte sich zunächst fragen, ob sein „Gottvertrauen“ sich wirklich auf Gott verlässt und sich ihm überlässt, oder ob es nicht eher eine gesteigerte Form von Selbstvertrauen unter Berufung auf Gott ist.
Das Geheimnis des freien Willens als des Willens, der von Gottes Geist erfüllt wird, besteht auch darin, den Unterschied zwischen „sich von Gott führen lassen“ und „vom Teufel geritten werden“ zu erkennen.
Der Urgrund unseres Willens ist ein Bewegt-Werden, der uns als Willensrichtung erscheint – und diese Richtung kann grundverschieden sein. Dieses Widerfahrnis ist anderer Art als die Erfahrung des Begrenztseins, der Konflikte mit dem Willen anderer, von Übermacht und Unterordnung. Dies alles sind Entdeckungen auf den Handlungsfeldern des Menschseins, die aber nicht zur Glaubenserkenntnis führen. Bestenfalls zeigen sie, dass das „Prinzip Verantwortung“ uns vor die Frage stellt, wieweit wir verantwortlich handeln können – und was unserem Überblick entzogen bleibt und welchen Vertrauens es bedarf, damit wir gleichwohl gelassen, wachsam und zuversichtlich handeln können. Darum darf die Einsicht in das Bewegtwerden des Willens nicht zur Ausrede werden, zur Entschuldigung für Verantwortungslosigkeit. Dies kann gar nicht der Fall sein, wenn es sich wirklich um eine Einsicht in die Konstitution menschlichen Willens handelt. Doch Verantwortungslosigkeit ist nicht die einzige Gefahr.
Mindestens ebenso gefährlich und auf die Dauer lebensbedrohend ist die Überzeugung, alle Verantwortung, die Verantwortung für das Bestehen der Welt, laste auf uns. Eine solche Überzeugung kann zu kurzfristigen, manchmal sogar kurzschlüssigen Reaktionen verleiten.
Die Unfreiheit des Menschen kann eine teuflische Sache werden – und wenn sie darin besteht, in Gottes Willen einzuwilligen, kann sie zur selbstvergessenen Freiheit werden.
Dass wir Menschen uns nicht selber regieren können, schließt keineswegs aus, dass wir uns beherrschen, auf manches verzichten können. Gerade dort blitzt die Frage auf, wem ich mich anvertraut habe, wer mich regiert, und welcher Art diese Herrschaft ist. Vor diese Frage werden wir glücklicherweise nicht jeden Tag gestellt. Sie bricht immer dann auf, wenn wir, aus welchem Anlass auch immer, vor die Frage gestellt werden, aus welchen Kräften wir leben und worauf unser Leben gerichtet ist. Und diese Frage ist stets gegenwärtig, wenn wir Gottes Wort hören und seine Gaben empfangen.
„Gottes Wille ist die Freiheit des Menschen“ – ja, unbedingt, wenn gilt, was Paulus in Römer 12,2 sagt: „Lasst euch umgestalten, umformen, damit ihr prüfet möget, was Gottes Wille ist.“ Dieser Wille ist keine dunkle Macht, kein undurchdringlicher Nebel. Dieser Wille spricht sich aus in allem, was Gott getan und zu tun verheißen hat. Sein Wille ist die Tat seines Erbarmens. Er ist der Weg Jesu Christi, sein Tod am Kreuz, in dem Gottes Verborgenheit in unserer Welt zutage tritt. Gottes Wille erfüllt sich, wenn wir mit Jesus in Gethsemane beten: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Jesus Christus war kein Übermensch. Er, gerade er, fragte, was Gottes Wille sei, inmitten all dessen, was auf ihn zukam. Diese Frage stellte er nirgendwo anders als im Gebet: „Dein Wille geschehe!“ Dieses Gebet schützt uns vor der Gefahr, uns ins Unabsehbare unseres Handelns zu verlieren. Es vertraut auch die Folgen unseres Handelns Gott an und fragt daraufhin, was uns möglich gemacht wird. Das Gebet setzt unsere Vergangenheit Gottes Urteil aus und nimmt den Raum wahr, in dem wir handeln können in der Gemeinschaft mit Gott.
Die andere Stelle handelt davon, wie der Mensch von Gottes Wirken erfüllt wird: „Die Kraft des freien Willen ist jedoch diese, durch die der Mensch tauglich ist, vom Geist ergriffen und von der Gnade Gottes erfüllt zu werden, dann können wir recht vom Geist reden.“ Der Mensch, der die Kraft seiner Freiheit ‚erleidet‘: vom Geist ergriffen, von der Gnade Gottes erfüllt.
Nennen wir jedoch die Kraft des freien Willens diese, durch die der Mensch tauglich ist, vom Geist ergriffen und von der Gnade Gottes erfüllt zu werden.[8]
Das servum arbitrium dient dem, dem wir uns anvertraut haben. Wir werden zu dem, wofür wir uns entschieden haben, weil über uns entschieden worden ist – wobei unsere Entscheidung keine Willensfrage ist, sondern eine Glaubenswirklichkeit. Die Befreiung des Wollens ist die Erkenntnis einer Willensrichtung, die allen unseren Taten und unserem Unterlassen zugrunde liegt – ein Bewegtsein, ohne das wir weder leben noch handeln können.
Diese beiden Stellen enthalten die Quintessenz des ganzen Buches.
Luther hat seine Schrift über die Einwilligung in Gottes Willen als eine seiner wichtigsten eingeschätzt, er sah sie neben seinen Katechismen als sein reformatorisches theologisches Vermächtnis an – und gerade diese Schrift ist in evangelischer Theologie und Kirche heute weithin vergessen, von europäischer Kultur ganz zu schweigen! In der Theologie- und Philosophiegeschichte wird sie als ein Beitrag zu einem bedeutenden Streitfall der Reformationszeit registriert, aber was sie zu sagen hat, bleibt ungehört. Sie mag in Bücherschränken stehen und von Zeit zu Zeit daraus hervorgeholt werden, um das eine oder andere daraus zu zitieren, aber sie lebt nicht in uns, weder in unseren Herzen noch in unseren Köpfen.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat dieses Vergessen als aufklärungskritischer Philosoph und kirchenkritischer Christ angeprangert:
„Aber nicht das historisch neu auftretende und rasch von der Aufklärung überholte Schriftprinzip ist Luthers Geschenk an die Kirche, sondern das, was er in der Schrift las. Es ist die Erfahrung der Rechtfertigung, interpretiert durch die bis heute nicht von der Anthropologie rezipierte Lehre vom servum arbitrium.
Auch was Luther wiederentdeckt, ja in seiner Fassung als erster entdeckt, ist durch Jesus ermöglicht. Er entdeckt aber nicht Jesus, sondern er entdeckt Paulus und den von Paulus im Glauben erfahrenen Christus. Der Glaube ist ein reales Geschehen, ein Erwachen. Die Rechtfertigung durch den Glauben ist etwas völlig anderes als die kirchengeschichtlich fast unvermeidlich eintretende Rückwendung zum Bekenntnis, zur vermeintlichen Rechtfertigung durch das Bekenntnis des rechtens Glaubens, ein Bekenntnis, das ein gutes Werk ist wie andere Werke. Luther hinterlässt der Kirche eine offene Front. Die verfasste lutherische Kirche ist demgegenüber eine um eine tiefe Wahrheit bereicherte, im Blick auf viele andere katholische Güter aber verengte, kontinuierliche Fortsetzung des kulturtragenden Christentums.
Mit der lutherischen Orthodoxie und dem tridentinischen Katholizismus (der noch die herrliche Blüte des Barock ermöglicht hat) tritt die christliche Kirche in die kulturelle Defensive ein. Diese hochrespektable Rolle musste im geschichtlichen Prozess gespielt werden. Aber der Bewusstseinswandel ist unaufhaltsam. Die Niederlage ist der Defensive gewiss. Die Rolle des Trägers der fortschreitenden geschichtlichen Verwandlung, die anderthalb Jahrtausende dem Christentum zugefallen war, übernimmt nun die Aufklärung. Die Ambivalenz der Aufklärung hängt freilich tief damit zusammen, dass sie an der Kirche nur das doch Periphere zu würdigen vermag, ihre Leistung als Kulturträger, aber gerade nicht den Kern. Die Aufklärung wehrt sich mit Leidenschaft gegen das servum arbitrium. Sie will ein besseres Gesetz und kein Evangelium. So hat in der späteren Neuzeit der Kern christlicher Wahrheit überhaupt keinen Sprecher, der das moderne Bewusstsein erreicht: die Aufklärung nicht, weil sie den Kern verwirft, die Kirche nicht, die defensiv das Pfund vergräbt. Jedes so verkürzte summarische Urteil ist, wie ich weiß, falsch, schon weil es summarisch ist. Aber vielleicht trifft es eine Grundkonstellation der Neuzeit. Das Leiden an der Unerträglichkeit dieser Konstellation speist die Dynamik der neueren profanen und Kirchengeschichte.“[9]
Weizsäcker meint, die Kirche habe versagt, weil sie aus lauter Angst, Menschen zu überfordern, sich zu einem anthropologischen Rückzieher entschlossen und der Willensfreiheit im Sinne des Erasmus das Wort geredet zu haben, vielleicht noch verziert durch den Zusatz: Willensfreiheit dank Gottes Begnadung. Und die Aufklärung habe dies noch verstärkt, weil sie eine bessere Vorstellung von dem, was rechtes Leben ist, gesucht habe, um Menschen dazu anzuleiten, ihre angeborene Wahlfreiheit recht zu gebrauchen.
Ist von Weizsäckers Kritik überzogen? Durchaus nicht! Fünf Jahre nach Luthers Schrift – ich möchte sie seine „Freiheitsschrift in Potenz“ nennen – behauptete die Confessio Augustana als ökumenischen Konsens, wie wir heute sagen würden, genau das, was Luther so leidenschaftlich verneint hatte: Dass der Mensch den freien Willen hat, im täglichen Leben zurande zu kommen, dass er allerdings zu den Fragen seines Heiles nichts beitragen kann, sondern der Hilfe Gottes dazu bedarf (CA XVIII). Das ist die klassische augustinische Lehre, die von Erasmus übernommen und ein wenig variiert worden ist.
Wenn wir uns heute auf Luthers potenzierte Freiheitsschrift besinnen, dann könnte uns eine Entdeckung von größter Tragweite bevorstehen: für die Wahrnehmung einer Freiheit, die nicht in das Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung hinein gebannt ist, einer Freiheit auch, die uns nicht mehr zu denken erlaubt, Gottes Handeln sei eine Art Beweggrund für menschliches Handeln, wie ein Treibriemen oder die Mechanik eines Zahnrades. Diese Deutung ist weit verbreitet, in Predigten, in Unterricht und Seelsorge, sie ist eine baufällige Brücke im ökumenischen Gespräch, die schon längst nicht mehr trägt, doch sie hindert, uns der Frage zu stellen: „Wofür sind wir wahrhaft frei?“
Vortrag gehalten auf der Akademietagung des Arbeitsbereiches Religionspädagogik und Medienpädagogik der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig zum Thema „Ist die Freiheit noch zu retten?“ am 15./16. März 2002.
Abgedruckt in: Hans-Georg Babke (Hrsg.), Gesellschaftlich-kulturelle Trends: Herausforderungen des Christseins. Religion im Dialog mit Wissenschaft, Münster: Lit, 2011, S. 157-169.
[1] Das Handwerk der Freiheit: Über die Entdeckung des eigenen Willens, München: Hanser, 2001.
[2] De libero arbitrio diatribe sive collatio – Gespräch oder Unterredung über den freien Willen, in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Bd. 4, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky, Darmstadt 1969, 1-195.
[3] De servo arbitrio, in: Martin Luther, Studienausgabe, hg. von Ulrich Delius, Bd. 3, Berlin 1983, 170-356. – Dass der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam, in: Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. von H. H. Borcherdt und Georg Merz, Ergänzungsreihe, Bd. 1, übersetzt von Bruno Jordahn, München 1954.
[4] Rationis Latomianae pro incendariis Lovaniensis scholae sophisticis redditae, Lutheriana confutatio, in: Martin Luther, Studienausgabe, Bd. 2, Berlin 1982, 405-519 (Rudolf Mau). – Wider den Löwener Theologen Latomus, in: Martin Luther, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, Bd. 6, übersetzt von Robert Frick, München 1953.
[5] Übersetzung von Ernst Käsemann, An die Römer (Handbuch zum Neuen Testament, Bd. 8a), Tübingen 1973, 188f.
[6] Vom unfreien Willen, 46.
[7] A.a.O., 46f.
[8] A.a.O., 47.
[9] Kirchenlehre und Weltverständnis, in: Carl Friedrich von Weizsäcker, Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, München 41986, 108f.