Emmanuel Lévinas im Gespräch mit Bertrand Révillon, Vom Nutzen der Schlaflosigkeit (1987): „Für mich beginnt die Theologie im Gesicht meines Mitmenschen. Die Göttlichkeit Gottes ereignet sich im Bereich des Menschlichen. Das »Gesicht« ist der Ort der Deszendenz Gottes. Gott erkennen heißt sein Gebot »Du sollst nicht töten« hören.“

Vom Nutzen der Schlaflosigkeit. Emmanuel Lévinas im Gespräch mit Bertrand Révillon

Emmanuel Levinas, stellen wir uns vor, ein junger Mensch, ein Schüler aus der Abschlussklasse des Gymnasiums, fragt Sie nach Ihrer Definition der Philosophie. Was würden Sie ihm antworten?

Ich würde ihm sagen, dass die Philosophie dem Menschen erlaubt, sich in dem zu prüfen, was er sagt, und in dem, was er sich selbst sagt, wenn er denkt. Sich also nicht mehr länger vom Rhythmus der Wör­ter und dem Allgemeinen, auf das sie verweisen, einlullen und be­rauschen lassen, sondern sich zu öffnen für die Einzigartigkeit des Einmaligen in dieser Wirklichkeit, d. h. die Einzigartigkeit des Ande­ren. Und das heißt letztlich für die Liebe. Also wirklich sprechen, nicht eine Art Singsang von sich geben, wach werden, nüchtern wer­den, nicht nur ständig Redensarten im Mund führen. Schon der Phi­losoph Alain hat uns vor all denjenigen gewarnt, die uns in einer angeblich so aufgeklärten Zivilisation »Sand in die Augen streuen«. Philosophie als Schlaflosigkeit, als ein erneutes Erwachen inmitten der Gewissheiten, die schon das Wachsein zum Ausdruck bringen, in Wirklichkeit aber noch oder immer Träume sind.

Ist es wichtig, an Schlaflosigkeit zu leiden?

Das Aufwachen ist etwas, so meine ich, das dem Menschen eigen­tümlich ist. Dann die Suche des Wachgewordenen nach einer erneu­ten, tieferen, philosophischen Ernüchterung. Und es ist genau ge­nommen die Begegnung mit dem anderen Menschen, die uns zum Aufwachen ermahnt, aber auch die Texte, die aus den Dialogen zwi­schen Sokrates und seinen Gesprächspartnern hervorgegangen sind.

Ist es der Andere, der aus uns einen Philosophen macht?

Gewissermaßen. Die Begegnung mit dem Anderen ist die bedeutende Erfahrung oder das bedeutende Ereignis schlechthin. Die Begegnung mit dem Anderen lässt sich nicht auf den Erwerb eines zusätzlichen Wissens reduzieren. Ich kann den Anderen niemals vollständig erfas­sen, gewiss, doch die Verantwortung ihm gegenüber, in der die Spra­che und auch die Gemeinschaft mit ihm ihren Ursprung nimmt, übersteigt selbst das Wissen, auch wenn unsere griechischen Lehrer diesbezüglich vorsichtig geblieben sind.

Wir leben in einer Gesellschaft voller Bilder, Geräusche und spektakulärer Events, in der nur noch wenig Raum für Rückzug und Nachdenken bleibt. Wenn sich diese Entwicklung noch weiter beschleunigen sollte, würde unsere Gesellschaft dann an Menschlichkeit verlieren?

Absolut. Ich sehne mich ganz und gar nicht nach dem Ursprüng­lichen und Einfachen zurück. Was immer sich an menschlichen Mög­lichkeiten zeigt, muss zur Sprache gebracht werden. Die Gefahr; sich im bloßen Gerede zu verlieren, besteht in der Tat, aber die Sprache, die ein Anruf des Anderen ist, stellt auch die eigentliche Modalität des »Sich-selbst-Misstrauens« dar, das die Besonderheit der Philoso­phie ausmacht. Doch ich will die Bilder gar nicht verurteilen. Was ich feststelle, ist, dass es einen großen Anteil an Zerstreuung im Bereich des Audiovisuellen gibt, eine Art Traumwelt, die uns wieder in den Schlaf versinken lässt, von dem wir gerade gesprochen haben, und uns dort gefangen hält.

Ihr Werk ist durch und durch von einem moralischen Anliegen geprägt. Man ist erstaunt darüber, dass nach einer Phase der »Befreiung«, in der die Ethik eher auf Ablehnung gestoßen ist, nun die Wissenschaften und vor allem die Entdeckungen der Biologe die Menschen dazu bringen, sich wieder ethischen Fragen zuzuwenden. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Die Moral hatte in der Tat einen schlechten Ruf. Man verwechselt sie gerne mit Moralismus. Das Eigentliche der Ethik geht oft in diesem Moralismus, der auf eine Summe von Pflichten reduziert wird, ver­loren.

Was ist Ethik?

Es ist die Anerkennung der »Heiligkeit«. Ich will dies näher erklären: Der eigentliche Grundzug des Seins liegt darin, dass jedes einzelne Seiende um sein Sein selbst besorgt ist. Die Pflanzen, die Tiere, ja die Lebewesen in ihrer Gesamtheit klammern sich an ihre Existenz. Für jedes einzelne zählt allein der Kampf ums Überleben. Und auch die Materie in ihrer unerbittlichen Härte: Ist sie nicht ein ständiges Sich-verschließen und Aufeinanderprallen? Und dann plötzlich im Be­reich der menschlichen Natur das mögliche Aufscheinen einer onto­logischen Absurdität: Die Sorge für den Anderen siegt über die Sorge um sich selbst. Genau das ist es, was ich »Heiligkeit« nenne. Unsere Menschlichkeit besteht darin, dass wir diesen Vorrang des Anderen anerkennen können. Sie verstehen jetzt meine Ausführungen zu Be­ginn unseres Gesprächs besser und warum ich mich so sehr für die Sprache interessiere: Sie wendet sich immer dem Anderen zu, so als ob man gar nicht denken könnte, ohne sich bereits um den Anderen zu sorgen. Das Denken bewegt sich von nun an in einem Sagen. Auf dem tiefsten Grund des Denkens meldet sich das »Für-den-Anderen« zu Wort, anders gesagt, die Güte, die Liebe zum Anderen, die geisti­ger ist als die Wissenschaft.

Lässt sich diese Aufmerksamkeit für den Anderen lehren?

Meiner Ansicht nach erwacht sie vor dem »Gesicht« des Anderen.

Der Andere, von dem Sie sprechen, ist damit auch der ganz Andere, Gott, gemeint?

Eben in diesem Vorrang des anderen Menschen mir gegenüber, der auch meiner Bewunderung für die Schöpfung, auch meinen Fragen nach der ersten Ursache des Universums noch vorausliegt, fällt Gott in mein Denken ein. Wenn ich vom Anderen spreche, verwende ich den Ausdruck »Gesicht«. Das »Gesicht« ist das, was hinter der Fassa­de und hinter der Haltung, die jeder zu bewahren sucht, liegt: Es ist die Sterblichkeit des Nächsten. Um das »Gesicht« des Anderen zu sehen und zu erkennen, muss man schon hinter seine Maske schau­en. In der Nacktheit des »Gesichts« zeigt sich die Ohnmacht eines einzigartigen Seienden, das dem Tod ausgesetzt ist; gleichzeitig aber kommt in ihm ein Imperativ zum Ausdruck, der mich dazu verpflich­tet, es nicht allein zu lassen. Diese Verpflichtung ist Gottes erstes Wort. Für mich beginnt die Theologie im Gesicht meines Mitmen­schen. Die Göttlichkeit Gottes ereignet sich im Bereich des Mensch­lichen. Das »Gesicht« ist der Ort der Deszendenz Gottes. Gott erken­nen heißt sein Gebot »Du sollst nicht töten« hören, wobei dieses Gebot nicht nur ein Verbot des Mordes ist, sondern zugleich ein Ruf zu einer unablässigen Verantwortung dem Anderen gegenüber – dem einzigartigen Seienden –, so als ob ich zu dieser Verantwortung auserwählt wäre, die mir, auch mir selbst, die Möglichkeit gibt, mich als einzigartig zu erkennen, als ein Seiendes, das unersetzbar ist und »Ich« sagen kann. Ich werde mir bewusst, dass ich bei jedem einzel­nen Schritt, den ich als Mensch unternehme — und bei dem der An­dere niemals abwesend ist –, bereits die Verantwortung für die Exis­tenz dieses Anderen in seiner Einzigartigkeit trage.

Wie sehen Sie als jüdischer Philosoph den Barbie-Prozess?

Das gehört für mich in die Kategorie des Grauenhaften: ein Grauen, das nicht wieder gutzu­machen ist, nie vergessen werden kann. Je­denfalls durch keinerlei Strafe, das ist sicher. Eine Grenze der Ver­antwortung? In dieser Gewissheit werden viele unserer Gedanken über die Eschatologie, die jüdische wie die nichtjüdische, erschüttert — ich sage nicht: nichtig. Doch dieser Prozess, der noch schrecklicher ist als jede Sanktion, dürfte sich nicht so abspielen, wie er sich ab­spielt. Man müsste zu dieser Verurteilung kommen, ohne dass dabei das Grauen in seinen apokalyptischen Dimensionen durch die juris­tischen Formalismen und Kunstgriffe, die unvermeidlich sind, bana­lisiert würde.

Ist auch dieser Mensch noch ein »Anderer« für Sie?

Wenn jemand ihm vergeben kann, in seiner Seele und in seinem Gewissen, möge er dies tun. Ich kann es nicht.

Ursprünglich auf Französischen erschienen unter dem Titel De l’utilité des insomnies in La Croix – LʼÉvénement, 10. Juni 1987, S. 18. Aus dem Französischen übersetzt von Alwin Letzkus.

Quelle: Emmanuel Lévinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg-München: Alber, 2006, S. 171-174.

Hier der Text als pdf.

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