Reinhold Schneider, Die andere Macht (1951): „Wo das Zeugnis ist, da ist das Gottesreich. Es kann dort nicht sein, wo das klare Zeugnis des Lebens und Leidens nicht ist. Untergehen wird es nicht. Und immer wieder wird es sich erweisen, daß in ihm die Möglichkeit unerhörter, ja der einzigen wahren Freiheit ist. Der zur Freiheit drängende Mensch wird nur in dem einen Falle nicht irren, da er sich hingibt an Christus, um in ihm frei zu werden und für dieses Freisein in Christus alles Weltliche zu opfern bereit ist.“

Die andere Macht (1951)

Von Reinhold Schneider

In den »Erzählungen eines russischen Pilgers«, die nach dem Bericht eines Unbekannten in den achtziger Jahren des vori­gen Jahrhunderts auf dem Berge Athos aufgezeichnet wurden, wird ein Vorgang geschildert, der einer Antwort auf die Not der Gegenwart gleichkommt, und zwar der wesentlich christ­lichen Antwort. Der Pilger wird auf seinen Wanderungen durch Rußland in einem Wäldchen hinter einem Dorfe von einem Wolfe angefallen; er hat zu seiner Verteidigung nichts als die aus Wolle geknüpfte, ihm von seinem geistlichen Va­ter, seinem Starez, überkommene Gebetsschnur. Mit ihr schlägt er nach dem Wolf; sie wickelt sich um den Hals des Tieres; es flieht, verfängt sich aber in einem Dornbusch, wäh­rend die Schnur es würgt. Der Pilger, dem die Gebetsschnur über alles teuer ist, wagt, auf das Tier zuzugehen und die Schnur an sich zu nehmen. Der befreite Wolf stiebt davon. In der nächsten Herberge erzählt der Pilger seine wunderbare Errettung. »Beten die Wölfe auch?« fragt lachend ein Zweif­ler. Aber ein frommer Lehrer, der in den Schriften der Väter erfahren ist, sucht die Sache zu erklären: »Der Starez, dem diese Gebetsschnur gehörte, war heilig … Wird aber die Seele geheiligt, so ist auch der Leib heilig. Die Gebetsschnur war nun ständig in den Händen des Geheiligten; folglich war durch die Berührung und die Ausdünstung der Hände eine heilige Kraft in sie eingegangen, die Kraft des sündenlosen Zustandes des ersten Menschen. Hier haben wir das Myste­rium der geistigen Natur! Und diese Kraft wird naturgemäß von allen Tieren bis auf den heutigen Tag empfunden.«

Die Erklärung erscheint auf den ersten Blick etwas materiali­stisch; sie ist indessen typisch russisch im Sinne der Heiligung und Vergeistigung des Kreatürlichen und Erdhaften. Wie man aber auch die Macht des Heiligen — der ja nur der echte Christ ist, denn die ersten Christen waren eben die ersten Hei­ligen — erklären will (in gewissem Grade wird sie immer un­erklärbar bleiben), diese Macht ist da, aber sie ist bei weitem noch nicht zu der geschichtlichen Macht geworden, die sie werden könnte. Der Christ ist der Gläubige, der den Frieden tut — sich also nicht auf die Predigt des Friedens und die Überantwortung der Welt an Unfrieden und Sünde be­schränkt. Er weiß, daß dieses Tun nur innerhalb der Gnade möglich ist; daß sein Sieg ein Sieg des befriedeten Innern, des in Christus ruhenden Geistes ist und sich keineswegs in der Welt verwirklichen muß. Das Christentum ist keine Versiche­rung gegen Gefahren, sondern das genaue Gegenteil: Wagnis, leidenschaftlicher Widerspruch zu allem, was nicht Gottes ist, in uns und um uns. Und doch begründet es Macht im Men­schen, eine Macht, die vollkommen echt ist, das heißt in der Übereinstimmung mit der die Welt tragenden Wahrheit be­steht.

Verfolgung und Leiden sind das Los des Christen bis zum Ende. Und doch ist ihm ein Widerstand erlaubt, geboten: er muß rücksichtslos widerstehen, wenn ihm die Sünde geboten, wenn der Verrat gefordert wird. Mit der Sünde schwindet das Gottesreich in ihm; entschließt er sich zur Sünde, wie es ein jeder tun muß, der die Waffe ergreift, so kann er das Got­tesreich schwerlich mehr verteidigen, weil es nicht mehr in ihm ist. Die Feinde des Gottesreichs können ihn und die Sei­nen ans Kreuz schlagen; er wäre erst Christ, wenn er diese Marter weniger fürchtete als die Sünde. Wir dürfen es uns nicht verbergen: es ist heute sehr viel schwerer, Christ zu sein als in den ersten Jahrhunderten; es wird, aller Voraussicht nach, in den nächsten Jahren immer schwerer werden. Ist es des Menschen »heilige Pflicht«, Sünde zu tun: so weiß der Christ nicht mehr, wie er leben soll. Er kann allein Zeugnis ablegen. Wo das Zeugnis ist, da ist das Gottesreich. Es kann dort nicht sein, wo das klare Zeugnis des Lebens und Leidens nicht ist. Untergehen wird es nicht. Und immer wieder wird es sich erweisen, daß in ihm die Möglichkeit unerhörter, ja der einzigen wahren Freiheit ist. Der zur Freiheit drängende Mensch wird nur in dem einen Falle nicht irren, da er sich hingibt an Christus, um in ihm frei zu werden und für dieses Freisein in Christus alles Weltliche zu opfern bereit ist.

Könnten wir auf eine christliche Weltordnung hoffen, wir würden leichteren Herzens in die Zukunft gehen. Aber diese Hoffnung haben wir nicht. Wir haben keine weltliche Ver­heißung, nur ein göttliches Gebot, in dessen Vollzug unser Heil beschlossen ist. Wir haben heute nur die Wollschnur des Pilgers. Haben wir seinen Mut, seine geheimnisvoll kindliche Sicherheit, sein Vertrauen auf die Kraft der Heiligkeit? Der Christ, der in diesem Sinne Person wurde, erscheint als die ei­gentlich zukünftige Gestalt. »Beten die Wölfe auch?« Die Frage hat einen eigentümlichen Doppelsinn. Franz von As­sisi hätte vielleicht mit Ja geantwortet. Und damit wären Westen und Osten einander begegnet. Es geht allein darum, daß — im Westen wie im Osten — der Unglaube getroffen wird von der Tat des Glaubens, von der Macht eines Men­schen, dessen ganzes Leben und Wesen zum Gebet geworden ist, das heißt eingegangen in Gott. Nur ein solcher ist Zeuge. Und die Heraufkunft, die Vollendung der Zeugen ist der In­halt der Geschichte. (13.1.1951)

Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 458-460.

Hier der Text als pdf.

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