Über das Leiden und die Kultur der Analgetika
Von Leszek Kolakowski
Zu den wichtigen, wenngleich wenig beachteten Qualitäten unserer Zivilisation gehört die völlige Abkehr vom Glauben an den Wert des Leidens. Daß das Leiden Quelle eines Wertes ist oder sein kann, diese Überzeugung ist den meisten uns bekannten primitiven Kulturen geläufig und kommt in einer so verbreiteten Erscheinung zu Worte wie in der Strenge oder sogar Grausamkeit der Initiationsriten. Der nämlichen Intuition verlieh die christliche Kultur in allen ihren Bestandteilen einen Ausdruck, in dem das Bedürfnis asketischer Praktiken sowie die ganze systematisierte Schärfe oder sogar Feindseligkeit in den Beziehungen des Menschen zum eigenen Körper gerechtfertigt wurden.
Im landläufigen profanen Denken dominieren bezüglich der archaischen Religionen Vorstellungen in unserer Zivilisation, die die evolutionistische Religionswissenschaft hervorgebracht und verbreitet hat; in jenen Vorstellungen werden Riten wie die Initiationsversuche als Teil eines der Kultur-Teratologie gewidmeten Museums betrachtet, und man verweist sie üblicherweise in die Rubrik »Wildheit der Primitiven«, sie sind nur einer von unzähligen Gründen für das wohlige Überlegenheitsgefühl, mit dem wir, die vom barbarischen Aberglauben Erlösten, auf die dunklen Wahnsinnstaten der primitiven Folklore herabblicken dürfen. Der christliche Leidenskult, der mit fast unverändert gebliebenen Worten seit der Zeit der Humanisten der Renaissance verspottet und gebrandmarkt wurde, erlischt in unserer Zivilisation so gründlich, daß er heute schon fast aus dem Christentum verschwunden bzw. nur noch als unbedeutender Bestandteil der Überlieferung anwesend scheint; das Christentum unseres Jahrhunderts macht seinen triumphierenden Gegnern in seinem Verhalten so viele Zugeständnisse, lebt so sehr in Angst vor der aufklärerischen Kritik und beugt sich unter deren Schlägen, daß es, zumindest in der öffentlichen Lehrarbeit, nicht mehr den Mut aufbringt, zahlreiche Wesensbestandteile seines eigenen traditionellen Weltbildes zu präsentieren, und trennt sein Erbe Schritt für Schritt von denjenigen Elementen, die mit der industriellen Zivilisation deutlich zerstritten sind. Das Modell des Christentums, das ganz offensichtlich in seine siegreiche Phase tritt, ist der am weitesten getriebene Rückzug von der gnostischen, manichäischen, neuplatonischen Tradition; es versucht in maximaler Weise den Anblick der um die Idee der Erbsünde organisierten Welt zu überwinden, die Idee der Makelhaftigkeit der menschlichen Natur und der realen Gegenwärtigkeit des Bösen in der Welt; es will so weit wie möglich von der Plotinschen Verachtung für die Körperlichkeit abrücken. In einer besonders stark entwickelten Version dieses Modells, das die Philosophie Teilhard de Chardins darstellt, wird das Christentum zu einem Glauben an die Erlösung der Materie, zur Heilung jeglichen Seins als einem göttlichen Sprößling, während es die dunklen Weltbereiche gänzlich zu übersehen scheint. Im Unterschied zu den klassischen Theodizeen begnügt sich die Philosophie Teilhards nicht damit, das Böse oder die Sünde als den Rohstoff zu behandeln, der von Gott jeweils unfehlbar zum Bau einer künftigen Welt von Seligen verwendet wird, sie stellt sich vielmehr in einem euphorischen Visionärertum die baldige endgültige Versöhnung der irdischen Welt mit Gott vor, gibt die erzchristliche Idee des permanenten Konfliktes zwischen dem, was vergänglich ist, und dem, was ewig ist, auf und zeichnet einen paradoxen Anblick der Welt, die in ihrer bloßen Diesseitigkeit den Wert des Absoluten erreicht.
Es stimmt, der Kult des Leidens, der den neuplatonischen Wurzeln des Christentums entsprungen ist, war jahrhundertelang ein Werkzeug, das unsagbar schamlos von den Kirchenfürsten zur Rechtfertigung des Unrechts und der Unterdrückung benutzt wurde und der den privilegierten Klassen in maßloser Weise in ihrer Sorge um die Zementierung ihres Privilegs gedient hat. Man kann diesen Umstand gar nicht überbewerten, genausowenig wie es möglich ist, nicht zu bemerken, daß dieser Kult mit jeden Tag seine Lebendigkeit verliert und daß das Modell des Christentums, das in vollendeter Weise auf den Nutzen der privilegierten Schichten zugeschnitten war, irreversibel auf die Positionen einer verzweifelten Defensive übergegangen ist, wobei die Kraft dieses letzten Widerstandes hoffnungslos zerbröckelt.
Es mag eigenartig erscheinen, daß wir die Frage nach dem Wert des Leidens in einer Welt stellen, die weiterhin von Qual, Unterdrückung, Angst und elementarer Not erfüllt ist. Es mag den Anschein haben, als drohe die bloße Frage die Spannung abzuschwächen, der es im hartnäckigen Ringen der Menschen mit der Qual des elementaren Hungers bedarf. Menschenfeindlich ist der Kult des Leidens, aufgefaßt als dumpfe Resignation, als fügsame Einwilligung in die eigene Armut, er ist eine Bejahung des als unvermeidlich angesehenen Übels und aus diesem Grund von einem leeren Nimbus der Erhabenheit umgeben.
Etwas anderes ist es jedoch, die Billigung des masochistischen Leidenskultes abzulehnen, der die Ohnmacht gegenüber dem Bösen maskiert oder die feige Resignation heiligt, und etwas anderes ist es, in der Angstbesessenheit vor dem Leiden Narkotika ausfindig zu machen, die es uns gestatten, die Realität des Bösen nicht in unser Bewußtsein dringen zu lassen oder seine Gegenwärtigkeit durch freiwillige Selbstbetäubung zu nivellieren.
Zu den besonders signifikanten Zügen unserer Zivilisation gehört (die eher praktizierte, seltener ausgesprochene) Überzeugung, daß die Absicherung vor dem Leiden jeden Preis wert sei und daß insbesondere diejenigen Güter, deren Wert sich nicht genau bestimmen läßt und die zugleich nicht ohne Schmerz erworben werden können, Erfindungen von Wirrköpfen oder Überbleibsel des Aberglaubens seien.
Selbst die imposanten Triumphe der Medizin über die Krankheit und den körperlichen Schmerz, Werte also, die am wenigsten umstritten werden und am evidentesten sind, werden nicht erst seit heute mit Phänomenen in Zusammenhang gebracht, die keineswegs die Besorgnis von Philosophen oder religiösen Propheten erwecken, sondern der Ärzte selbst. Die prophylaktische und therapeutische Besessenheit ist Ursache allgemein bekannter Erscheinungen, über die die Medizin die Kontrolle verloren hat: der phantastische Medikamentenmißbrauch, verbunden mit dem stets steigenden Verlust des therapeutischen Effekts dieser Mittel, vor allem jedoch mit Nebenwirkungen, die schädlich sind und ihrerseits therapeutische Maßnahmen verlangen. Diese Phänomene sind seit langem beschrieben worden, seltener wurden ihre Quellen in der Grundeinstellung zum Leben selbst gesucht, die von der industriellen Zivilisation verbreitet wurde. Es scheint, als ob die Angst vor der Krankheit zuweilen bedrohlicher wäre als die Krankheit selber und die Angst vor dem Schmerz schlimmer als der Schmerz, es hat den Anschein, als ob unsere Zivilisation in der Häufung von Hilfs- und Ersatzeinrichtungen für den Organismus einen ausweglosen Weg beschritten hätte; erforderlich wird nunmehr die permanente Erfindung neuer Mittel und neuer Prothesen zur Bekämpfung der unbeabsichtigten negativen Nebenwirkungen, die durch die Anwendung der früheren Mittel und Prothesen entstanden sind. Vor allem der Mißbrauch mit analgetischen, sedativen und neuroleptischen Mitteln scheint geradezu eine Bestätigung der düsteren Diagnosen zu sein, die vor Jahrzehnten von jenen Philosophen gestellt worden sind, die das auszeichnende Merkmal unserer Kultur im fortschreitenden Schwund der biologischen Potenzen des menschlichen Organismus zugunsten künstlicher Ersatzvorrichtungen sahen. Wir gewöhnen uns an einen Lebensrhythmus, der von der einander ablösenden Neutralisation von Weck- und Beruhigungsmitteln bestimmt ist, wie wenn der berühmte Reklameslogan »Besser ein künstliches Bein als ein echtes« seine ersten Triumphe auf dem Gebiet der Neurochemie feiern würde.
Böswillige können diese im übrigen banalen Bemerkungen als Beschimpfung der Medizin oder als kindliche Phantastereien von einer Rückkehr zur Natur betrachten oder als einen Aufruf zur »spontanen Zuversicht gegenüber dem Leben«, wie Gabriel Marcel schrieb. Mir ist jedoch nichts fremder als Utopien eines paradiesischen »natürlichen Zustandes« gleich in welchem Lebensbereich. Man darf dagegen behaupten, daß das Verhältnis der Gesellschaft zur Medizin und die Art, in der sie sich deren Ergebnisse aneignet, nicht als automatische Folge der Entwicklung der ärztlichen Erkenntnis erklärt werden können, sondern jeweils in einem spezifischen Verhältnis zum Leben wurzeln, das für die jeweilige Zivilisation kennzeichnend ist und die Forschungsrichtungen der medizinischen Wissenschaften seinerseits beeinflußt. Die Einstellung zur Medizin in den Industriegesellschaften ist ein Sonderfall der allgemeinen Einstellung zum Leben, die von der permanenten Frage beherrscht wird: werde ich das mir zustehende Glücksteilchen von der Welt erhalten oder nicht? Die obsessive Angst vor dem Leiden, vor dem Mißerfolg, vor der Verschlechterung der eigenen Lebensposition, die obsessiven Neidgefühle gegenüber jenen, die es »geschafft« haben, die Unfähigkeit, Niederlagen und Schmerz selbständig zu verwinden, alles das sind Symptome ein und derselben Erscheinung: des Verlustes unserer Fähigkeit, dem Leben die Stirn zu bieten, des Verlustes von Werkzeugen, mit deren Hilfe der einzelne, kraft seiner eigenen geistigen Bestände, sich das Gleichgewicht angesichts von Niederlagen und Leiden wiedererstatten könnte; der wachsenden Abhängigkeit von einem komplizierten Instrumentensystem, das die gestörte psychische Homöostase von außen her reguliert. In dieser Angst vor einer Situation, in der man jeweils auf die eigene Kraft angewiesen wäre, der Zweifel an sich selbst, den permanenten Anspruch an die Welt, mir ihre Bestätigung zu beweisen, mein Dasein zu akzeptieren, anzuerkennen und dadurch dieses Dasein wahrhaftig werden zu lassen, offenbart sich der fehlende Glaube, über Werte zu verfügen, die es mir ermöglichen würden, selbst geringfügige Niederlagen zu ertragen. Wir beobachten in dieser Furcht die falschen Versuche, die Fremdheit der Welt zu überwinden, und zwar durch Flucht und Verdrängung. Narkotika und Alkohol wirken in demselben Prozeß zusammen; anstatt die Anstrengung der selbständigen Absorption der erfahrenen Unbefriedigtheiten auf sich zu nehmen oder anstatt die Kommunikationsschwierigkeiten mit den anderen zu überwinden, brauchen wir nur nach einer künstlichen psychischen Umwelt zu greifen, die die Unbefriedigtheit in kurzfristige Erregung auflöst oder eine scheinbare Verständigung als »gesellschaftlichen Kitt« schafft.
Die panische Flucht vor dem Leiden scheint dabei verheerender im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und des psychischen Lebens als im Bereich der physischen Beschwerden. Wenn ich sage, daß wir in einer Kultur der Analgetika leben, so denke ich vor allem an die Einrichtungen der Zivilisation, an die Formen der Sittlichkeit und Modi des Zusammenlebens, dank derer wir die Quelle des Leidens vor uns tarnen können, ohne den Versuch zu unternehmen, sie zu beseitigen oder sich ihnen zu widersetzen.
Wir fliehen vor der Todesvorwegnahme, die eine Quelle des Leidens ist, jedoch nicht um die Unvermeidlichkeit des Todes zu domestizieren, sondern um ihn aus dem Feld unserer Aufmerksamkeit zu vertreiben, um die Kollisionen mit Fragen nach letzten Dingen aus dem Leben zu verbannen und um sich restlos in der jeweiligen Unmittelbarkeit des Lebens auflösen zu lassen.
Wir fliehen vor der Liebe, die eine Quelle des Leidens ist oder zu sein pflegt, indem wir uns einen künstlichen Zynismus gegenüber dem gesamten Bereich der Sexualität auferlegen und aus Angst auf die Bereicherungen des Lebens verzichten, die in der Liebe nur selten ohne Schmerz erreichbar zu sein pflegen.
Wir fliehen in den Konformismus und oktroyieren ihn unseren Kindern, verschreckt von dem Spuk der Schläge, die der einzelne von der »Entfremdung« im Milieu erhält, unfähig, wahrhaft zu glauben, daß jeder Versuch der Selbstkonstitution des Menschen eine Überschreitung des Konformismus ist und daß die menschliche Solidarität in Mühe und schöpferischer Arbeit etwas völlig anderes ist als ein Leben, das über die ausgetretenen Pfade des Geschwätzes gleitet, in der anheimelnden Atmosphäre der Eintracht, die sich stets dort erfüllt, wo es keinem um etwas geht.
Wir fliehen vor der Einsamkeit, jedoch nicht in der Weise, daß wir die Einsamkeit auf dem Wege der für beide Seiten bereichernden Kommunikation mit dem anderen zu überwinden versuchen, aufgrund der Wertegemeinschaft; wir werden unfähig, die Einsamkeit in jeder beliebigen Gestalt zu ertragen, wir tragen Transistorgeräte mit uns herum, um uns von keinem einzigen Augenblick überraschen zu lassen, in dem wir nicht in Gesellschaft wären. Uns erscheint jede Pause in der Kommunikation mit dem anderen bedrohlich, die nicht der gegenseitigen Affirmation dient.
Die unbewältigten, lediglich narkotisierten Leiden, die verworfenen, weil schmerzankündigenden Werte, das ohne Anstrengung und Konflikte erreichte Zusammenleben, erzeugen eine menschliche Scheingemeinschaft, die an der geringsten Belastung zerbricht. Wo es kein Gedränge gibt, nehmen wir aufeinander Rücksicht, damit hat es sich; eine Gemeinschaft, die nur darauf beruht, daß man sich nicht gegenseitig anrempelt, wo es genug freien Raum gibt, geht sofort unter, wenn es enger wird. Wir rechnen damit, daß sich die Enge stets verringern wird und daß unsere Gemeinschaft daher zulänglich ist; das sind jedoch vage Kalkulationen, und es genügt, sie an den demographischen Prognosen zu messen.
Die Kultur der privilegierten Klassen hat verschiedene Formen der Höflichkeit und des Salon-savoir-vivre hervorgebracht, d. h. Regeln des Nichtanrempelns unter Menschen, denen genügend Platz zur Verfügung steht; diese Regeln verlieren ihre Wirkung vollends, wenn tatsächliche Interessenkonflikte auftreten. Die Kultur der benachteiligten Klassen hat eine Form realer Gemeinschaft und Hilfe geschaffen, einer Gemeinschaft in der Not, einer Hilfe in der Gefahr. Die zeitgenössische Zivilisation hingegen baut das Gefühl der Gemeinschaft jener, die Not leiden, und die Fähigkeit zu gegenseitiger Hilfe der gemeinsam Bedrohten immer stärker ab, ohne das Gefühl der Not und der Bedrohung abzuschaffen. Not und Bedrohung bringen die Menschen nicht mehr einander näher.
Die Kultur der Analgetika ermöglicht die scheinbare Überwindung der Einsamkeit und eine scheinbare Solidarität von minimaler Haltbarkeit. Die Unfähigkeit, Leiden zu ertragen, ist die Unfähigkeit, an der realen menschlichen Gemeinschaft teilzunehmen, das heißt an einer solchen Gemeinschaft, die sich ihrer Grenzen, die sich aller Potenzen des Konfliktes bewußt ist, die sie enthält und die bereit ist, ihre Grenzen auf die Probe zu stellen.
Die Gemeinschaft jener, die zusammen vor dem Fernseher sitzen, die Gemeinschaft jener, die gemeinsam gebannt auf den Sportplatz schauen, die Gemeinschaft jener, die gemeinsam in einem Bett liegen, das sind sicherlich Kommunikationsformen, die Spannungen erzeugen, welche gemeinsam erfahren werden, die Kraft dieser Spannungen geht aber nicht über das Niveau der Schwelle hinaus, die nötig ist, um den Antagonismus zu entschärfen, der zwischen Menschen besteht, die gemeinsam in einer Schlange anstehen, die gemeinsam in einem überfüllten Zug fahren, die gemeinsam auf eine Wohnungszuteilung waren, die gemeinsam nebeneinander auf der Straße fahren.
Die Narkotisierung des Lebens ist der Feind der menschlichen Gemeinschaft. Je unfähiger wir werden, das eigene Leiden zu ertragen, desto leichter fällt es uns, fremdes Leiden zu dulden. Je schlechter wir die Einsamkeit tolerieren können, desto mehr Einsamkeit erzeugen wir. Je mehr uns daran gelegen ist, uns auszuzeichnen, desto stärker bleiben wir den Konformismen verhaftet. Wir wünschen uns ständig ins Zentrum der Mode, d. h. wir möchten in den Genuß der vollkommenen Durchschnittlichkeit gelangen und zugleich die Aufmerksamkeit durch vorteilhafte Nichtdurchschnittlichkeit auf uns ziehen. Diesen widersprüchlichen Wünschen, die uns mit dem Rhythmus der Veränderungen Schritt halten und zugleich die löbliche Unwiederholbarkeit des eigenen Rhythmus betonen heißen, entspringt die unausbleibliche Akzeleration in der Bewegung der Mode: man kann nicht deshalb nur für kurze Zeit modern sein, weil Mode schnell wechselt, im Gegenteil, die Mode wechselt deshalb so schnell, weil man nur kurz modern sein kann; ich bin echt modern nur für die Dauer eines unbestimmten Augenblicks auf dem Höhepunkt des Trends; eine Mode, die sich einbürgert, tötet sich durch die eigene Festigung, das, was allgemein modern ist, ist bereits dadurch unmodern; echt modern kann nur dasjenige sein, was noch nicht modern ist, und zwar einen Augenblick und nur einen einzigen Augenblick lang, bevor es modern ist. Die Labilität der Mode ist das Resultat des unerreichbaren, weil innerlich widersprüchlichen Verlangens, das im Streben nach dem »Modischen« liegt, danach, vollendet unwiederholbar zu sein innerhalb des vollendeten Konformismus. Nur die rein physischen Beschränkungen in der Produktion und im Tempo der Informationsverbreitung begrenzen die Wechselhaftigkeit der Mode.
Jene paradoxe Furcht vor dem Verlust der Durchschnittlichkeit als einem Verlust seiner selbst, jenes panische Verlangen nach Durchschnittlichkeit, das mich zum Überdurchschnittlichen stempeln soll, ist jedoch nur die krasseste Erscheinungsform einer Zivilisation, die vom akzelerierten Zerfall der traditionellen Gemeinschaften beherrscht ist. Wenn ich die gesamte außerhalb meiner liegende Welt als mein Wohlfahrtssystem betrachte, wenn mein Interesse ausschließlich auf die permanente Unruhe gerichtet ist, daß ich von der Welt nicht das mir Gebührende erhalten könnte, wenn ich der Auffassung bin, daß die Welt mein Eigentum ist als Speicher meiner Genugtuung, ohne daß sie es als Gegenstand meiner Sorge wäre, können meine Verhaltensweisen nur in dem Maße erfolgreich sein, in dem ich eine Ausnahme in dieser Einstellung repräsentiere, d. h., in dem die ganze Welt übereinstimmend gewillt ist, meine Forderungen in dieser asymmetrischen Beziehung anzuerkennen. Ein vollkommener Egoist nach dem Muster von Max Stirner kann nur ein Einziger sein, es muß also ein Gott sein, den die restliche Welt als einen Gott anzuerkennen gewillt ist, indem sie sich auf die Ungleichheit angesichts seiner Ansprüche einigt. Eine Sozietät von vollkommenen Egoisten kann nicht bestehen ohne permanente Verhinderung der Gelüste jedes einzelnen Egoisten. Die Unarten eines verwöhnten Kindes können erfolgreich sein, solange es unter der Obhut von Erwachsenen verbleibt; in einer Gemeinschaft von lauter verwöhnten Kindern erreicht keines das Ziel, das es anstrebt. Der Zynismus und die Rücksichtslosigkeit der Erwachsenen sind die Eigenschaften der verwöhnten Kinder, die damit rechnen, daß die gesamte restliche Menschheit sich unendlich lange aus nachsichtigen Erwachsenen zusammensetzen werde; je zahlreicher die verwöhnten Kinder werden, je seltener Erwachsene in greifbarer Nähe sein werden, desto mehr verlieren die Kinder den Boden unter den Füßen und können die eigenen Niederlagen nur noch dem Umstand zuschreiben, daß sie noch nicht genügend verwöhnt waren.
Quelle: Leszek Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, aus dem Polnischen übersetzt von Peter Lachmann, München: Piper, 1973, S. 112-120.