Claus Westermann, Gesundheit, Leben und Tod aus der Sicht des Alten Testaments: „Die Gotteserfahrung Israels hat mit der Erfahrung einer Rettung eingesetzt; diese Erfahrung weitete sich ganz von selbst aus: dieser Gott hat alles in Händen. Weil der Retter der Schöpfer ist, der Schöpfer des eigenen Lebens und der Schöpfer Himmels und der Erden, kann alles mit ihm in Verbindung gebracht werden. Dazu bedarf es nicht des Glaubens; es kann gar nicht anders sein, als daß Gott mit allem zusammengehört, was geschieht, auch wenn es widersinnig, empörend ist.“

Gesundheit, Leben und Tod aus der Sicht des Alten Testaments

Von Claus Westermann

Im Buch Jesaja wird erzählt, wie der König Hiskia schwer erkrankte, wie er aus seiner Krankheit zu Gott um Heilung flehte und ihm durch den Propheten Jesaja die Heilung zugesagt wurde. Und dann ist an dieser Stelle ein Psalm eingefügt, das Dankgebet des Hiskia bei seiner Genesung, das mit den Worten endet:

»Nicht lobt dich die Unterwelt, der Tod preist dich nicht;
Leben, Leben, das lobt dich, wie ich dich heute!«

Das Wort ist uns aus der dargestellten Situation heraus völlig verständlich; dennoch bringt es ein Verständnis von Leben und Tod zum Ausdruck, das nicht das unsere ist. Der Tod wird in diesem Wort charakterisiert als der Ort oder der Bereich, in dem das Loben oder Preisen Gottes aufgehört hat, nicht mehr da ist; das Leben aber hat seine Eigentlichkeit darin, daß es Gott lobt. Loben oder Preisen gehört für uns zu dem, was wir Gebet nennen; Gebet aber ist für uns nicht etwas das Leben, das Dasein Charakterisierendes, sondern etwas zum Dasein Hinzukommendes; wir sehen nebeneinander die Menschen, die beten, und die, die nicht oder nicht mehr beten; aber sie leben beide; wir können nicht mehr sagen, daß die einen leben, die anderen nicht. Wir können auch nicht einfach zu dem Verständnis von Leben und Tod zurück, wie es sich in dem Psalm des Hiskia ausspricht; wenn er überhaupt etwas für uns bedeuten soll, dann nur so, daß er uns hilft, nach vorn zu denken, in unsere Zukunft hinein, damit wir ein neues Verständnis von Leben und Tod gewinnen.

Was meint der genesene König mit dem Wort: »Leben, Leben, das lobt dich, wie ich dich heute!«? Eins ist jedenfalls sicher: der König freut sich seines wiedergeschenkten Lebens; so weit verstehen wir ihn; wir haben keine Schwierigkeit, das nachzuvollziehen. Das wiederholte Wort Leben spricht deutlich genug; der Satz ist keine Feststellung oder Aussage, er ist Ausdruck einer Emphase, einer Bewegtheit der ganzen Existenz, er ist wie das Aufatmen des aus den Fängen des Todes Erretteten, des Befreiten; der Satz ist zu Wort kommende Freude, und das ist Loben. Das ist grundlegend für das Verständnis von Leben im Alten Testament: Mit Leben ist von vornherein etwas gemeint, dessen man sich [154] freuen kann; Lebensfreude ist nicht etwas, was zum Leben erst hinzukommt, sie ist ein Proprium des Lebens, etwas, was dem Leben eignet, was das Leben erst zum Leben macht. Wo es keine Freude gibt, da gibt es kein Leben. Aber was ist Freude? Das weiß jeder. Die Frage mag dumm erscheinen. Aber so einfach ist es damit nicht. Wir kennen das häßliche Lachen. Wir kennen das Lächeln des Peinigers. Freude also ist mehrdeutig. Sie ist ein geschichtliches Phänomen. Das individualistische Denken hat aus der Freude etwas Flaches, Eindimensionales gemacht. Sie ist also nicht ein Gefühl, das ein einzelner hat und ein einzelner äußert. Freude hat es immer in irgendeiner Weise auch mit den anderen zu tun. Freude will sich mitteilen, will ausstrahlen, will andere zur Freude rufen, das Lachen steckt an, die Gesten der Freude greifen auf die Danebenstehenden über. Aber die Freude hat noch eine dritte Dimension. Sie ist uns fast verloren, aber sie kann nie ganz verloren werden, Alle Freude in den Höhepunkten ist ekstatisch, sie tritt aus sich heraus, über sich hinaus. Als ein säkularisiertes Beispiel dafür führe ich das Lied an die Freude von Schiller an

»Seid umschlungen, Millionen,
diesen Kuß der ganzen Welt,
Brüder, überm Sternenzelt
muß ein guter Vater wohnen. «

Wenn Sie von dem idealistischen Pathos absehen können, erkennen Sie hier ganz deutlich die drei Dimensionen der Freude: Sie ist Gefühl des Sich-Freuens, sie hat es aber zugleich mit den anderen und mit Gott zu tun. Die echte Freude hat in sich die Kraft des Transzendierens, Das ist im Alten Testament mit Gotteslob gemeint: zu Wort kommende Lebensfreude, die sich über sich hinaus freut: »Leben, Leben, das lobt dich!«

Den drei Dimensionen der Freude entsprechen im Alten Testament die drei Dimensionen des Leides. Sie brauchen nicht erst erschlossen zu werden, sie zeigen sich in der dreidimensionalen Struktur der Klage. Klage ist zu Wort kommendes Leid, wie Lob zu Wort kommende Freude ist, Auch die Klage ist für uns weithin eindimensional geworden: das individualisierte Sich-Beklagen. Als solches ist es in Verruf gekommen: »Lerne leiden, ohne zu klagen.« »Er hat nie geklagt.« »Ein Christ hat immer zu danken. «

Im Alten wie im Neuen Testament ist das Klagen ein notwendiger Ausdruck des Lebendig­seins. Die Klage ist die notwendige Entsprechung zum Lob, wie das Leid zur Freude. So wie die Freude sich äußern, zu Wort kommen will, so will das Leid sich äußern, zu Wort kommen. Und es kommt zu Wort, indem der Leidende sich selbst beklagt, die [155] anderen verklagt und Gott anklagt. Wo im Alten Testament Klage zu Wort kommt, sind diese drei Glieder der Klage zu erkennen.

Aber was ist hier mit Leid gemeint: Es wird als die sich auswirkende Macht des Todes erfahren. Das Alte Testament hat ein anderes Verständnis des Todes als die Moderne. Tod ist in das Dasein hinein wirkende Macht. Was die Krankheit zum Leid macht, ist ihre Kraft, den Menschen vom Leben abzuschneiden: die Krankheit sondert ab, isoliert vom Leben der Lebendigen und Gesunden; und eben darin ist der Tod wirksam. Was die Einsamkeit zum Leid macht, ist ihre Kraft, den Menschen vom Leben abzuschneiden, die Einsamkeit isoliert vom Leben, wenn auch in anderer Weise als die Krankheit. Die in der Einsamkeit wirkende Kraft ist die Kraft des Todes. Dasselbe ist bei jeder Art des Leides zu zeigen. bei Hunger und Durst, Schwermut, Verzweiflung, Langeweile, Unterdrückung, Gefangenschaft, Schande und vielem anderen. In alledem wirkt in irgendeiner Weise die Einengung des Lebens oder die Absonderung vorn Leben, und die Kraft dieser Absonderung ist die Kraft des Todes. Jede Leidklage also hat es direkt oder indirekt mit dem Tod zu tun; die Kraft in allem Leid ist die Kraft des Todes: Tod ist in das Dasein hinein wirkende Macht. Die Psalmisten des Alten Testamentes bringen das dadurch zum Ausdruck, daß sie in vielfacher Weise das Leid, das sie befallen hat, mit dem Tod identifizieren: »Mache hell meine Augen, daß ich nicht zum Tode entschlafe!« »Sei mir gnädig, Herr, der du mich hochhebst aus den Pforten des Todes!«

In den Lobliedern der Erretteten wird häufig zurückgeblickt auf das hinter ihnen liegende Gefangensein vom Tode:

Ps. 56,14: »Du hast meine Seele vom Tode errettet!«

Ps. 22,16: »In den Staub des Todes legtest du mich.«

Jona 2,7: »Du brachtest mein Leben herauf aus der Grube, Jahwe, mein Gott!«

Ps. 30,4: »Jahwe, du hast mich herausgebracht aus der Scheol.«

Ps. 86,13: »Du hast meine Seele errettet aus der Scheol drunten. «

Jes. Sir. 51,2: »Du hast mich erlöst … aus dem tiefen Schlunde der Scheol, «

Das sind nur wenige Beispiele. Sie zeigen, daß der Tod hier eigentlich und wesentlich mitten im Dasein erfahren wird als eine Kraft, die das Leben beengt, beeinträchtigt, bedroht. Was der Tod ist, erfährt ein Mensch im Zugehen auf den Tod, im Zugehen des Todes auf ihn, im Erfahren der lebensbedrohenden und lebensmindernden Macht des Todes. Das physische Sterben ist dann der Abschluß dieses Einwirkens der Macht des Todes. Das eigentliche Kennenlernen des Todes vollzieht sich [156] im Verlauf des Lebens, nicht erst im Augenblick des physischen Ablebens.

Damit ist deutlich, daß das Verständnis von Leben und Tod im Alten Testament einander entsprechen: Leben ist erfülltes und heiles Leben, Leben ist da in der Freude am Leben, Leben ist ein Aussein-auf, ein Sichfreuen-auf, ein Vorausschreiten. Und Tod ist die diesem Leben entgegengesetzte, es hemmende und bedrohende Kraft. Leben und Tod verhalten sich also zueinander wie zwei einander entgegenwirkende Kräfte, wobei die Macht des Todes in das Leben hineinzuwirken vermag, das Leben der Einwirkung der Macht des Todes offen ist, der Mensch aber mitten im Leben die Errettung aus dem Tode, das heißt aus der Macht des Todes erfährt. Im modernen Denken sind die Begriffe »Leben« und »Tod« nicht von der Erfahrung, sondern vom Konstatieren her konzipiert: Leben ist da, wo bestimmte physische Phänomene, wie Atem und Blutkreislauf konstatiert werden können; Tod ist da, wo das Aufhören dieser Phänomene konstatiert ist: exitus. Man kann diese Auffassung graphisch darstellen durch eine horizontale Linie, die. irgendwo senkrecht abfällt in die Vertikale.

Leben und Tod in ihrer Bezogenheit aufeinander werden erfahren in den drei Grundbeziehungen, die sich in den Daseinsäußerungen von Freude und Leid fanden: im Selbstsein des Menschen, im Zusammensein mit andern, in seinem Gegenüber zu Gott.

1. Der Mensch versteht sich als einzelner von vornherein als von Gott geschaffen und in seinem Selbstsein von vornherein als mit anderen zusammen existierend, das Ursprüngliche ist also die Einheit der drei Bezüge. Von daher ist das Selbstsein, das Leben des einzelnen Menschen zu verstehen. Ein einzelner ist der Mensch zunächst in seinem Geborenwerden und Sterben: Sein Herkommen von der Geburt und sein Hingehen auf den Tod bestimmen sein ganzes Dasein. Das Leben des einzelnen also ist Leben nur in dieser Erstreckung, oder, anders gesagt: in jedem. Augenblick seines Lebens ist seine Geburt da und ist sein Tod da. Darin ist seine Einzigkeit begründet. Leben ist etwas, was alle Menschen, alle Lebendigen verbindet; Leben aber ist genauso etwas, was es jeweils nur als einziges gibt. In diesem paradoxen Tatbestand ist Geschichte begründet: Die Einzigkeit des einzelnen Menschenlebens bedingt die Unerschöpflichkeit der Menschengeschichte. Sie hat ihre notwendige Auswirkung auf die beiden andern Daseinsbezüge: der einzelne teilt die Elemente des Menschseins mit allen anderen Menschen vor ihm, nach ihm und neben ihm. Aber in seinen Begegnungen mit andern geschieht Einzigartiges. Der einzelne ist Gottes Geschöpf wie alle andern Men-[157] schen; aber mit ihm hat sein Schöpfer eine Geschichte, die es nur einmal in der gesamten Menschengeschichte gibt. Wird dem Leben des Menschen dieser Charakter des Einmalig-Einzigartigen genommen, dann ist das nicht mehr das Leben, zu dem der Mensch geschaffen wurde.

Der Mensch wurde zum »lebendigen Wesen« geschaffen, das heißt aber: der Mensch ist Mensch nur in seinem Lebendigsein, das Lebendigsein ist mit dem Menschsein identisch. Es ist dann nicht mehr möglich, daß man sich vom Menschen ein Bild macht, ein »Menschenbild« ist niemals identisch mit dem wirklichen Menschen. Ebenso fragwürdig ist es dann, vom »Wesen« des Menschen zu reden, wenn man damit etwas vom Lebendigsein des Menschen Abstrahiertes, Statisches meint. Man kann dann auch den Menschen nicht auf eine Eigenschaft festlegen, indem man proklamiert: der Mensch ist böse oder: der Mensch ist gut. Man kann durchaus beides je in besonderem Zusammenhang sagen; aber man kann das Wesen des Menschen weder auf das eine noch das andere festlegen. Der Mensch ist böse und der Mensch ist gut; in seinem Lebendigsein ist er gut und böse.

In dem Herkommen des Menschen von der Geburt und dem Zugehen auf den Tod ist es auch begründet, daß das Lebendigsein im Alten Testament immer nur in dieser Erstreckung verstanden werden kann, anders ist es nicht Leben. Das heißt aber: in dem von der Geburt zum Tod sich erstreckenden Lebensbogen. In der Erschaffung ist der Mensch von seinem Schöpfer gesegnet worden, es wurde ihm Lebenskraft und darin die Kraft der Fruchtbarkeit verliehen. Diese Lebenskraft bewirkt den von der Geburt zum Tod führenden Daseinsbogen, in dem allein es Leben, Lebendigkeit gibt. Das ist nicht so selbstverständlich wie es scheint. Es bedeutet zum Beispiel, daß jedes Stadium auf dem aufsteigenden wie auf dem absteigenden Lebensbogen seine volle, ungekürzte Bedeutung für das Menschenleben hat. Das Kindsein hat nicht nur seine Eigenbedeutung für die Jahre bis zur Reife, sondern Elemente des Kindseins bleiben wesentlich für das ganze Dasein (das Staunen, das Spielen z. B.). Die Zeit der Jugend und des Reifens ist entwertet, wenn sie nur noch als Vorbereitung für das Erwachsensein gewertet wird. Das Alter ist nur dann ein menschlicher Bestandteil des Menschenlebens, wenn es etwas für den ganzen Lebensbogen bedeutet. Wenn die Alten nur noch »betreut« werden, wenn ihre Funktion in der Gemeinschaft nur noch eine passive ist, können sie auch gleich getötet werden. Jede Überbetonung einer Phase des Lebensbogens ist vom Übel; jede Phase hat ihren sinnvollen und notwendigen Anteil am Leben.

Daß im Alten Testament das Leben des Menschen nicht anders Leben [158] ist als in dem von der Geburt zum Tode führenden Daseinsbogen, bestimmt auch das Verständnis des Todes des einzelnen. Wir sahen, daß im Alten Testament der Tod in das Dasein hineinragende Macht ist. Daraus folgt, daß auch der Tod nur im Zusammenhang mit dem Daseinsbogen, der die Geburt eines einzelnen mit dem Tod eines einzelnen verbindet, gesehen werden kann. Der Tod eines einzelnen Menschen hat an der Einzigkeit des Lebensbogens Anteil, den er abschließt. Es ist genau die gleiche Paradoxie zu beobachten wie beim Leben: Der Tod ist allen Menschen gemeinsam, alle Menschen gehen auf den Tod zu; aber niemals ist das Sterben eines Menschen gleich wie bei irgendeinem andern. Es ist also ein grundlegend verschiedener Vorgang, ob ein Säugling, ein Kind, ein junger Mann oder ein junges Mädchen, ein Mann oder eine Frau in der Vollkraft ihres Schaffens oder ein alter Mann, eine alte Frau stirbt. Im Alten Testament treten diese Unterschiede sehr deutlich heraus. Von dem Tod nach einem erfüllten Leben kann gesagt werden: »Er starb alt und lebenssatt. « Aber auch von einem alten Mann kann gesagt werden, daß er »mit Kummer in die Grube fahren« muß; wenn nämlich die Macht des Todes sich in seinem Dasein auswirkt durch den Verlust des geliebten Kindes und es deswegen nicht ein erfülltes Dasein geben kann. Hier zeigt sich besonders deutlich, daß der Tod eines Menschen immer sein eigener Tod ist und niemals das gleiche Ereignis wie der Tod eines anderen Menschen.

In der christlichen Tradition und dem christlichen Ritus ist dieser Tatbestand sehr, zu sehr zurückgetreten gegenüber dem in jedem Sterben Gleichen. Die christliche Deutung des Todes hat das Wort des Paulus »Der Tod ist der Sünde Sold« einseitig bestimmend sein lassen als das in jedem Tod Gleiche. Auch das Alte Testament kennt einen Zusammenhang von Sünde und Tod, wie ihn der 90. Psalm und Genesis 3 zeigen. In Genesis 3 aber ist der Tod nicht die Strafe für die Verfehlung der Menschen; die Strafe ist die Vertreibung aus dem Garten und das heißt: aus der Nähe Gottes — das irdische Dasein, zu dem nun die Verfehlung und das Sterbenmüssen, die Grenze des Todes gehört. Die in Aussicht gestellte Todesstrafe tritt nicht ein, vielmehr werden die Menschen in ein Dasein entlassen, in dem sie Raum und Freiheit zu ihrem eigenen Leben in seiner ganzen Erstreckung haben. Das Verhältnis des Sterbens eines einzelnen zu der Sünde dieses einzelnen hat ebenso an der Einzigkeit dieses einen Daseins teil und ist allein von Gott, nicht aber von den Menschen zu verrechnen.

In dem Roman von Olaf Duun »Die Juwikinger« wird vom Tod eines Mannes erzählt, der zwar nicht seine Jahre erfüllt hatte, aber in einer [159] Situation starb, in der man einen Sinn in seinem Sterben sehen konnte. Auf das konventionelle Reden von dem furchtbaren, plötzlichen Tod hin sagt der Großvater Andes: »Ja, aber ein guter Tod.« Später wird von einem Sektenprediger erzählt, der in der Stube dieses Bauern eine Erweckungspredigt hält. Auf dem Höhepunkt seiner Predigt droht er mit dem Tod: »Der Tod bekommt euch alle zu packen, vielleicht schon morgen!« Da unterbricht der Großvater Andes die Predigt: »Nun ist es aber genug!« und wirft den Sektenprediger hinaus. Hier übt der Schriftsteller eine Kritik, die wohl berechtigt ist.

Zum Leben des einzelnen gehört die Gesundheit. Erkundigt sich im Alten Testament einer nach dem Ergehen des andern, fragt er, wörtlich wiedergegeben: »Ist dir Frieden?« Das Wort shalom bedeutet Ganzsein, Heilsein, und dazu gehört auch die Gesundheit. Krankheit ist im Alten Testament nicht ein Bestandteil des Lebens, sondern ein Bestandteil des Todes. Das Lebendigsein des Kranken geht während einer schweren Krankheit nicht einfach weiter, es wird vielmehr durch die Krankheit gemindert, bedroht, eingeengt. Ein Kranker ist nicht ein in vollem Sinn Lebender. In der Krankheit ist der Tod am Werk; der Tod hat in einem gewissen Maß Macht über den Menschen gewonnen (vgl. die Zitate aus den Psalmen), Der Gedanke an den Tod wird daher nicht vorm Krankenbett weggescheucht, die Todesgefahr wird nicht dauernd kleingemacht oder ignoriert, vielmehr weiß jeder Kranke, daß er es in der Krankheit mit dem Wirken des Todes zu tun hat, ob er nun nahe oder fern ist. Die Krankheit also ist ein wichtiger Ort der Begegnung mit der Mächtigkeit des Todes. Die Krankheit hat gerade darin eine positive Funktion im Daseinsbogen des einzelnen, daß sie ihn nötigt, an den Tod zu denken und mit dem Tod zu rechnen. Eben darin, daß er bewußt dem Tod begegnet, wird sein Lebendigsein gestärkt, wird er tüchtig für das Leben. Darin ist es auch begründet, daß der Genesene, der Geheilte die Heilung hier viel intensiver erfährt als dort, wo man mit allen Mitteln die Bedeutung der Krankheit herunterdrückt und herunterhält; wenn er die Heilung als Rettung aus den Fängen des Todes erfährt, dann ist es für ihn wirklich so.

An dieser Stelle aber geht das Sein des einzelnen unmittelbar über in das Sein gegenüber Gott: Es ist diese Intensität der Begegnung mit dem Tod in der Krankheit, die ihn die Heilung als Rettung erfahren läßt, das heißt als das Retten eines Rettenden.

2. Wenn wir sahen, daß im Alten Testament Leben identisch ist mit erfülltem Leben oder heilem Leben, dann ist darin eingeschlossen, daß mit Leben niemals nur das isolierte Leben eines einzelnen Menschen [160] gemeint sein kann. In der Erzählung von der Erschaffung des Menschen heißt es dort, wo Gott den Menschen aus Erde geschaffen und ihm Leben eingehaucht hat, der Mensch also gewissermaßen fertig ist, daß er so noch nicht gut ist. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein ist. « So gehört zur Menschenschöpfung die Begründung der Menschengemeinschaft: Mensch im vollen Sinn ist nur der Mensch in Gemeinschaft, das Leben des isolierten einzelnen ist nicht eigentliches, nicht wirkliches Leben.

In der Schöpfungserzählung ist aber auch noch gesagt, daß zum Menschenleben, wie es von Gott geschaffen wurde, die Versorgung mit Nahrung und die Beschäftigung, die Arbeit gehört. Daß Versorgung (Nahrung), Arbeit und Gemeinschaft zum Menschenleben, wie es der Schöpfer schuf, gehören, bedeutet, daß man es immer mit diesem allem zu tun hat, wo man es mit dem Menschen zu tun hat. Für den Theologen bedeutet dies: Eine theologische Anthropologie ist bloße Theorie, wenn sie den Menschen in seiner Gottesbeziehung isolieren will. Für den Mediziner bedeutet das: Die Behandlung des erkrankten menschlichen Körpers kann nicht davon absehen, daß der gesunde menschliche Körper eben nicht nur dies ist, sondern daß das Leben des gesunden Menschen die Versorgung, die Arbeit und das menschliche Miteinander umfaßt. Alle Differenzierung des heilenden Wirkens der medizinischen Wissenschaft und Praxis in Psychotherapie, Psychosomatik, Beschäftigungstherapie, Sozialmedizin kann doch nur weiterführen, wenn ein Umdenken in dem entscheidenden Punkt einsetzt: daß jeder Mediziner und alle Zweige der medizinischen Wissenschaft und Praxis es mit dem ganzen Menschen zu tun haben, das heißt mit dem Menschen in all seinen Daseinsbezügen. Dasselbe gilt für die Soziologie, die Psychologie … Hier kann das biblische Reden vorn Menschen in der Gegenwart etwas ausrichten: Hier ist es mit der größten Selbstverständlichkeit gesagt, daß das Leben des Menschen heiles Leben nur sein kann, wenn alle Aspekte des Menschseins in dieses Heilsein einbezogen sind: die Gottesbeziehung ebenso wie das Verhältnis zu den anderen Menschen ebenso wie die Nahrung und die Arbeit und die Gesundheit. Die Folgerung daraus kann nur sein, daß bei aller Lebensförderung die Grundtendenz auf Integration gehen muß und die notwendige Differenzierung sich ihrer Grenzen bewußt bleibt.

Ich beschränke mich jetzt auf die Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben. Für das Denken des Alten Testamentes ist die Gemeinschaft vor dem einzelnen da, der einzelne findet sich immer schon in einer Gemeinschaft vor, und wirkliches Leben gibt es für den einzelnen nur im Zugehören zu einer Gemeinschaft, Die zum Leben des Menschen gehö-[161]rende Gemeinschaft aber ist eine vielfältige. Es ist das Normale, daß ein Mensch in seinem Leben vielen Gruppierungen angehört; schon die Familie enthält in sich viele Gemeinschaftsformen. Das Lebendige in den vielen Gemeinschaften, denen ein Mensch angehört, besteht im Wechselgeschehen zwischen ihnen, im Austausch, Ausgleich und Gleichgewicht. Dieses Lebendige in den Gemeinschaften wird bedroht, wo sich eine Gemeinschaft auf Kosten der anderen verabsolutieren will.

Im Alten Testament zeigt sich das daran, daß die Geschichte des Volkes Israel eine Geschichte immer wechselnder Gemeinschaftsformen ist, in der sich aber durchgehende, konstante Elemente erkennen lassen. Daß das Leben des Menschen sich nur gesund in Gemeinschaft vollziehen kann, bedeutet also gar nicht, daß gewisse Gemeinschaftsformen wie Familie, Staatsvolk, Kirchengemeinde vorgegeben sind und der Mensch sich nur in ihnen bewegen und betätigen muß. Es ist vielmehr das Normale, das dem Leben Entsprechende, daß Gemeinschaftsformen sich wandeln und das Mitleben in den Gemeinschaften für solche Wandlungen offen und bereit ist. Das Lebendige also besteht im Wechselspiel der Kräfte des Bewahrens und der Kräfte des Erneuerns und Umwandelns, wie es sich etwa im Alten Testament bei der Einführung und nach dem Zusammenbruch. des Königtums zeigt.

Das gleiche gilt für die Christengemeinde. Daß sie eine von der Wandlung der Menschheit außerhalb der Kirchen unberührte Größe ist, die dazu da ist, sich selbst zu erhalten und eine einmal geprägte Form möglichst unberührt zu bewahren, glaubt heute kaum jemand mehr. Daß der Mensch zur Gemeinschaft geschaffen ist, kann in der Kirche wohl am besten darin bejaht werden, daß die Kirche aus ihrer reichen und vielfältigen Tradition heraus dem Menschen der Gegenwart in den vielfältigen Vereinigungen, denen er angehört, zur Gemeinschaft hilft und der Gemeinschaft zu neuem Leben hilft. Das Zusammenkommen im Gottesdienst hat es dann nicht nur mit einer herausgesonderten Christengemeinde zu tun, sondern diese weiß sich herausgesondert für die anderen, und die Gemeinschaft im Abendmahl ist dazu da, daß heile Gemeinschaft an den Lehrstätten, in den Krankenhäusern, in den Familien, an den Arbeitsplätzen sei. Das wird solange nicht möglich sein, als sich die Gemeinschaft der Christen als eine an und für sich höhere und bessere Gemeinschaft versteht (»Wir sind doch Brüder!« – die andern nicht) als Gemeinschaft sonst unter den Menschen. Von dieser Erkenntnis her hat die Christenheit eine großartige Aufgabe an aller Menschengemeinschaft.

Auch der Tod eines Menschen hat etwas mit der Gemeinschaft zu [162] tun; er geht nicht nur den einzelnen an. Die Beziehung des Todes zur Gemeinschaft ist eine dreifache:

a) Das Alte Testament kennt als Ausdruck für das Sterben: »Zu den Vätern versammelt werden. « Der Satz ist nicht als Vorstellung von einem Leben nach dem Tod gemeint; er ist der Ausdruck eines den Tod bejahenden Zugehens auf ihn: Der Gestorbene kommt durch den Tod dahin, wohin er gehört, zu denen, zu denen er nun gehört, denen nämlich, die ihm dorthin vorausgegangen sind. Die, von denen er im Tod fortgeht, sind nicht mehr seine Generation; je älter er wird, desto fremder wird er ihnen. Im Tod kommt er wieder mit denen zusammen, die seiner Welt zugehörten, als er noch wirklich lebte. Es ist gut und richtig und tröstlich, daß er wieder mit ihnen zusammenkommt.

b) Etwas vollkommen anderes ist der Tod, der eine Lebenseinheit, eine Ehe, eine Familie, eine Freundschaft zerreißt. Hier ist der Tod im gleichen Sinne in das Dasein wirkende Macht wie in schwerer Krankheit. Indem der Tod die junge Frau oder die gerade erwachsenen Söhne wegrafft, trifft er in erster Linie die Lebensgemeinschaft, die durch diesen Tod zerstört wird. Wenn den Eltern, die kein Kind mehr zu erwarten haben, der einzige Sohn genommen wird (Abraham), dann kann dieser Tod nur erfahren werden als Zerstörer der Zukunft der Familie; denn Zerstörung am Leben ist der eigentliche Schlag des Todes. Genauso wird der Tod eines jungen Königs erfahren (Klagel. 4,20), auch hier trifft der Tod in erster Linie die Gemeinschaft und das, was der Gestorbene für die Gemeinschaft bedeutet. Das machtvolle Einwirken des Todes in das Leben hinein hat es hier sogar mehr mit der Gemeinschaft als mit dem einzelnen zu tun.

c) Der Tod hat noch eine dritte Beziehung zur Gemeinschaft, im Erfahren des Sterbenden, des auf den Tod Zugehenden selbst. Es ist nämlich ein Unterschied, ob einer geborgen oder ungeborgen stirbt. Der geborgene Tod, ob er ein Tod im Krankenbett oder auf dem Kampffeld ist, kann sich an etwas halten, was sein Sterben mit dem Leben verbindet; dies kann im Dabeisein der nächsten ihm Angehörigen da sein oder im bloßen Denkenkönnen an ein Zugehören. Es ist dieses geborgene Sterben, was den mit dem Tod verbundenen Riten ihre eigentliche Bedeutung gibt, etwas der ganzen Menschheit Gemeinsames, solange wir überhaupt Zeugnisse menschlicher Kultur haben. Wahrscheinlich ist es nicht völlig zu erklären, warum diese Suche nach Geborgenheit und die Antwort darauf zum menschlichen Sterben gehört; jedenfalls ist es wohl das stärkste Zeichen überhaupt dafür, daß zur menschlichen Existenz die Gemeinschaft gehört. Beim Übergang vom Nomadendasein zur Seß-[163]haftigkeit kauft Abraham einen Grabplatz für seine Frau, an dem dann auch er liegen soll wie seine Kinder. Das erste Feste, Bleibende für den Nomaden. Für den antiken Menschen ist es etwas Grauenhaftes, im fremden Land sterben zu müssen, und das hat sich zum Teil bis zur Gegenwart erhalten. Dem Tod im fremden Land entsprechend ist aber auch das Sterben des alten einsamen Menschen in der Großstadt, dessen Leiche erst Tage später gefunden wird.

Darum ist der Ritus der Beerdigung von so hoher Bedeutung, und es wäre schon zu fragen, ob wir nicht über die pompöse Starre der jetzt üblichen Beerdigungsfeier hinauskommen könnten zu einer Art der Begehung des Todes, die diesen allen Menschen gemeinsamen Wunsch nach Geborgenheit im Sterben deutlich zum Ausdruck bringen könnte. Dazu gehört einmal, daß die Familie ernsthaft, wirkend und redend an dieser Begehung beteiligt würde; dazu gehört auch, daß die Gemeinde sich am einsamen Sterben in ihrem Bereich in besonderer Weise verantwortlich wüßte und dabei wäre. Dazu gehört auch, daß das Sterben im Krankenhaus als eine Aufgabe neuer Art gesehen werden müßte.

3. Wenn im Alten Testament Leben identisch ist mit erfülltem Leben oder heilem Leben, dann ist die Gottesbeziehung nicht etwas, was erst dahinzukommt, sondern was dazugehört. Die Gottesbeziehung, die erst hinzukommt, ob nun als Erfüllung eines religiösen Bedürfnisses, das einige Leute noch haben, oder als ideologischer Überbau, überzeugt nicht mehr. Wenn heute die Frage gestellt wird: »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« (Bultmann, Ebeling), dann hat eine Antwort, die nachweist: es hat diesen und diesen Sinn, von Gott zu reden, keine Kraft mehr. Nur eine Antwort, die sagt: Man muß von Gott reden, es geht gar nicht anders, hat heute noch Aussicht gehört zu werden. Wenn einer heute ein Buch mit dem Titel schreibt: »Warum ich noch ein Christ bin«, dann ist man wohl im allgemeinen nicht sehr gespannt darauf, es zu lesen. Aber wenn plötzlich, wie jetzt an einigen Stellen in Amerika, eine neue Jesus-Verehrung aufkommt, dann fragt man gespannt: Wie ist das zu erklären?

Hier bekommt nun das Alte Testament insofern eine neue Bedeutung für uns, als in ihm etwas wie ein urreligiöses Reden von Gott begegnet. Die Gottesbeziehung ist hier nicht etwas, was zum Leben, so wie man es allgemein versteht, hinzukommt, sondern wenn einer wirklich lebt, das Leben tief in seinen Tiefen und hoch auf seinen Höhen erlebt, dann ist Gott dabei. Ein Begriff des Lebens, bei dem die Gottesbeziehung abstrahiert werden könnte, existiert hier noch nicht.

Wir müssen dabei im Auge behalten, daß in der Erfahrung des moder-[164]nen Menschen der Gottlose, der Atheist, das Leben zu meistern vermag, daß er Erfolg und Ruhm gewinnen kann, daß für uns also die alte Auffassung, daß Gott den ihm Gehorsamen segnet und an diesem Segen der Gottesfürchtige zu erkennen ist, nicht mehr gilt. Aber dieser Erfahrung haben auch schon die Menschen des Alten Testamentes ins Gesicht gesehen, besonders im Hiobbuch und im 73. Psalm. Es gilt also, angesichts des Gedeihens der Gottlosen zu sehen, daß erfülltes Leben Leben mit Gott ist.

Ich habe oben die neue Jesus-Bewegung in Amerika erwähnt. Sie hat als mindestens einen, wahrscheinlich den stärksten Impuls die Befreiung vom Verhaftetsein an den Rausch durch Drogen. Diese war nur möglich durch eine handfeste Gegenkraft. Die Intensität der Erfahrung einer Rettung mußte vom Retter reden. Das ist nicht anders als bei der Erzählung von den zehn Aussätzigen. Und das ist der Grund, warum in den Lobpsalmen des Alten Testamentes die Heilung von einer Krankheit als Rettung aus dem Tod erfahren wird und im Lob des Retters zu Wort kommt.

Die Entsprechung dazu ist noch viel deutlicher: In der Bedrohung durch den Tod wird der Bedrohte immer wieder nach dem Retter rufen: »Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, Herr!« Dafür ist nicht die Voraussetzung erforderlich, daß einer an Gott glaubt. Es ist die Intensität des Bedrohtseins selber, die die Möglichkeit des Rufens des Menschen über sich hinaus öffnet. Daß das auch heute in einer gottlos gewordenen Welt so ist, kann man jede Woche in der Zeitung lesen.

Aber nun kommt noch eine dritte Erfahrung hinzu: die Erfahrung des aus der Tiefe Rufenden, dessen Rufen nicht erhört wird. Wo Gott das höchste Wesen geworden ist, ein irgendwo Vorhandener, da hört mit dieser Erfahrung das Gegenüber zu Gott auf. In dem Roman »Die Juwikinger« von Olaf Duun wird ein junger Mann, der aus einem Schiffbruch kommt, gefragt, ob er denn in der höchsten Gefahr nicht zu Gott gerufen habe. Ja, das habe er. Aber er war nicht da.

Und gerade an dieser Stelle gewinnt im Alten Testament das Reden von Gott seinen höchsten Wirklichkeitsgrad, wie es das Hiobbuch zeigt. Da, wo Gott schweigt, da wird es ernst. Und zwar gerade deswegen, weil an dieser Stelle, wo Gott schweigt, der Tod in äußerster Schärfe und äußerster Nüchternheit als das gesehen wird, was er ist: Hiob 14,1-12.

»Das Menschenkind, vom Weib geboren,
lebt kurze Zeit, ist unruhsatt.
Wie eine Blume geht er auf und welkt, [165]
flieht wie ein Schatten, hält nicht stand.
Doch über ihn hältst du dein Auge offen
und bringst mich ins Gericht vor dich.
Käm‘ doch ein Reiner her vom Unreinen!
Nicht einmal einer!
Sind seine Tage fest begrenzt,
steht seiner Monde Zahl bei dir,
hast ihm ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreitet,
so blicke weg von ihm, hör‘ auf,
daß wie ein Lohnknecht er sich freu‘ des Tags!
Ja, für den Baum ist Hoffnung noch:
wird er gefällt, so sproßt er wieder,
und sein Gesproß das hört nicht auf,
wenn in der Erde seine Wurzel altert,
und in dem Boden stirbt sein Stumpf.
Vom Duft des Wassers sproßt er wieder,
bringt Zweig‘ hervor, dem Pflänzling gleich.
Doch stirbt ein Mann,
liegt er entkräftet;
scheidet ein Mensch, wo ist er dann?
Des Meeres Wasser, sie verschwinden,
ein Strom vertrocknet und versiegt,
so legt der Mensch sich, steht nicht auf;
keiner erwacht, so weit der Himmel,
und niemand wacht vom Schlummer auf.«

Wenn einer dem Tod so ins Gesicht sehen kann, dann ist es mit seinem Reden von Gott ernst. Hiob hält in der Erfahrung der Sinnlosigkeit des Seins zum Tode an Gott fest; das ermöglicht ihm, an Gott gegen Gott zu appellieren, Er klagt Gott an und hält an ihm fest, indem er ihn anklagt. Er redet zu dem Gott, den er nicht mehr versteht, oder, in unserer Sprache: an den er nicht mehr glaubt. Und an diesem äußersten Rand erfährt er, daß Leben und zu Gott gehören eins ist. Es ist in der Form eines Wunsches ausgesprochen (Hiob 14,13-15):

»Ach, daß du mich im Totenreich bärgest, mich verstecktest, bis dein Zorn sich gewendet, ein Ziel mir setztest und dann mein gedächtest: All meine Dienstzeit wollte ich ausharren, bis daß meine Ablösung käme. Dann würdest du rufen und ich dir antworten, nach dem Werk deiner Hände sehntest du dich!«

Hier ist das heile Leben, aus dem Hiob verstoßen ist, unter den unaufhaltsamen Schlägen des Todes auf das letzte reduziert, was das heile [166] Leben ausmacht: daß das Schweigen von Gottes Seite her gebrochen wird, daß ein Wort von Gott zu ihm kommt, das ihn die Sehnsucht des Schöpfers nach seinem Geschöpf erkennen und erfahren läßt, Dann würde er antworten, und dann wäre – in diesem Wechsel von Wort und Antwort – das Leben heil.

Und nun ein letztes: Wir haben zwei extreme Situationen ins Auge gefaßt, in denen Gott zum Menschendasein hinzugehört: den Schrei aus der Todesbedrohung und den Jubel des Erretteten.

Nun ist aber in diesen extremen Situationen das Ganze des Daseins gemeint. Es geht wirklich um Leben und Tod in dem, was der aus der Tiefe Rufende zu verlieren im Begriff ist und was dem Geretteten wieder geschenkt wird. So ist es zu verstehen, daß die Antwort Gottes an Hiob – als er nun wieder redet – ein Reden von der Schöpfung ist. Wenn Gott antwortet, dann antwortet der, der das Ganze geschaffen hat.

Die Gotteserfahrung Israels hat mit der Erfahrung einer Rettung eingesetzt; diese Erfahrung weitete sich ganz von selbst aus: dieser Gott hat alles in Händen. Weil der Retter der Schöpfer ist, der Schöpfer des eigenen Lebens und der Schöpfer Himmels und der Erden, kann alles mit ihm in Verbindung gebracht werden. Dazu bedarf es nicht des Glaubens; es kann gar nicht anders sein, als daß Gott mit allem zusammengehört, was geschieht, auch wenn es widersinnig, empörend ist.

Aus dem Schweigen Gottes erwuchs die Frage nach dem Sinn des Lebens; diese Frage wurde nicht durch eine Auskunft über den Sinn beantwortet, sondern damit, daß Gott das Schweigen brach, daß er redete.

Für den aber, der die Antwort hörte, für den, der erfuhr, daß sich Gott sehnt nach dem Geschöpf seiner Hände, ist die Freude am Leben freigegeben. Für ihn ist der Sinn des Lebens in dieser Freigabe beschlossen. Die Freude am Leben ruht nun darin, daß in allem, was geschieht, das Hören und Antworten und damit das Dasein Gottes offen bleibt.

Die Frage nach dem Sinn, die Frage nach dem Warum? und dem Wielange? muß immer wieder kommen, weil der Tod seine Macht über das Menschendasein behält; die Klage des von der Macht des Todes Bedrohten gehört zum Menschsein.

Aber die andere Wirklichkeit, daß sich Gott sehnt nach dem Geschöpf seiner Hände, hat in der Geschichte Gottes mit der Menschheit ein unwiderrufbares Faktum gesetzt.

Vortrag, gehalten im Rahmen des 10. Seminars für christlichen ärztlichen Dienst 1970. Vom Autor durchgesehen 1974.

Quelle: Claus Westermann, Erträge der Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien III, hrsg. v. Rainer Albertz, Theologische Bücherei 73, München: Chr. Kaiser, 1984, 153-166.

Hier der Text als pdf.

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