Von Hans Georg Geyer
Karl Gerhard Steck, dem gelehrten und streitbaren Lehrer evangelischer Theologie, am 28. April dieses Jahres siebzigjährig geworden, möchten engere und weitere Kreise dieser Zeitschrift mit einem ihrer Hefte einen kleinen Gruß der Dankbarkeit entbieten. Auch wenn wir damit nicht einer Konvention genügen, sondern danksagen, weil wir dankbar sind, geht es nicht ohne den Zweifel der Inadäquanz ab. Gerade das scharfe Bewußtsein von und für dessen schmerzhafte Unausweichlichkeit aber haben wir nicht zuletzt bei dem Theologen Karl Gerhard Steck lernen können. Die weiten Horizonte anspruchsvoller Gelehrsamkeit sind ihm so wenig fremd wie der unverrückbare Standpunkt in statu confessionis; beides aber, das allzeitige Wissen des Gelehrten und die rechtzeitige Einsicht der Zeugen, harmoniert nicht von selbst.
Indessen hat Karl Gerhard Steck auch den Ausweg verschmäht, die konkrete Wahrheit solcher Erkenntnis gegen die abstrakte Allgemeinheit eines Prinzips einzutauschen. Doch en détail wird nur erst recht offenkundig, wie wenig in der Regel die ausgebreitete Kenntnis über alles Mögliche und die unbegreifliche Behauptung von einem allein Nötigen einander wechselseitig hervorrufen und gegenseitig zueinander finden. Diese proteushafte Inkongruenz von Dogma und Geschichte seit der Reformation hat Karl Gerhard Steck, ihrer verwirrenden Facettierung weder erliegend noch ausweichend, immer wieder von neuem in ungezählten Studien reflektiert und sichtbar gemacht: ein Dogmatiker, dem die Geschichte zu nahe geht, als daß er die Wahrheit in dogmatischer Konservierung vor ihr sicher und für sie hilfreich wähnen könnte; zugleich ein Historiker, dem das Dogma zu vernehmlich klingt, als daß er die Wahrheit noch vom Strom der Geschichte erwarten könnte; vor allem jedoch ein Systematiker, der genug von der Wahrheit verstanden hat, um sie nicht als die Einheit eines Systems in der theoretischen oder praktischen Synthese von Dogma und Geschichte zu suchen, wo und wann immer ihre Totalität darin versprochen wird.
Kaum eine von diesen literarisch brillanten „Fallstudien“ aus Gegenwart und Geschichte hat etwas von ihrer reellen Aktualität in Theologie und Kirche eingebüßt. Man müßte sie nur gesammelt und geordnet lesen können. Leider gilt jedoch für ihren Autor zu genau das gleiche, was er selbst einmal zu Hans Joachim Iwand bemerkt hat: „Sie sind mit den Ergebnissen Ihrer Autorschaft mit großer Unbekümmertheit umgegangen und haben sozusagen Alles getan, sie vergessen zu lassen.“ Das andere wiegt allerdings schwerer: Was in Theologie und Kirche – verhängnisvoll oder verheißungsvoll – reelle Aktualität hat, kann sehr unzeitgemäß erscheinen – unerwünscht und nicht gefragt. Sache der Theologie und Kirche ist die Lehre des Evangeliums.
In seinem Lutherbuch schreibt Karl Gerhard Steck, man könne Luthers Auffassung von Lehre „auf die schlichte Formel bringen, die er selbst gelegentlich gebraucht, es gelte eben im Lehrgeschehen des Evangeliums das Wunder Wunder sein zu lassen, das Geheimnis seines Geheimnischarakters nicht zu entkleiden“. 1973 zitiert er als eine zusammenfassende Formulierung der Kritik Karl Barths an der abendländisch-europäisch-atlantischen Neuzeit aus einem Manuskript von 1939: „Man hat dem christlichen Geheimnis und damit dem menschlichen Leben und damit sich selbst viel zuleide getan damit, daß man es seines Charakters als Geheimnis gewissermaßen gewaltsam entkleiden wollte . . . Ein Leben ohne Geheimnis ist aber schlechthin trostloses Leben.“
Hat sich am Ende auch für Karl Gerhard Steck die Wahrnehmung der tausendfachen Inkongruenz von Wahrheit und Geschichte in den Verdacht des Exodus der Wahrheit zusammengezogen? Wo das Geheimnis organisiert wird, nimmt es weder Wunder noch kann es ein Geheimnis bleiben, daß die Organisation sich selbst genügen muß. Vielleicht aber könnte man bei dem Theologen Karl Gerhard Steck noch immer en détail lernen: Geschichte und Wahrheit stimmen nicht grundsätzlich überein; aber daß sie grundsätzlich nicht übereinstimmen, wäre nur die andere Seite der Unwahrheit. – Danke und: vergelt’s Gott.
Quelle: Evangelische Theologie 38 (1978), S. 181f.