Eberhard Jüngel, Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen: „Eine Hoffnung kennt die Bibel, eine einzige. Gewachsen ist der tödlichen Beziehungslosigkeit nach biblischem Urteil nur die schöpferische Liebe, die selbst da, wo die irdischen Lebensverhältnisse zerbrechen, der Ödnis des Todes neues Leben abringt.“

Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen

Von Eberhard Jüngel

Von zweierlei Kreativität – Theologische Bemerkungen zum Aphrodite-Projekt und zur Hoffnung auf Unsterblichkeit

Die Menschen müssten, wie ein vorsokratischer Denker treffend bemerkte, in der Lage sein, das Ende mit dem Anfang zu verknüpfen, um dem Tod entrinnen und sich ewige Jugend sichern zu können. Wer länger und immer noch länger leben will, muss irgendwann, so scheint es, verjüngt werden, um nicht hoffnungslos zu veralten. Und weil das bisher für unmöglich gehalten wurde, haben realistische Denker früherer Zeiten sich den rechtzeitigen Tod herbeigewünscht. Auch sie wollten die Lebendigkeit des menschlichen Lebens, aber nicht auf Kosten seiner Menschlichkeit. Und genau darauf kommt es an: die Vitalität und die Humanität des menschlichen Lebens zueinander ins rechte Verhältnis zu setzen.

In älteren Kulturen, als das Alt- und Älterwerden noch sehr viel mühsamer war, pries man deshalb sogar den frühen Tod: „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.“ Der griechischen Sentenz trat alttestamentliche Lebensweisheit zur Seite. „Alt und lebenssatt“ zu sterben – das war für den alttestamentlichen Menschen das Höchste. Doch lebenssatt konnte unmittelbar in lebensüberdrüssig umschlagen, war also doch wohl eher ein Euphemismus für jenes Lebensstadium, in dem man vom Leben genug hat: Die Augen sehen nicht mehr, die Ohren hören nicht mehr, die Füße versagen, das Gedächtnis auch – und noch einiges mehr. Selbst der Apostel würde eigentlich lieber „abscheiden und bei Christus sein, denn das ist das weitaus Bessere“ (Phil. 1, 23).

Die alte Welt hatte ein gemeinsames Wissen von der Endlichkeit des menschlichen Daseins und von der Absurdität des Wunsches, das irdische Leben unendlich zu verlängern. Grenzen­loses Leben erschien als Widerspruch zur Menschlichkeit des Menschenlebens. Um von den Wünschen nach einem nicht endenden Leben abzuschrecken, hat man sich in der Antike die bizarre Geschichte einer Sibylle erzählt, in die ein Gott sich verliebte. Das nutzte die Sterb­liche und bedrängte den göttlichen Liebhaber, sie für ihre Gegenliebe mit endlosem Leben zu belohnen. Und die Sibylle bekam, wonach sie begehrte. Sie musste nicht sterben, wurde alt und älter. Und als sie uralt geworden war, begann sie zu schrumpfen. Und da sie nicht gestor­ben ist, schrumpft sie auch heute noch irgendwo vor sich hin – suggeriert die alte Geschichte. Kann man das Leben des Menschen unendlich verlängern, ohne ihm eben dadurch seine Menschlichkeit zu rauben?

Heutiger Forschung erscheint die grenzenlose Verlängerung des menschlichen Lebens nicht mehr völlig unmöglich. Die Forschung schielt zumindest nach der Möglichkeit, durch geneti­sche Selbstorganisation den Sprung in eine neue Schöpfung zu schaffen, die – ohne den Schöpfer der ersten – besser werden soll als die alte: eine Schöpfung, in der schon jetzt Wirklichkeit werden soll, was die biblische Apokalypse (21, 4) für das Leben unter einem neuen Himmel auf einer neuen Erde verheißt. „Der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ Die Realisierung dieser Möglichkeit setzt nach biblischem Urteil allerdings voraus, dass „das Erste vergangen ist“, die Konstitutionsbe­dingun­gen irdischen Lebens mithin nicht mehr gegeben sind. Darauf kann ein Forscher nicht warten. Also versucht er, unter den Bedingungen des jetzigen Lebens die apokalyptische Vision zu verwirklichen.

Prosit – zu Deutsch: Es möge nutzen! Forschungsverboten soll hier nicht das Wort geredet werden, schon gar nicht im Namen Gottes. Doch ob es nutzt – diese kritische Frage muss erlaubt sein. Wissen wir eigentlich, was wir erhoffen, wenn wir dem menschlichen Leben auf der alten Erde unendliche Dauer und ewige Jugend verheißen? Gehört zur Menschlichkeit des irdischen Menschenlebens nicht außer dem Werden auch das Vergehen? Und täuscht eine sich ausschließlich auf die Lebendigkeit des Menschenlebens fixierende Wissenschaft sich nicht über die Eigenart dessen, was man als Tod zu bezeichnen pflegt?

Der Tod wird hier offensichtlich nur als biologischer Exitus verstanden: ein Punkt, an dem das Leben sozusagen verpufft, wie schon Platon ironisch glossierte. Das soll nun anders werden. Und weil Altern im Zusammenhang biogenetischer Forschung nur als Verfallser­scheinung in Betracht zu kommen scheint, soll gegengesteuert werden. Heute scheint die Forschung sich auf den Weg zu machen, uns zumindest eine Approximation an ein von Altersermüdungen freies Leben zu ermöglichen.

Doch ist Altern wirklich nur ein Verfallsprozess? Kann man dem gewiss beschwerlichen Prozess des Alt- und Älterwerdens nicht auch ganz andere Seiten abgewinnen? Zudem: Überspringt der Traum von der ewigen Jugend nicht die auf ihre Weise ebenfalls recht schmerzlichen Erfahrungen, die junge Menschen mit ihrem Jungsein machen müssen?

Der christliche Glaube lässt sich bei der Urteilsbildung in solchen elementaren Fragen von den biblischen Texten beraten. Und diese Texte erzeugen zusätzliche und gegenläufige Gesichtspunkte. Denn nach biblischem Verständnis ist Altwerden zugleich die Chance, weise zu werden und der Lebenserfahrung Lebensregeln abzugewinnen, die der ganzen Gesellschaft zugute kommen. Und der Tod ist nicht erst am Lebensende, sondern schon mitten im Leben am Werk. Heißt doch Leben nach biblischem Urteil immer zugleich Zusammenleben. Und das Zusammenleben vollzieht sich in der Realisierung der die menschliche Existenz konstitu­ierenden Lebensbeziehungen, so dass der lebendige und gleichermaßen menschliche Mensch in einem reichen Geflecht von Beziehungen existiert: in der Beziehung zu sich selbst, in der Beziehung zur sozialen und natürlichen Umwelt und in der Beziehung zu Gott.

Wo immer aber dieser Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens beschädigt oder gar zerstört wird, da beginnt bereits die Herrschaft des Todes. Denn der Tod ist nach biblischem Verständnis der selbstverschuldete Eintritt vollkommener Beziehungslosigkeit, die bereits da zu herrschen beginnt, wo der Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens beschädigt wird, wo die elementaren, das Menschsein des Menschen konstituierenden Lebensverhältnisse lädiert oder gar zerstört werden. Insofern beginnt die Herrschaft des Todes bereits mitten im Leben und kann durch unendlich verlängerte Jugend nicht einmal hinreichend kaschiert wer­den: „Media in vita in morte sumus: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“, sangen in St. Gallen die Mönche.

Gibt es gleichwohl Hoffnung angesichts des Todes? Eine Hoffnung kennt die Bibel, eine einzige. Gewachsen ist der tödlichen Beziehungslosigkeit nach biblischem Urteil nur die schöpferische Liebe, die selbst da, wo die irdischen Lebensverhältnisse zerbrechen, der Ödnis des Todes neues Leben abringt. Denn die Liebe kann einfach nicht aufhören, ihren eigenen Beziehungsreichtum schöpferisch aus sich herauszusetzen. „Die Liebe ist stark wie der Tod“ – singt das Hohe Lied (8,6). Nicht nur genau so stark, sondern stärker als der Tod wird die Liebe, wenn sie den Tod erträgt und dadurch verwindet. Diese den Tod erduldende und im Erdulden besiegende Liebe nennt das Neue Testament Gott. Und von ihm, der schon im Akt der Schöpfung sein Geschöpf liebevoll bejahte, behauptet es, dass er das menschliche Ich auch mitten im Tode liebevoll zu bejahen nicht aufhören wird. Das ist der Sinn des Evangeli­ums, das die Auferstehung des gekreuzigten Christus bezeugt. Das Evangelium setzt auf die unerschöpfliche Kreativität des Gottes, der mit der auch im Leiden noch schöpferischen Liebe identisch ist und deshalb dem sterblichen Menschen neues Leben – aber eben nicht unendlich verlängertes Dasein – verheißt.

Auch die menschliche Forschung ist ausgesprochen schöpferisch. Doch die Kreativität der Forschung ist von anderer Art als die Kreativität der Liebe. Letztere hat ihre Würde, die Kreativität der Forschung hat ihren Wert, hat einen sehr hohen Wert. Man muss nicht unbe­dingt selber die Erfahrung schwer erträglicher Leiden gemacht haben, man muss nur die gellenden Schreie eines unter unsäglichen Schmerzen leidenden Kindes im Ohr haben, um sich über jeden wirklichen Fortschritt medizinischer Forschung dankbar zu freuen. Der homo patiens dürfte allerdings ein Kriterium dafür sein, ob die Förderung der Lebendigkeit des Menschenlebens und die Förderung der Menschlichkeit des menschlichen Lebens einander begünstigen oder aber einander widersprechen. Die Kreativität der Forschung hat bei ihrer wohl begründeten Intention, die Lebendigkeit des Menschenlebens zu fördern, die Unantast­barkeit der Würde des Menschen uneingeschränkt zu respektieren. Die antike Geschichte von der unendlich schrumpfenden Sibylle vermag auch heute noch daran zu erinnern, dass die unendliche Verlängerung des irdischen Menschenlebens diesem seine Würde zu nehmen droht. Die Kreativität der Forschung muss um ihre sie begrenzende Verantwortung wissen und darf sich auf keinen Fall mit der Kreativität Gottes verwechseln.

Zur Kreativität der göttlichen Liebe gehört es, aus Nichts etwas zu machen und, ohne zuvor von irgendetwas Liebenswürdigem entflammt worden zu sein, das Liebenswerte zuallererst zu schaffen: „Amor dei non invenit, sed creat suum diligibile: Gottes Liebe findet, was der Liebe würdig ist, nicht vor, sondern sie erschafft es.“ (Luther) Zur Kreativität der Forschung gehört es hingegen, aus schon Bestehendem etwas anderes zu machen. Forschung kann des­halb nur Grenzen verschieben, nicht aber Grenzen aufheben. Jede Grenzverschiebung ist allerdings janushaft: Sie kann lebensfördernd sein, sie kann aber auch – wie die Überschrei­tung des Halys – ein ganzes Reich zerstören. Deshalb gilt es, nicht etwa Forschungsverbote zu verhängen, wohl aber bei jeder Grenzverschiebung gewissenhaft zu prüfen, ob die Förde­rung der Lebendigkeit unseres Lebens der Menschlichkeit des Menschenlebens keinen Scha­den zufügt.

Eberhard Jüngel ist Theologe und arbeitet zur Zeit als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

DIE WELT, 18. März 2000.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Die einzige Tatsache
    unser Ziel
    ist der Tod

    zwischen Geburt
    und Ende
    gibt es genug
    in eigener Verantwortung

    in der Einsicht
    zum Besseren
    tagtäglich
    etwas zu tun

    der Seele
    durch ihren
    tagtäglichen Traum
    zur Einsicht
    zu kommen
    ihr lebenslang
    den Gehorsam

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