Karl-Wilhelm Dahm über Reinhold Niebuhr: „Er hat der Theologie, der Kirche und der Gesellschaft insgesamt unüberhörbar und unwiderlegt ins Bewußtsein gerückt, dass die Härte des sozialen Schicksals ebenso unerbittlich sein kann wie die des Sterbens und dass der einzelne Mensch diesem Schicksal oft genauso wenig entgehen kann wie dem des Todes.“

Reinhold Niebuhr

Von Karl-Wilhelm Dahm

I

Reinhold Niebuhr (1892-1971) sei die einflußreichste religiöse Führergestalt im öffentlich-politischen Leben (»on public policy«) der USA im 20. Jahrhundert. So wird es von vielen kompetenten Zeitgenossen behauptet: von Professoren innerhalb und außerhalb der Theologie, von Publizisten, von dem Präsidenten John F. Kennedy (»We all are his disciples«) wie von dem Außenpolitiker und Historiker George F. Kennan.

Bekanntheitsgrad, Einfluß und Bedeutung von Reinhold Niebuhr sind außerge­wöhnlich breit dimensioniert: Seine Einwirkung zielt auf Theologie und Gesell­schaftswissenschaft, auf Außenpolitik und praktische Sozialreformen; und in all diesen Bereichen findet sie Resonanz, meist Zustimmung und Anhängerschaft, zuweilen scharfe Kritik und Widerspruch. Die Weite des Spektrums läßt man­ches im Unbestimmten; Persönlichkeit und Werk Niebuhrs können durchaus als schillernd erscheinen. Die Unsicherheit beginnt bei der Frage, ob man Niebuhr als einen großen Theologen im klassischen Sinn des Wortes charakterisieren kann; vielleicht als den größten Theologen englischer Zunge in unserem Jahrhundert? Einige Fachkollegen bestreiten gerade seine theologisch-wissenschaftliche Kompetenz. Niebuhr selbst hatte mit seinem »Theologe«-Sein eigene Schwierig­keiten. Auch biographisch schreibt er (in the Library of Living Theology): »… I cannot and do not claim to be a theologian. I have taught Christian Social Ethics for a quarter of a century and have also dealt in the ancillary field of ›apologetics‹. My avocational interest as a kind of circuit rider in the colleges and universities has prompted an interest in the defense and justification of the Christian faith in a secular age, particularly among what Schleiermacher called Christianity’s ›intellectual despisers‹. I have never been very competent in the nice points of pure theology; and I must confess that I have not been sufficiently interested heretofore to acquire the competence.«

Was ist gemeint, wenn Niebuhr ausdrücklich nicht beansprucht, ein Theologe zu sein? Denkt er an eher terminologische Schwierigkeiten? Etwa daran, daß »Theologian« im Englischen in einem engeren Sprachgebrauch als »Dogmatiker« verstanden werden kann, auch im Sinne von weltfremd und borniert? Mit seiner Abgrenzung gegen ein solches Verständnis von »Theologian« hätte er indirekt den Abstand seiner eigenen Fächer »Sozialethik« und »Apologetik« von der klassischen Dogmatik betont. Doch hat er sich andererseits oft genug und in rechtschaffener Breite mit den zentralen Themen der klassischen Dogmatik befaßt: mit Christologie und Sünde, mit Anthropologie und Transzendenzbe­griff, mit Liebe und Gerechtigkeit.

Vielleicht wollte er mit der Problematisierung seines Theologe-Seins auch ganz etwas anderes: Vielleicht erschien ihm das konventionelle Theologen-Dasein zu eng und provinziell für die von ihm empfundene Berufung rings im Lande, gleichsam als Herold (»circuit rider«), an Colleges und Universitäten die Ausein­andersetzung mit den »gebildeten Verächtern« wie weiland Schleiermacher zu führen. Jedenfalls verstand sich Niebuhr nie nur als Lehrer der Theologie im Sinne einer professionalisierten akademischen Rolle; er empfand sich immer auch als Profanwissenschaftler und Kirchenmann, als Publizist und Politiker. Die meisten seiner schon der Anzahl nach überaus respektablen Veröffentlichun­gen (allein über 25 Bücher) sind durch politische Anlässe angeregt und an einen Leserkreis gerichtet, der über die Fachwelt in Theologie und Kirche weit hinausgeht.

Wenn sich einer so weit herauslehnt aus dem Fenster des altehrwürdigen Gebäudes der Theologie und sich mit dem Anspruch kompetenter Kritik und Ratschläge hineinwagt in die Reviere anderer Wissenschaften und der politischen Administration, dann wird er nicht nur mit Zustimmung und Anerkennung rechnen können. So charakterisierte ihn einer seiner jüngeren, exegetisch und historisch auf besondere Gründlichkeit achtender Kollege im mündlichen Gespräch einmal folgendermaßen: »Er erschien mir insgesamt als oberflächlich, nirgends tief gegründet, weder in der Bibel noch in der Geschichte noch in der Philosophie; dafür aber über jeden Selbstzweifel erhaben. Er schrieb zuviel und meist undiszipliniert. Was er wirklich konnte, war, als Sprachrohr des Bildungs­bürgertums die geistig-moralischen Grundströmungen seiner Jahrzehnte zu formulieren und (pseudo-)theologisch zu legitimieren: in den zwanziger Jahren Sozialismus und Pazifismus, in den dreißiger Jahren die Kritik an Nationalsozia­lismus und Stalinschen Säuberungskampagnen, in den vierziger Jahren Kriegs­philosophie und Antikommunismus; in den fünfziger Jahren das globale Sendungsbewußtsein des US-amerikanischen Demokratiebegriffs bis hin zum beginnenden US-Engagement im Vietnamkrieg anfangs der sechziger Jahre; dabei aber vorsichtig zurückhaltend in der Kritik an der Kernwaffen-Rüstung.« Ein hartes Urteil; sicher von den meisten Kollegen nicht geteilt, aber auch nicht einfach singulär. Denn einen Mangel an Selbstkritik macht auch ein anderer renommierter Kritiker dem Theologen Niebuhr zum Vorwurf, nämlich der Psychologe Carl Rogers, zehn Jahre jünger als Niebuhr, Pfarrerssohn wie er – und gleichfalls eine der großen geistigen Führungsgestalten der USA in diesem Jahrhundert. Anthropologisch sieht Rogers gegen Niebuhr zur Bestimmung der individuellen Art eines Menschen die Faktoren Natur und Geschichte als durchaus zureichend an; er bezweifelt, daß es darüber hinaus solch mißverständlicher und gefährlicher theologischer Erklärungsmuster wie Sünde und Selbst­liebe bedarf. Er macht gegen den Theologen eine 25jährige psychotherapeutische Erfahrung geltend, nach der die große Mehrheit seiner Klienten gerade nicht durch Selbstliebe, prometheische Überheblichkeit oder egoistisches Streben nach Selbstverwirklichung gefährdet war, sondern durch das Gegenteil, durch Selbstwertzweifel, Unwürdigkeitsgefühle und Depression. Diese menschliche Grundbefindlichkeit werde durch Niebuhrs Sünden- und Erlösungsbegriff eher verstärkt als wenigstens tendenziell und ansatzweise weggearbeitet. Damit zusammenhängend werde der Spielraum menschlicher Freiheit und eigener Verantwortung von Niebuhr zu eng, zu pessimistisch und zu sehr festgelegt gesehen. Und nicht nur mit der inhaltlich-anthropologischen Position des Theologen setzt sich Rogers auseinander, sondern er kritisiert auch seinen literarischen Umgang mit anderen Autoren. In einer knappen, scharf, vielleicht überscharf pointierten Rezension eines der wichtigsten Werke von Niebuhr, »The Self and the Dramas of History« (1955), weist Rogers begriffsanalytisch auf, daß Niebuhr mit einer geradezu ehrfurchtgebietenden Sekuritas (»awesome certainty«) die großen Lehrer des Abendlandes wie Augustin, Thomas, Hegel, Freud, Marx u. a. schulmeistert. Seine bevorzugten Bewertungsvokabeln seien »absurd, irrig, blind, naiv,«; gut weg kämen bei ihm eigentlich nur die alttestamentlichen Propheten, Jesus, Winston Churchill und »Dr. Niebuhr himself« (Rezension: »Pastoral Psychology«, Juni 1958, 15ff.; an diese Buchbesprechung schloß sich eine lange interdisziplinäre Diskussion über Persönlichkeitsstruktur und Anthropologie der beiden Antipoden an).

Eine solche Globalkritik an Niebuhrs wissenschaftlicher Art, an seiner Überheb­lichkeit, an seinem dualistischen anthropologischen Ansatz und seiner wetter­wendischen Anpassung an politische Zeitströmungen ist zweifellos die Aus­nahme in Literatur und mündlicher Charakterisierung. Zwar gibt es Äußerun­gen, die in der Tendenz dieser Kritik ausgelegt werden können; doch sind sie auf keinen Fall bestimmend für das Persönlichkeitsbild und das theologische Werk Niebuhrs. Seinen hier und da auftretenden Hang zur Arroganz im literarischen und kollegialen Urteil muß man dadurch relativieren, daß Niebuhr im persönli­chen Kontakt als ausgesprochen hilfsbereit, freundlich und in der Regel geradezu charmant geschildert wird. Sowohl als junger Arbeiterpfarrer in Detroit wie später in den Slums von Harlem habe er sich im Engagement für leiblich oder seelisch Hilfsbedürftige weder körperlich noch psychisch geschont; von sozialer oder geistiger Überheblichkeit könne da gar keine Rede sein.

Was die Richtungswechsel in seinen politischen Anschauungen und öffentlichen Stellungnahmen betrifft, so ist ein permanenter Wandlungsprozeß tatsächlich unverkennbar. Niebuhr selbst reflektiert in »Glaube und Geschichte« (dt. Ausgabe 13 ff.), wie schwierig es für die Generationen des 20. Jahrhunderts war, die Wechselfälle ihrer Zeit zu überstehen und ihnen angemessen zu begegnen. Er führt diese Schwierigkeiten hauptsächlich darauf zurück, daß diese Generationen durch die aus den letzten beiden Jahrhunderten überkommenen geistig-morali­schen Grundmuster mit ihren »sanften Illusionen« nicht zureichend ausgerüstet waren, um die abgründigen Erfahrungen, Schrecknisse und das Durcheinander im 20. Jahrhundert zu erahnen und ihnen angemessen entgegenzutreten. Er selbst hatte solche abgründige Erfahrungen schon 23jährig als Pfarrer in der Begegnung mit sozialem Elend in den Arbeiter- und Armenvierteln von Detroit gemacht und mußte bereits damals erkennen, daß Social Gospel und Fort­schrittsglaube nicht in der Lage waren, das Elend richtig zu analysieren oder gar Möglichkeiten zu seiner Überwindung anzugeben. Auch der Marxismus, dem er sich nach der Enttäuschung über das Social Gospel und verstärkt im Zusammen­hang mit der Weltwirtschaftskrise um 1929 zugewendet hatte, verlor ein gutes Teil seiner Überzeugungskraft vor allem im Zuge der Stalinschen Säuberungs­prozesse und durch die Art, wie die real existierenden kommunistischen Parteien darauf reagierten. Doch wurde der geistig-politische Dialog mit den sozioöko­nomischen Grundideen des Marxismus von Niebuhr noch jahrzehntelang fort­gesetzt. Ebenfalls schwer enttäuscht sah sich Niebuhr durch die Erfahrung, daß sich die pazifistischen Ideen seiner Jugend bei der Lösung der offensichtlich unvermeidbaren internationalen Konflikte nicht bewährt hatten. Der Konflikt mit der Hitlerdiktatur hatte ihm gezeigt, daß durch pazifistisch inspirierte Beschwichtigung und Nachgiebigkeit die Situation nur verschlimmert wurde. Schließlich sind seine starke Identifikation mit und sein Einsatz für das US- amerikanische Demokratie- und Freiheitsverständnis keineswegs ohne die selbstkritischen Widerhaken seines »christlichen Realismus«; zu diesen Wider­haken gehört seine tiefe, im Sündenbegriff wurzelnde Skepsis und sein Mißtrauen gegen jede Art politischer Ideologisierung oder Heilslehre. Immerhin führte ihn sein »amerikanisches« Freiheitsverständnis auch zu seinem entschie­denen Einsatz für die Bürgerrechtsbewegung und, nach anfänglichen Fehlein­schätzungen, zum öffentlichen Eintreten für die Beendigung des Vietnam­krieges.

Man kann also die theologischen und gesellschaftspolitischen Wandlungen und Akzentverschiebungen Niebuhrs durchaus im Sinne eines durch die Zeitläufe nötig gewordenen kreativen Lern- und Umlernprozesses verstehen, dessen einzelne Schritte literarisch breit und eigenständig durchgearbeitet, glaubhaft und für viele mitvollziehbar erschienen. Man kann sie auch, wie im Falle des oben zitierten Gewährsmannes, als tendenziell opportunistisch und anpasserisch interpretieren. Welcher Deutung man zustimmt, wird nicht zuletzt von der Position des Betrachters selbst abhängen. In der vielfarbigen, vielleicht schillern­den Erscheinung der religiösen Führungsgestalt Niebuhrs finden sich Anhalts­punkte sowohl für die eine wie für die andere Interpretation.

II

Reinhold Niebuhr wurde am 21. Juni 1892 in eine weitverzweigte deutschstäm­mige Gelehrten- und Pastorenfamilie hineingeboren. Wie er selbst sind zwei seiner Geschwister, dazu Neffen und angeheiratete Familienangehörige als Theologieprofessoren bekanntgeworden. Zu seinen deutschen Vorfahren zählen der Afrikaforscher Carsten Niebuhr (1733-1815) und dessen Sohn, der preußi­sche Historiker und Staatsmann Barthold Georg Niebuhr (1776-1831). Beide Elternteile Reinholds waren als Kinder mit ihren Eltern aus Deutschland in die USA eingewandert. Sie hatten sich in Kalifornien kennengelernt und dort geheiratet. Reinholds Vater war zunächst einige Jahre als Gemeindepfarrer in San Franzisko tätig und übernahm dann die Pfarrstelle einer unierten Gemeinde in Wright-City bei St. Louis-Missouri. In dem durch praktische Frömmigkeit und eine moderate geistige Liberalität geprägten elterlichen Pfarrhaus wuchsen außer Reinhold auch Helmut-Richard und Hulda heran. Alle drei Geschwister studier­ten Theologie, waren jahrelang in der kirchlichen Praxis tätig und übernahmen später theologische Lehrstühle an renommierten amerikanischen Hochschulen: Hulda wurde Professorin für Religionspädagogik (Theology and Education) in Chicago. Helmut Richard (1894-1962), dessen Werk nicht selten eine längerfri­stig größere Bedeutung als dem seines Bruders Reinhold zugeschrieben wird, war seit 1931 für drei Jahrzehnte Professor für Christliche Ethik an der Yale Divinity School. Während Reinhold sich vornehmlich der theologischen Aus­einandersetzung mit aktuellen Zeitproblemen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen widmete, war H. Richard stärker an historischen Fragestellun­gen interessiert; inbesondere suchte er die sozial- und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den Kirchen und der amerikanischen Gesellschaft in eigenständiger Verknüpfung kirchenhistorischer und soziologischer Betrach­tungsweisen aufzuklären. Seine drei Hauptwerke: »The Social Sources of Denominationalism« (1929), »The Kingdom of God in America« (1937) und »The Meaning of Revelation« (1941) gelten nicht nur als Standardwerke ihres Faches, sondern auch als beispielhaft für die Aufarbeitung der Wechselbeziehungen von Religions- und Sozialgeschichte im Protestantismus. »The Meaning of Revela­tion« ist darüber hinaus auch systematisch-theologisch stark exponiert und wird von einigen Kennern als richtungsweisend für eine theologische Auseinanderset­zung mit der Moderne für die Zeit bezeichnet, die sich an die von Karl Barth und seinem Grundverständnis von Theologie bestimmte Epoche anschließen wird. Aus der Liste namhafter amerikanischer Theologen, die den Namen Niebuhr tragen, sind über den Geschwisterkreis Reinholds hinaus die Ehefrau Reinholds, Professorin für Theologie an der Columbia-University in New York, sowie der Sohn von H. Richard, nämlich Richard Reinhold Niebuhr, Systematischer Theologe an der Harvard Divinity School, zu erwähnen.

Wie sein Vater und sein Bruder Richard begann Reinhold sein Berufsleben als Gemeindepfarrer. Die wissenschaftliche Laufbahn reizte den eben promovierten Doktor der Theologie weniger als die Praxis der Gemeindearbeit, der Umgang mit Menschen, das Organisieren einer erst in den Anfängen bestehenden Arbei­tergemeinde der »Bethel Evangelical Church« in Detroit. Bei seinem Amtsantritt 1915 zählt die Gemeinde 65 Mitglieder. Als er sie nach 13 Jahren verläßt, um Professor am Union Theological Seminary in New York zu werden, ist die Mitgliederzahl auf 655 gewachsen. Die in dieser Gemeinde gewonnenen Erfah­rungen, speziell die alltägliche Konfrontation mit der Arbeitswelt, mit den gesundheitlichen Problemen der Fließbandarbeiter, mit der Not und oft genug der Verzweiflung der Arbeitslosen, aber auch die seelsorgerlichen Gespräche an Kranken- und Sterbebetten haben sein wissenschaftliches Denken bleibend geprägt.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Detroit sind damals bestimmt durch den gewaltigen Wachstumsprozeß der Autoindustrie; 1929 wurden dort fünfmal mehr Autos als 1915 produziert; in der gleichen Zeit verdreifachte sich die Bevölkerungszahl von 500 000 auf 1,5 Millionen Einwohner. Im Zuge dieses Wachstums entwickelte sich gewaltiger Reichtum auf der einen, große soziale Not auf der anderen Seite. Als die Ford-Werke wegen zurückgehender Nach­frage 1926 auf Kurzarbeit umstellen und danach für fast ein Jahr die Produktion gänzlich einstellen mußten, nahm das soziale Elend in der ganzen Region ein alarmierendes Ausmaß an, zumal gewerkschaftlicher Schutz innerhalb der Arbeiterschaft noch kaum organisiert war. Niebuhr erkannte, daß von den sozialen Versprechungen Henry Fords im Falle größerer sozialer Krisen wenig zu halten war. Scharf prangerte er konkrete soziale Ausbeutung und Ungerech­tigkeit an. Darüber hinaus weckten seine Alltagserfahrungen in ihm tiefe Zweifel gegenüber dem damals ganz selbstverständlich in Geltung stehenden Fort­schrittsglauben, aber auch gegenüber der reformerischen Kraft des Social Gospel. Von seinem Studium und der theologischen Diskussionslage her standen ihm zur Interpretation des sozialen Elends und der dahinterstehenden Struktur­probleme der Sozialen Frage nur die Instrumentarien des theologischen Libera­lismus und eben des diesem verwandt gebliebenen Social Gospel zur Verfügung. Zwar hatte sich die Bewegung des Social Gospel auch ihrerseits fünfzig Jahre früher deshalb gebildet, weil man mit den sozialen Konzepten der vorherrschen­den theologischen und kirchenpolitischen Hauptströmungen, einerseits einem konservativ-biblizistischen Fundamentalismus und andererseits einem ver­schwommen humanistischen Liberalismus, zutiefst unzufrieden war. Beide Strömungen hatten sich angesichts der mit der Industriellen Revolution aufkom­menden Größendimension sozialer Probleme als hilflos erwiesen. Sie waren unkritisch in einer Mischung von religiös-individualistischen und laissez-faire-kapitalistischen Vorstellungen befangen. Um entsprechende Unzulänglichkeiten der praktischen kirchlichen Arbeit zu überwinden, trat das Social Gospel durch ganz erhebliche Anstrengungen und auch Erfolge im sozial-karitativen Bereich hervor. Inhaltlich-theoretisch jedoch blieben seine Interpretationsmuster auf den Hintergrund des theologischen Liberalismus und eines ihm korrespondie­renden naiven Fortschrittsglaubens bezogen und begrenzt. Sozialen Fortschritt und die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten erwartete man sich vor allem durch eine engagierte, zielbewußte und schrittweise Verwirklichung der Näch­stenliebe sowie durch den selbstkritischen Kampf gegen den persönlichen Egois­mus. Die Fragen nach strukturellen, etwa im Wirtschaftssystem angelegten Ursachen für die gesellschaftlichen Prozesse und das soziale Elend wurden im Social Gospel nur unzureichend berücksichtigt. Der marxistische Ansatz blieb entweder unbegriffen oder durch den mit ihm verbundenen Atheismus diskredi­tiert. Auch theologisch tiefergehende Fragen nach der anthropologischen und gesellschaftlichen Reichweite dessen, was als Bestimmtsein des Menschen durch die Sünde bezeichnet wird, vermochte man noch nicht in jener Radikalität zu berücksichtigen, wie das im Verlauf des 20. Jahrhunderts überall in der Christen­heit neu geschah. Diese beiden Defizite des Social Gospel, die Anwendungsmög­lichkeit marxistischer Erklärungsmodelle und die anthropologisch-gesellschaft­liche Bedeutung der Dimension von Sünde, waren es, die Reinhold Niebuhr, angeregt durch seine Praxiserfahrung zunehmend beschäftigten und die ihn in seiner wissenschaftlichen Arbeit zeitlebens nicht loslassen sollten.

Wie sehr auch er im ersten Jahrzehnt seiner praktischen Berufstätigkeit von Tradition und Geist des Social Gospel bestimmt war, zeigt sein erstes größeres Buch »Does Civilisation need Religion?« (1927): Die Gesellschaft bedarf der Religion, weil sie letztlich nur von ihr »Erlösung« erwarten kann, nämlich im Sinne einer schrittweisen Aufrichtung des Reiches Gottes durch ernsthaft prakti­zierte Nächstenliebe. Im schließlich vollendeten Reiche Gottes, der »idealen Gesellschaft« werden alle Feindschaften aufgehoben, wird die durch die moderne Technik hervorgerufene Anonymität der Masse überwunden sein und werden die Menschen brüderlich miteinander umgehen, erfüllt von der Achtung gegenüber der Persönlichkeit des anderen. Die Triebkraft einer dahin zielenden Entwicklung und endlichen Verwirklichung des Reiches Gottes ist die immer neue und phantasievolle Orientierung am christlichen Liebesgebot. Das große Ziel zu erreichen ist möglich, aber sehr schwierig. Auf dem Wege müssen gewaltige Opfer gebracht werden; nur die Liebe, die in ihrem Kern Selbstaufop­ferung ist, wird dazu imstande sein. Die Grundzüge des christlich begründeten Fortschrittsoptimismus sind unverkennbar.

Fünf Jahre später, in dem für die Entwicklung Reinhold Niebuhrs eminent wichtigen Buch »Moral Man and Immoral Society« (1932) hört sich das alles schon anders an. Inzwischen hatten die Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihre verheerenden sozialen Auswirkungen die bisher geltenden gesellschaftlichen Auffassungen gründlich in Frage gestellt. Für ihn wie für seine gesellschaftsphi­losophisch sensiblen Zeitgenossen waren vor allem die Restbastionen des Fort­schrittsglaubens in sich zusammengebrochen. Dabei war man sich einig darin, die fundamentale Erschütterung des bisher in Kraft stehenden kulturoptimistischen Geschichtsbildes zu konstatieren. Weniger Einmütigkeit herrschte in den Analysen über die Ursachen dieser Erschütterungen sowie in den Vorstellungen zur Therapie und Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Marxistische Deutungsmodelle und Theorien wurden in unterschiedlichem Umfang, meist eklektisch, rezipiert und mit allerlei sozialtheoretischen Teilstücken anderer Provenienz verknüpft. Niebuhr seinerseits entwickelte eine Kombination mit christlichen Zentralaussagen, insbesondere mit seiner »strategy of love«, womit vor allem der manchmal schnellfertige Ruf nach Gewaltanwendung zur Durch­setzung innenpolitischer oder zur Lösung außenpolitisch-internationaler Kon­flikte, problematisiert werden sollte. Niebuhr hielt das Festhalten an der christli­chen Zentralkategorie »Liebe« auch im Dialog mit den Marxisten für unabding­bar. Ebenso unverzichtbar erschien ihm umgekehrt die marxistische Erkenntnis, daß Religion, so wichtig ihre eigenständigen Impulse für die Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten bleiben, immer zugleich zur Verteidigung von Inter­essen der privilegierten Klassen in Anspruch genommen und mißbraucht werden kann. Beispiele dafür findet er durchaus in der kirchlichen Praxis aller Denomi­nationen seines Landes, in ihren puritanisch-konservativen wie in ihren liberal­progressiven Erscheinungsformen.

Der wissenschaftlich-theologischen Aufgabe, über Wege und Gefahren der Verknüpfung christlicher Liebesethik mit einer sie ergänzenden, aber nicht überwuchernden marxistischen Gesellschaftsanalyse konnte sich Reinhold Nie­buhr mit ganzer Kraft zuwenden, seit er im Jahre 1928 als Professor für »Angewandtes Christentum« (später: für »Sozialethik«) an das berühmte Union Theological Seminary in New York berufen worden war. Er hat diese Position über 30 Jahre, bis zur Emeritierung 1960, ununterbrochen innegehabt und von ihr aus seine zahllosen akademischen und gesellschaftspolitisch-organisatori­schen Funktionen wahrgenommen. So war er in den dreißiger Jahren Vorsitzen­der der pazifistischen Organisation »Fellowship of Reconciliation«; später wurde er chairman der »Liberalen Partei«, einer Schwesterorganisation der Demokratischen Partei, die es als selbständige Einheit nur in New York gab. Seine auswärtigen akademischen Verpflichtungen reichen von unzähligen Ein­zelvorträgen im In- und Ausland bis zu mehrmonatigen Gastprofessuren, beispielsweise 1939 in Edinburgh, wo er in den Gifford Lectures sein späteres wichtiges Buch »The Natur and Destiny of Man« zuerst entwickelte. Sozial­ethisch erwähnenswert sind außer seinen offiziellen und inoffiziellen Beratertä­tigkeiten in der Innen- und Außenpolitik vor allem zwei mit Freunden durchge­führte exemplarische sozialdiakonische Initiativen: Die Gründung einer für die Zusammenarbeit von Schwarzen und Weißen richtungsweisenden kooperativen Farm während der dreißiger Jahre in Mississippi, die im tiefkonservativen amerikanischen Süden als revolutionär und entsprechend bedrohlich angesehen wurde. Ähnlich spektakulär wurde Jahre später die Einrichtung von »store­front-churches« im New Yorker Schwarzenviertel East Harlem empfunden, also einer Art großstädtischer Ladenkirchen, mit denen anstelle teurer gewaltiger Kirchenbauten eine Vielzahl frontnaher Stätten für Gottesdienst, Kommunika­tion und notfalls auch Unterkunft bereitgestellt wurde. Diese vielfältigen Aktivi­täten im praktisch-sozialpolitischen Bereich haben offenkundig Niebuhrs litera­rische Produktivität nicht beeinträchtigt, sondern eher noch beflügelt.

III

Es sind zwei gravierende Umbrüche und Entwicklungen seines theologischen Denkens, die das erste Jahrzehnt von Niebuhrs akademischer Tätigkeit charakte­risieren und die für die sozialethische Diskussion zunächst in den USA, dann aber in der christlichen Theologie insgesamt von richtungsweisender Bedeutung werden sollten. Fortan wurde der Name Reinhold Niebuhrs mit einem bestimm­ten inhaltlich-ethischen Programm verbunden, das konstruktiv über die Defizit­erfahrungen mit dem Social Gospel hinausweisen sollte. Gemeint ist erstens eine forcierte Unterscheidung zwischen der moralischen Dynamik im individuell-persönlichen Bereich und derjenigen im Bereich von Gruppen und größeren Sozialsystemen; die ethischen Entsprechungen dieser zunächst empirischen Unterscheidung wurden von Niebuhr an dem Begriffspaar »Liebe und Gerech­tigkeit« verdeutlicht. Der andere Impuls zielt darauf, die Relevanz dessen, was theologisch als Transzendenz, Sünde und Erlösung bezeichnet wird, für die Ethik neu zu bestimmen. Nicht länger sollte der Sündenbegriff, wie im Social Gospel und im theologischen Liberalismus insgesamt, reduziert sein auf das träge-schuldhafte Zurückbleiben des Menschen hinter den Idealen idealisierter Nächstenliebe. Die Forderung nach prinzipieller Unterscheidung zwischen einer Ethik der unmittelbar-persönlichen Beziehungen und einer Ethik der kollektiven Beziehungen wird thetisch und herausfordernd im Titel des 1932 publizierten und aufsehenerregenden Buches »Moral Man and Immoral Society« zum Ausdruck gebracht. Im unmittelbar-persönlichen Bereich, im Rahmen von face-to-face-relations, kommt »Moral« vor, kann wenigstens grundsätzlich eine Ethik der Liebe, kann uneigennützige Zuwendung, Hingabe, Selbstlosigkeit bis hin zur Selbstaufopferung praktiziert werden. Das aber geht offensichtlich nicht ohne weiteres in den überpersönlichen Beziehungen von Gruppen, Kollektiven, Organisationen. Es funktioniert erst recht nicht in Sozialsystemen noch größerer Reichweite: weder innerhalb nationaler Gemeinschaften noch in internationalen Beziehungen; weder innerhalb einer sozialen Klasse noch im Zusammenleben von verschiedenen Klassen miteinander. Dort herrscht de facto »Immorality«, kommt Moralität im konventionell-alltäglichen Verständnis nicht vor, geht es quasi unmoralisch zu. Niebuhr sieht einen wichtigen Zusammenhang zwischen diesem Tatbestand und der Frage, warum das »Prinzip Nächstenliebe« zur Lösung der Sozialen Frage nicht annähernd in dem Umfang beitragen konnte, wie es das Social Gospel und viele vorbildlich engagierte Christen anderer kirchlicher Richtungen erhofft und probiert hatten. Die Problematisierung dieses empirisch beobachteten Unterschiedes zwischen individueller und kollek­tiver Sittlichkeit soll ihm also helfen, grundsätzliche Defizite der christlichen Sozialethik seiner Zeit aufzuarbeiten. Er exemplifiziert seine Beobachtung unter anderem an der absurden Konstruktion, daß die eine Nation der andern um christlicher Liebe willen selbstlos dient oder sich für sie sogar selbstlos aufopfert. Eine solche Nation würde ihrer natürlichen Aufgabe entgegenhandeln und ihre eigene Existenz damit aufgeben. Denn die Aufgabe einer nationalen Gemein­schaft, etwa eines Staates, ist es ja, dem Volk als Ganzem, der Summe seiner Individuen ihre Lebensmöglichkeiten zu sichern, es gegen äußere Feinde zu schützen, die Bedingungen der Ernährung zu gewährleisten, vielleicht neue Siedlungsgebiete oder neue Rohstoffquellen zu gewinnen. Eine nationale Gemeinschaft muß sich daher um ihrer Grundfunktion willen primär von einer Art kollektiven Egoismus leiten lassen und keinesfalls von der selbstlosen Liebe zu anderen Nationen. Nächstenliebe im Sinne von uneigennützigem Dienst bis hin zur Bereitschaft zur Selbstaufopferung für den Nächsten und damit für die Gemeinschaft hat im Bereich der Nationen ihren Sinn innerhalb des Lebens eines Volkes. Im Kriegsfall erwartet die Nation sogar solche selbstlose, zum Selbstop­fer bereite Liebe von jedem ihrer »Volksgenossen« zum Schutze des Ganzen. Je selbstloser die einzelnen Bürger als Individuen handeln, desto stärker wird die Nation, desto selbstbezogener und egoistischer, tendenziell selbstherrlicher und imperialistischer kann sie damit und wird sie in der Regel nach außen auftreten. Im Blick auf eine geforderte Universalität des Liebesgebotes muß eine solche Konsequenz aber geradezu als paradox erscheinen: die engagierte Verwirkli­chung von Nächstenliebe auf der einen sozialen Ebene schlägt auf der nächsthö­heren in ihr ethisches Gegenteil um; sie ermöglicht und produziert geradezu die Steigerung von Egoismus und Herrschaftsstreben.

Dies Beispiel aus dem Leben der Völker kann leicht auf Rassen, Klassen und andere Großinstitutionen übertragen werden. Ein Arbeiter kann seinem ihm persönlich bekannten und in Schwierigkeiten geratenen Handwerksmeister in Lohnforderung oder Arbeitszeit »um der Liebe willen« entgegenkommen und dabei die Solidarität mit der Arbeiterschaft insgesamt elementar verletzen; indem er auf der nächsten sozialen Ebene dazu beiträgt, daß sich die Fronten im Arbeitskampf verhärten, die gewerkschaftliche Position geschwächt und damit seine personal motivierte Nächstenliebe mißbraucht und in ihr Gegenteil ver­kehrt wird. Der Versuch, sich wie in personalen so auch in überpersonal­abstrakten Sozialsystemen unmittelbar am Liebesgebot zu orientieren, führt also meistens zur Verstrickung in Widersprüche und Paradoxien, zu Verschleierung und Mißbrauch. Moralität im Sinne selbstloser Liebe läßt das kollektive Interesse nicht zu. Niebuhr erkennt, daß diese Gesetzmäßigkeit kaum durch immer neue Appelle zu aktiver Nächstenliebe außer Kraft gesetzt werden kann. Er sucht daher nach anderen Wegen, das, was mit christlicher Nächstenliebe im Kern gemeint ist, für den Bereich überpersonaler Sozialsysteme, für Kollektive und Großinstitutionen anwendbar zu machen. Er schlägt vor, sich in diesen Berei­chen statt am Begriff unmittelbarer Nächstenliebe am Begriff der Gerechtigkeit zu orientieren. Gerechtigkeit bedeutet dabei, die Unterschiedlichkeit von Inter­essen zu erkennen und rational zu verstehen, Konflikte zwischen den Gruppen­interessen zuzulassen und auszutragen, die Ausgangspunkte für den Kampf um die Durchsetzung eigener Interessen in eine faire Vergleichbarkeit der jeweiligen Machtmittel zu bringen, die dysfunktionale Ungleichheit von Stärkeren und Schwächeren aufzuheben in eine »funktionale Ungleichheit« der Interessen.

An dieses Konzept einer Transformation von spontaner Liebe in das »Prinzip Gerechtigkeit« ist schon bald die kritische Frage gestellt worden, ob hier nicht etwas von der Substanz christlichen Glaubens preisgegeben werde, weil jetzt der Egoismus nicht mehr verdammt, sondern empirisch vorausgesetzt und funktio­nal akzeptiert werde; weil ferner das vorrangige Interesse nicht mehr den absoluten Maßstäben gelte, etwa denen der Bergpredigt, sondern dem »relati­ven«, dem, was an besserer Gerechtigkeit möglich und machbar ist. Niebuhr bestreitet, daß die Konstruktion eines solchen Gegensatzes logisch konsequent sei. Für ihn bedarf wirkliche Gerechtigkeit immer der Grundmotivation wirkli­cher Liebe; ohne diese werde das Bemühen um Gerechtigkeit zynisch und rücksichtslos. Da sich solche Liebe in abstrakten und anonymen Sozialsystemen nicht in jener Unmittelbarkeit und Spontaneität äußern kann, wie es das Social Gospel gefordert hatte, muß sie indirekt vermittelt werden: durch die »balance of power«, die gegenseitige Abwägung von Interessen, die staatlich gesteuerte Ausbalancierung von Machtmitteln und Kräften.

Diese grundsätzliche Entgegensetzung von persönlichem und kollektiv-sozia­lem Bereich und die eindeutige Zuordnung unmittelbarer Liebe zu ersterem, erinnert unübersehbar an die Zwei-Reiche-Lehre der lutherischen Tradition. Sie erinnert besonders an diejenigen ihrer Varianten, in denen der gesamte individu­elle Lebensbereich eines Menschen durch die Möglichkeiten unmittelbarer Beziehung zu Gott bestimmt wird, während der öffentlich-gesellschaftliche Lebensbereich, was die Verantwortung vor Gott und die Erfüllung seiner Gebote betrifft, widersprüchlich und undeutlich charakterisiert wird. Ethische Entscheidungen in diesem gesellschaftlichen Bereich, der nicht selten mit dem »Reich der Welt« gleichgesetzt wird, sollen von der mündigen Vernunft unter besonderer Berücksichtigung von Eigengesetzlichkeiten des betreffenden Hand­lungsfeldes getroffen und verantwortet werden. Sie sind nicht von vornherein und direkt an die Maßstäbe des Reiches Gottes gebunden. So aber können sie relativ leicht auch von ihrer sozusagen indirekten Bindung an Gottes Gebot abgekoppelt werden. In der vom Protestantismus beeinflußten Völker- und Sozialgeschichte ist es oft genug zu solcher Auseinanderkoppelung von Gottes Gebot und politischer Staatsraison gekommen, wobei die Staatsraison meist weniger auf soziale Gerechtigkeit gerichtet als durch Willkür und rücksichtslo­sen Egoismus charakterisiert war. Eben dieser Gefahr der protestantischen Tradition, christliche Ethik aus der Gesellschaftspolitik gänzlich zu dispensie­ren, weil die konventionellen, auf Personalität bezogenen Verhaltensmuster der Nächstenliebe sich staatspolitisch als unbrauchbar erweisen, tritt Niebuhr mit seinem Konzept der Gerechtigkeit energisch entgegen. Gerechtigkeit, so kann man auch sagen, ist für ihn das auf die Sozialstruktur bezogene Äquivalent zu personaler Liebe. Gerechtigkeit ist ein »Reich-Gottes«-Maßstab für das Reich der Welt in seiner gesellschaftspolitischen Wirklichkeit. Bei genauerem Hinse­hen bedeutet diese Transformation von Liebe zu Gerechtigkeit für Niebuhr allerdings keineswegs, daß der Kampf um mehr Gerechtigkeit mit Liebe im personalen Sinn nichts mehr zu tun habe. Handeln im Sinne von Gerechtigkeit bedarf vielmehr schon deshalb der inneren Durchdringung durch die Liebe, weil die zur Aufrichtung und Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit notwendige Anwendung von Zwangsmaßnahmen und Gewalt nicht zu kalter, seelenloser Menschenverachtung verkommen darf. Außerdem können durch symbolische Aktionen von in Kleingruppen praktizierter Nächstenliebe weitreichende Impulse zur Bewältigung politischer Konflikte gegeben werden.

In Analogie zu einer bestimmten Variante der Zwei-Reiche-Lehre geht es Niebuhr also nicht nur um die richtige Unterscheidung, sondern auch um den richtigen Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen. Mit der Hauptströ­mung der lutherischen Theologie will er zuerst die Gefahren der Vermischung der Ebenen aufweisen und abwehren; über diese Hauptströmung hinaus aber will er auch vermeiden, daß es zu einem dualistischen Gegensatz zwischen einem christlichen Bereich der Personalität und einem nicht-christlichen Bereich der Gesellschaftspolitik kommt.

So deutlich die Nähe der Konzeption Niebuhrs zu einer bestimmten Position der lutherischen Tradition in dieser Zentralproblematik christlicher Ethik zu erken­nen ist, so nachdrücklich müssen andererseits das spezifische Eigeninteresse und die eigene Leistung der Niebuhrschen Fragestellung herausgestellt werden: vor allem die in ihrer Kombination von empirisch-sozialwissenschaftlichen und ethisch-theologischen Aspekten gründliche und unkonventionelle Untersu­chung der ethischen Strukturen überindividueller und abstrakter Sozialsysteme (wie Gruppen oder Nationen) und deren Bedeutung für die sozialethisch-theologische Theoriebildung. Mit der Identifizierung dieses Problems als theolo­gischer Aufgabe und mit seiner ersten Differenzierung hat Niebuhr ein Feld abgesteckt, das bis heute noch keineswegs zureichend bearbeitet ist. Niebuhr selbst hat sich diesem Arbeitsfeld vom Beginn seiner Professorentätigkeit an über 40 Jahre lang in immer neuen Versuchen gewidmet. Konkreter Anschauungsfall und Kristallisationspunkt dieser breiten Thematik bleibt für ihn dabei die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit, auch wenn sie an anderen, in ihrer Problemstruktur vergleichbaren Gegenüberstellungen wie Freiheit und Gleich­heit, Anarchie und Tyrannis, Absolutem und Relativem, Glaube und Kultur, Organischem und Artifiziellem durchgearbeitet wird. Im Zuge der zeitlichen Entwicklung hat sich sein methodisches Interesse von der ursprünglichen Inten­tion deutlicher Unterscheidungen in diesem Spannungsfeld immer stärker auf die angemessene Erfassung des Zusammenhanges verlagert, was nicht zuletzt in der zunehmenden Verwendung von Kategorien wie Dialektik oder Dialog zum Ausdruck kommt. Der Prozeß begrifflicher Definitionen der von ihm bevorzug­ten Kategorien und Fragestellungen kam freilich nie zu einem klaren Abschluß. Niebuhr mußte ihn wohl schon deshalb flexibel halten, weil neu aufkommende soziale Probleme ein modifiziertes begriffliches Bearbeitungsinstrumentarium nötig machten.

Anlaß, dieses komplexe Spannungsfeld individueller und kollektiver Moral zu bearbeiten, war die soziale Frage, wie sie sich zugespitzt nach der Weltwirt­schaftskrise von 1929 darstellte. Dabei hatte Niebuhr noch größere Schwierig­keiten als mit der Fruchtlosigkeit frommer Appelle an die Nächstenliebe und karitativer Aktivitäten mit den kirchlichen Äußerungen zur tieferen Ursache der sozialen Not. Vor dem Hintergrund seiner theoretischen Erkenntnis, daß das Postulat der Nächstenliebe eben nicht direkt und linear auf abstrakte Sozialsy­steme und auch nicht auf den Klassenkampf übertragen werden könne, wurden von ihm jetzt im Sinne seines Gerechtigkeitspostulates ganz entschlossen staatli­che und strukturelle Maßnahmen gefordert. Offenkundig konnte die notwen­dige soziale Gerechtigkeit nicht im Wege des sonst von Niebuhr bevorzugten kämpferischen Kräftespiels zustande kommen, weil die Arbeiterschaft ihrem Gegenüber, dem Privateigentum von Produktionsmitteln, hoffnungslos unterle­gen und ausgeliefert war. Darum mußte der Staat eingreifen: Er sollte ein Minimum an Gleichgewicht dadurch herstellen, daß er die Macht des Privatei­gentums beschränkte. Diese gesellschaftspolitisch konkrete Ausrichtung seiner Vorschläge und Forderungen deutet an, wie stark der Einfluß geworden war, den die marxistischen Erklärungsmodelle inzwischen für ihn gewonnen hatten. Wie viele andere sozialethisch engagierte Theologen sah auch er zu Anfang der dreißiger Jahre zweifellos in der marxistischen Theorie den am meisten plausi­blen Schlüssel zur Deutung und Veränderung der gesellschaftlichen Situation. Allerdings zielte sein eigenes Konzept nicht wie das des klassischen Marxismus auf die vorrangige Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln, sondern auf dessen Einschränkung. Nicht eine (utopische) soziale Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft war das ihm erreichbar und sinnhaft erschei­nende Ziel, sondern jene schon erwähnte »funktionale Ungleichheit«, die die lebensnotwendigen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Interessen und Interessengruppen zur Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit sowohl nötig als auch möglich macht. Wenn nun der Staat dafür Sorge zu tragen hat, daß diese funktionale Ungleichheit nicht zu einer dysfunktionalen, etwa durch hoffnungslose Unterlegenheit des einen Konfliktgegners, denaturiert, dann muß andererseits auch die Gefahr ins Auge gefaßt werden, daß der Einfluß des Staates durch die Anwendung seiner Machtmittel zu stark werden kann. An die Stelle der übergroßen Macht einer wirtschaftlichen Institution könnte nur zu leicht die erdrückende Konzentration politischer Macht treten. Zwischen diesen beiden Grundgefährdungen eines modernen politischen Gemeinwesens, der einseitigen Konzentration aller Macht bei der Wirtschaft oder beim Staat, sucht er einen gangbaren Zwischenweg. Auch die Bemühung um einen solchen Weg hat ihn, ebenso wie das Thema »Liebe und Gerechtigkeit« während der folgen­den Jahrzehnte nicht mehr losgelassen. Zwar findet und baut er auf diesem Weg Stationen aus, die ihm vorläufige Antworten und konkrete Vorschläge ermögli­chen. Doch kann er solche Stationen auch rasch wieder verlassen und anderswo neu Position beziehen.

Nicht zuletzt ist es seine Beziehung zur marxistischen Theorie und ihren Deutungsmodellen, durch die wichtige Positionsveränderungen auf seinem Wege markiert werden: Seine frühe Anlehnung an die Erklärungskraft und die konkreten Forderungen der marxistischen Doktrin erreicht ihren stärksten Grad in der kleinen Schrift »Reflections on the End of an Era« (1934). Die schon in »Moral Man« angestellte Überlegung, ob »soziale Gleichheit« unter bestimmten Umständen ein höheres Gut sein könne als »sozialer Friede«, wird jetzt im Sinne marxistischer Vorstellungen dahin verschärft, daß die erstrebte Umgestaltung der Gesellschaft letzten Endes möglicherweise erst durch eine Revolution erreicht werden könne. Allerdings bleibt er dabei, daß die Möglichkeiten der parlamentarischen Demokratie vorher ausgeschöpft werden müßten. Ob und in welchem Maße in diesem Prozeß Gewalt anzuwenden sei, soll nicht grundsätz­lich, sondern pragmatisch bewertet werden. Schon ein Jahr später, in der Schrift »An Interpretation of Christian Ethics« (1935), tritt die marxistische Kompo­nente in Niebuhrs Denken etwas zurück. Ansatzweise wird eine vorsichtige Distanzierung erkennbar, die in späteren Schriften immer stärker zum Ausdruck kommt. Nicht zuletzt hängt das zusammen mit theologischen Gewichtsverlage­rungen in der Interpretation dessen, was Sünde ist und wie in diesem Zusammen­hang der auch dem Marxismus innewohnende Fortschrittsglaube zu beurteilen sei. Mit der Zeit verknüpft sich die bleibende Anlehnung an bestimmte Elemente der marxistischen Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft mit einer zunehmen­den Ablehnung des real bestehenden Sozialismus und seiner Legitimationstheo­rien. Worum es ihm in Hinsicht auf eine Lösung der sozialen Frage weiterhin zu tun ist und bleibt, ist die Bemühung um das realisierbare Konzept einer »mixed economy«, einer vitalen und lebensfähigen Balance von Privatwirtschaft und staatlicher Steuerung.

IV

Je wichtiger die marxistische Gesellschaftsanalyse sowie die sozialethische Diffe­renzierung zwischen Individual- und Kollektivmoral zur theologischen Aufar­beitung der Sozialen Frage anfangs der dreißiger Jahre für Niebuhr geworden waren, umso deutlicher wurde ihm andererseits die Notwendigkeit, das ganze Problemfeld auch in einem genuin anthropologisch-theologischen Sinn neu zu durchdringen. Er selbst begann diese Aufgabe mit seinem 1935 erschienenen Büchlein »An Interpretation of Christian Ethics«, um sie in seinem großen Werk »The Nature and Destiny of Man« (2 Bde., 1941-1943) breit zu entfalten. Als Ausdruck und auch als Ursache der Dürftigkeit bisheriger theologischer Inter­pretationen der gesellschaftlichen Wirklichkeit war ihm ja schon früher ein liberales Christentum erschienen, dem in seiner engen Wechselbeziehung zu einer oberflächlichen, kommerziell geprägten Kultur die religiöse Wirklichkeit der Dimension von Transzendenz, Sünde und Erlösung verloren gegangen war. Besonders erbitterte es Niebuhr, daß die vorherrschende Theologie des Libera­lismus mit einer Wissenschaftsgläubigkeit einherging, die trotz aller gegenteili­gen Erfahrungen mit den sozialen und politischen Katastrophen der Zeit den maßlosen Anspruch erhob, durch »Science« den weiteren Verfall der Zivilisation zu stoppen, eine perfekte Gesellschaftsordnung zu schaffen und darüber hinaus die Frage nach den letzten Wahrheiten ausreichend zu beantworten.

Die liberale Theologie vermochte ebensowenig wie die allgemeine Wissen­schaftsgläubigkeit zu erkennen, daß die Lebenswelt des Menschen eine Welt abgründiger Spannungen ist, die nicht einfach durch Berufung der Rationalität lösbar sind. Man hatte die Dimensionen der Transzendenz geleugnet und dabei verkannt, daß die eigene Leitkategorie, nämlich der Geschichtsprozeß, seine dynamischen Impulse und seinen eigentlichen Sinn aus einer ihm transzendenten Bestimmung bezieht. Niebuhr versucht, dem Mangel an wissenschaftlicher Reflexion der Dimension von Transzendenz zunächst dadurch abzuhelfen, daß er die Begriffe Mythos und Symbol in einer neuen Differenzierung ins Spiel bringt. Der Mythos bewahrt zweierlei Elemente religiöser Wahrheit: ein »subra­tionales«, etwa im Sinne einer vorwissenschaftlichen, zeitgebundenen Weltdeu­tung, und ein »transrationales«, das von bleibender überzeitlicher Bedeutung ist, die Tiefendimension der Wirklichkeit anzeigt, was auch als Sinn der Wirklich­keit, der jenseits ihrer selbst liegt, aufgefaßt werden kann. Jeder Weltanschauung einschließlich derer des Marxismus und des liberalen Fortschrittsglaubens sind bestimmte Bestandteile eines solchen transrationalen (manchmal auch subratio­nalen) Mythos zu eigen. Um die Inhalte und Intentionen des transrationalen Mythos auszudrücken, können nicht ohne weiteres die im wissenschaftlichen Denken gebräuchlichen Kategorien der Kausalität, Meßbarkeit und begrifflichen Exaktheit angewendet werden. Es bedarf dazu vielmehr der Verwendung von Symbolen. Als Symbol kann jedes konkrete Phänomen des Alltags dienen, eine Person sowohl wie ein Ereignis oder eine Sache. Das betreffende Phänomen wird zum Symbol, wenn seine wesentliche Funktion darin besteht, über sich selbst hinaus auf das Transzendente zu verweisen. Nur auf solche symbolisch verwei­sende Art ist es möglich, beispielsweise von Eigenschaften Gottes zu reden. Wo die Wahrheit im konkreten Phänomen des Symbols selbst und nicht in seinem Verweisungscharakter gesehen wird, kommt es leicht zu Verdinglichungen, Götzenbildern oder falschen Verstandesopfern. Diese Gefahr besteht vor allem in orthodoxen und fundamentalistischen Glaubensvorstellungen und führt leicht zum Dualismus der doppelten Realität von weltlichen und »Heilstatsachen«. Umgekehrt besteht die Gefahr des Liberalismus darin, auf die Funktion von Symbolen ganz zu verzichten, auf diese Weise den immanent vorfindlichen Geschichtsprozeß zu transzendenter Bedeutung zu erheben und so im Wege des Monismus zu ähnlichen Formen von Götzendienst und Ideologisierung zu gelangen wie der Fundamentalismus. Beiden Gefahren, dem Monismus wie dem Dualismus, will Niebuhr mit seinem Verständnis von mythischem Denken entgehen. Nur dieses Denken ist wirklich »dialektisch«, entspricht also dem Verhältnis zweier Größen, das zugleich als Gegensatz und als Korrespondenz in Erscheinung tritt und dabei in einer höheren, transzendenten Einheit aufgehoben ist.

Wie aber verhalten sich die eher religionsgeschichtlich klingenden Begriffe wie Mythos und Symbol zu der Wahrheit des christlichen Glaubens? Niebuhr geht davon aus, daß man auch von Offenbarung mythisch reden kann. Er hält es für einen grundlegenden Fehler, Mythos und Offenbarung auseinanderzureißen. Schon darin kommt sein unterschiedliches Verständnis des Mythosbegriffs gegenüber dem im Entmythologisierungsprogramm Bultmanns intendierten und für mehrere Generationen deutschsprachiger Theologen dominierenden Mythosverständnis zum Ausdruck. Für Niebuhr ist die hebräisch-christliche Religion der Mythos par excellence. Um Mißverständnissen vorzubeugen, unterscheidet er in späteren Arbeiten allerdings zwischen allgemeiner Offenba­rung, bezogen auf alle Arten von Religion und Mythen, und spezieller Offenba­rung, womit das Christusgeschehen als geschichtliches Ereignis gemeint ist. Allerdings können auch die Aussagen der speziellen Offenbarung nur in mythi­scher Sprache ausgedrückt werden.

Die Bedeutung von Mythos und Symbol als den Schlüsselbegriffen dieser Zeit tritt später zurück. Es mag sein, daß sie beeinflußt war durch die erste engere Begegnung mit Paul Tillich, den Niebuhr selbst im Jahre 1933 an seine Hoch­schule, das Union Seminary in New York, geholt hatte und mit dem er dann 22 Jahre am gleichen Ort arbeitete; Form oder Intensität ihrer Kooperation ist allerdings von beiden literarisch kaum erwähnt und bisher auch wenig erforscht worden. Wie immer die gegenseitigen Einflüsse bestimmt sein mochten, für uns ist wichtig, daß Niebuhr mit Hilfe dieser Schlüsselbegriffe einen ihm gemäßen Weg der Auseinandersetzung mit den theologischen Defiziten des christlichen Liberalismus und insbesondere mit dessen geschichtlichem Fortschrittsglauben gefunden hat.

Spannungen und Lösungen in der Geschichte sind unvorhersehbar und unkalku­lierbar, weil sie von Menschen gewirkt sind, die ihrerseits die Freiheit zur Selbstbestimmung, zum Handeln und letzten Endes zur »Selbsttranszendierung« besitzen. Dieser Begriff der Selbsttranszendenz tritt nun, etwa seit Nie­buhrs »Gifford Lectures« in Edinburgh, 1939, und dann in seinem anthropologi­schen Hauptwerk »The Nature and Destiny of Man« in den Vordergrund seiner theologischen Überlegungen. Gemeint ist die Fähigkeit des Menschen, sich zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu Gott zu verhalten. Selbsttranszendenz ist die Bedingung der Möglichkeit zur Relation schlechthin. Erst durch Selbst­transzendenz wird der Mensch wirklich ein Selbst. Im Bezugsrahmen dieser conditio humana erörtert Niebuhr die entscheidenden Probleme der menschli­chen Existenz. Zum Wesen des Menschseins gehört einerseits, daß das Selbst sich seiner Endlichkeit bewußt ist und damit der Erfahrung, einen sicheren Grund seiner Existenz nicht in sich selbst zu haben und doch nach einem solchen Grunde zu verlangen. Zum Wesen des Menschen gehört andererseits die unend­liche Zahl von Möglichkeiten sittlichen Handelns. Diese beiden Grundgegeben­heiten, die Endlichkeit des Lebens und die Unendlichkeit von Handlungsmög­lichkeiten, geraten dann in ein widerspruchsvolles Spannungsverhältnis, wenn sie unter dem Aspekt drohender Sinnlosigkeit der Existenz erfahren werden. Den Ausdruck dieser Spannung bringt Niebuhr auf den Begriff der Sorge (»an­xiety«). Aus solcher Sorge um eine sinnhafte Existenz kann der Mensch sowohl getrieben werden, Gott zu suchen und in ihm seine Existenz zu gründen; die Sorge kann ihn aber auch in die Gegenrichtung treiben, die Sicherung seiner Existenz fern von Gott zu suchen, etwa auf Kosten anderer Menschen in Besitz, Macht oder sozialem Prestige. Sorge und Angst um die Sinnlosigkeit des Lebens können dazu führen, daß der Mensch sich in seiner Selbsttranszendenz auf sich selbst zurückzieht (in der Sprache der theologischen Tradition: »homo in se incurvatus«), daß er seine Endlichkeit in letzter Konsequenz überwinden will, indem er sich selbst absolut setzt. Auf diese Weise wird die Liebe zu Gott und zum Nächsten in Selbstliebe (amor sui) verkehrt. Das aber ist gleichzeitig Rebellion gegen Gott und Widerspruch gegen die eigentliche Bestimmung seines Selbst, ist Selbstwiderspruch, ist Sünde!

Die in dieser theologischen Gedankenführung erkennbaren Einflüsse von Augu­stin, Luther und Kierkegaard werden in der Entfaltung der Erscheinungsformen solchen Selbstwiderspruchs noch deutlicher: die wichtigsten Vokabeln über­nimmt Niebuhr unmittelbar aus der Begrifflichkeit Augustins: Hybris (engl. pride, lat. superbia) und sinnliche Begehrlichkeit (engl. sensuality, lat. concupiscentia), wobei der concupiscentia im Rahmen der theologischen Gesamtkonzep­tion Niebuhrs keine eigenständige Ausarbeitung zuteil wird. Hingegen vermag er den Begriff der Hybris vielfältig mit seinem sozialethischen Grundthema zu verbinden: In all ihren Äußerungsformen als Hybris der Macht, der intellektuel­len Arroganz oder der Selbstgerechtigkeit kann Hybris das Zusammenleben der Menschen, das individuale wie das kollektive, vergiften, ersticken oder zerstö­ren: Als Hybris eines Diktators, einer herrschenden Klasse und selbst als Hybris einer auf gewaltsamen Umsturz drängenden bisher unterdrückten Klas­se. Zer­störerische intellektuelle Hybris wirkt sich aus, wenn das Wahrheitsmoment einer politischen oder sozialen Doktrin zu totalem Anspruch und fanatischer Inanspruchnahme gesteigert werden. Selbstgerechtigkeit führt dazu, das eigene Selbst an die Stelle Gottes zu setzen und in denen, die anders denken, die Gegengötter und Teufel zu sehen und grausam zu bekämpfen. Konnten in den früheren Werken, besonders in »Moral Man«, gelungene personale Beziehungen als Manifestation oder Gleichnis christlicher Liebe gelten, so kann jetzt die Ungerechtigkeit sozialer Strukturen als Manifestation von Sünde im Sinne von amor sui charakterisiert werden.

Wie in der Anthropologie und Sündenlehre greift Niebuhr auch in der Erlö­sungslehre und Christologie auf die »symbolischen Verweisungen« der christli­chen Tradition, diesmal insbesondere Luthers zurück, um sie einerseits in der Diskussion mit dem zeitgenössischen Denken, andererseits und vor allem aber unter dem Aspekt ihrer sozialethischen Konsequenzen zu entfalten. War Jesus in den früheren Schriften wesentlich als Lehrer, als Vorbild einer Liebe, die auf weltliche Machtausübung verzichtet, dargestellt und wurde sein Kreuzestod weniger unter dem Gesichtspunkt der Erlösung als vielmehr unter dem der Verwirklichung wahrer Menschlichkeit bedacht, – so rückte jetzt die soteriologische Bedeutung des Kreuzes in den Mittelpunkt von Niebuhrs Theologie. Das Kreuz steht nicht mehr nur für eine Selbstverwirklichung durch Selbstaufopfe­rung, sondern es steht für die vergebende und neuschaffende Macht der Gnade Gottes. Diese Gnade durchbricht den Teufelskreis menschlicher Selbstliebe und wirkt Vergebung. Sie ist die Offenbarung der paradoxen Weisheit Gottes und des Sinnes der Geschichte. Für den Menschen wird diese Gnade jedoch nicht zum verfügbaren Besitz. Auch der Christ bleibt Sünder im Sinne von Luthers Formel vom »simul justus – simul peccator«.

Für die Ethik bleibt daher einerseits die frühere Auffassung in Geltung, daß am Kreuz die höchste Form der Menschlichkeit, die sich selbst aufopfernde Liebe offenbart worden ist und in den Christen wirken kann. Andererseits kann die Liebe, so wie der einzelne Christ immer auch peccator, Sünder, bleibt, nur gebrochen wirklich werden. Am stärksten gebrochen ist sie im sozialen Bereich, in kollektiven und größeren Institutionen, weil sich dort die Sünde durch die Vielzahl von Egoismen im Sinne des amor sui sozusagen potenziert und zur Struktur sozialer Ungerechtigkeit verdichtet. Andererseits bewirkt die verge­bende und neuschaffende Macht der Gnade ein verändertes ethisches Verhalten der Christen; es ist durch Demut, feste Entschlossenheit, Toleranz und (!) Heiterkeit (serenity) gekennzeichnet.

Mit seinem großen theologischen Entwurf »The Nature and Destiny of Man« hat Niebuhr an jeweils wichtigen Weichenstellungen in der Geschichte der neueren Theologie wesentlichen Anteil genommen: Einmal hat er als einer der ersten amerikanischen Theologen dazu beigetragen, daß in den USA, ebenso wie 15 Jahre vorher in dem von der Katastrophe des Ersten Weltkrieges erschütterten Europa, ein eigenständiger, explicit theologischer Ablösungs- und Überwindungsprozeß der vorherrschenden und steril gewordenen Strömungen von Social Gospel und Liberalismus, aber auch derjenigen eines konservativen Fundamentalismus mit dem Ziel einer neuen Orientierung an Transzendenz und Gnade in Gang gesetzt wurde. Zum anderen hat er im Unterschied zur »Dialekti­schen Theologie« der Europäer diesen Transformationsprozeß nicht in erster Linie oder, wie manche ihrer Vertreter, ausschließlich auf die Beziehung zwi­schen Individuum und Gott bzw. auf die Subjektivität konzentriert, sondern er hat sie von vornherein und in allen Schritten auf die Dimension der Sozialität in ihren verschiedenen Aspekten bezogen. Sein bevorzugtes Anschauungsgebiet der theologischen Zen­traldimension von Sünde und Gnade blieb die Dialektik von individualer Liebe und sozialer Gerechtigkeit. Niebuhr ist damit auch dem Vorwurf entgegengetreten, daß, nachdem der schlichte Glaube an ein naturali­stisch vorgestelltes Leben nach dem Tode verlorengegangen war, Kirche und Theologie die guten moralischen und sozialen Wirkungen des christlichen Glaubens in den Vordergrund ihrer Verkündigung gestellt hätten. Er hat der Theologie, der Kirche und der Gesellschaft insgesamt unüberhörbar und unwiderlegt ins Bewußtsein gerückt, daß die Härte des sozialen Schicksals ebenso unerbittlich sein kann wie die des Sterbens und daß der einzelne Mensch diesem Schicksal oft genauso wenig entgehen kann wie dem des Todes. Sein Thema der Sozialethik ist nicht an die Stelle des ursprünglichen Themas von Sünde und Erlösung getreten, sondern in seinen sozialethischen Problemstellungen entfaltet sich eine neue und immer von neuem zu bestimmende Dimension dieses christlichen Grundthemas.

Werke

Does Civilization Need Religion? A Study in the Social Resources and Limitations o£ Religion in Modern Life. New York 1927.

Moral Man and Immoral Society. A Study in Ethics and Politics. New York 1932. Reflections on the End of an Era. New York 1934.

An Interpretation of Christian Ethics. New York 1935.

Beyond Tragedy. Essays on the Christian Interpretation of History. New York 1937 (dt.: Jenseits der Tragödie. Betrachtungen zur christlichen Deutung der Geschichte. Übersetzt von O. A. Dilschneider. München 1947).

The Nature and Destiny of Man. 2 Bde., New York 1941-1943.

The Children of Light and the Children of Darkness. A Vindication of Democracy and a Critique of its Traditional Defense. New York 1944 (dt.: Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmli­chen Verteidigung. Übersetzt von L. Hellmann und J. Kaskell. München 1947).

Faith and History. A Comparison of Christian and Modern Views of History. New York 1949 (dt.: Glaube und Geschichte. Eine Auseinandersetzung zwischen christlichen und modernen Geschichtsanschauungen. Übersetzt von D. Schmidt. München 1951).

Christian Realism and Political Problems. Essays on Political, Ethical and Theological The­mes. New York 1953 (dt.: Christlicher Realismus und politische Probleme. Übersetzt von E. Ott und K. Th. Jellinghaus. Stuttgart 1956).

The Self and the Dramas of History. New York 1955.

Darstellungen

Lange, D.: Christlicher Glaube und soziale Probleme. Eine Darstellung der Theologie Reinhold Niebuhrs. Gütersloh 1964.

Neubauer, R.: Geschenkte und umkämpfte Gerechtigkeit. Eine Untersuchung zur Theologie und Sozialethik Reinhold Niebuhrs im Blick auf Martin Luther. Göttingen 1963.

Veldhuis, R.: Realism versus Utopianism? Reinhold Niebuhr’s Christian Realism and the Relevance of Utopian Thought for Social Ethics. Assen 1975.

Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 10,2: Die neueste Zeit IV, Stuttgart: Kohlhammer 1986, S. 205-224.

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