Eindrücklich, wie Albrecht Goes von seinen ersten Erfahrungen als Pfarrvikar in einer Landgemeinde zu erzählen weiß:
Von Albrecht Goes
Der Vikar ist das Kind der Gemeinde – das will sagen: ihm, der seine ersten pfarramtlichen Gänge in die Dörfer hinaus tut, sonntags die Predigt hält, ein wenig stockend und ein wenig mutig, werktags den Kindern biblische Geschichten erzählt und nach den Kranken sieht, ihm kommen sie alle entgegen, einen Schritt, drei Schritte und viele Schritte, wie man einem Kind entgegenkommt: in der Liebe. Und wenn ihn etwas hindurch zu tragen scheint durch diese ersten Wochen, da es Fuß zu fassen gilt, so möchte es wohl diese Liebe sein. Tagebuch zu führen über diese Liebe – er hat keine Muße dazu; die Augen nur, ehe sie sich abends schließen, haben Tagebuch geführt, farbiges Bilderbuch: so also sehen Bauernhände aus; so das Angesicht einer alten Frau; so eine Dorfschöne, die sich beim Küssen überraschen läßt; so ein verjagter Heimatloser, ein geprügelter Bursch, den niemand sehen will; so eine junge Mutter, wenn sie über die Wiege hin spricht. Noch fehlt ein Bild: der Tod. Der Vikar ist ein Stadtkind. Wäre er’s nicht, so wüßte er vom Tod, was hierzulande alle von ihm wissen, was aber in der Stadt hinter Vorhängen und Türen, Riegeln und Zellen verborgen bleibt: wie so ein Totes in seinem Kissen liegt, bleich, würdig und sehr still. Nun freilich, da er ein Sohn dieser Dörfer geworden ist, wird es auch zu ihm kommen, dieses Bild; es wird nicht allzulange auf sich warten lassen, der Tod geht reihum. Einmal wird er hier wieder einkehren. Aber bis dieses eine Mal vorbeigehen wird? So ist es denn wahr: der Vikar fürchtet sich davor, und zugleich wartet er darauf. Und durch den ganzen Sommer hindurch bleibt es so: furchtsames Warten. Bis es dann in einer Nacht plötzlich kommt, so kommt, daß zu irgendeiner Stunde es mochte allerfrühester Morgen sein – einer an sein Fenster klopft: Herr Vikar, einen Gruß, und ob sie nicht noch zur Mutter kommen könnten, sie sterbe. „Ja, gleich, im Augenblick.“ Er schließt das Fenster, faßt nach den Kleidern – Licht zu machen scheut er sich, er weiß nicht warum –, er weiß nur: jetzt kommt es also, jetzt ist es da. Schon ist er auf der Straße draußen und grüßt den Mann, einen Alterskameraden, und dann gehen sie. Sie haben eine halbe Stunde Wegs. Das Licht in der Stallaterne schwankt hin und her, hin und her auch schwanken die Gedanken: nun würde man bestehen müssen auf eine neue Weise. Auf welche Weise? Man müßte etwas sagen, etwas tun: wunderlichen Schritt in unbekanntes Land. Unterdessen spricht der Mund, fragt, antwortet; und die Zeit vergeht. Hier ist der Hof. Ein Hund schlägt an. Jetzt treten sie unter die Tür. Es ist ein dunkles Zimmer, das sie betreten, der Lichtkreis und die Petroleumlampe ist klein, aber die Sterbende liegt ganz im Licht. Sie ist eine Frau in den sechziger Jahren, grau, gescheitelt und dunkeläugig, eine Verlöschende. „Mutter, der Herr Vikar ist gekommen“, sagt das junge Weib, das die Männer beim Eintritt stumm gegrüßt hat, und die Bäuerin erkennt: „So, der Herr Vikar.“ Dann ist Stille.
Wir hören den Atemzügen zu, friedlichen Atemzügen. Ein Wind geht ums Haus, eine Frucht fällt ins Gras. Und wieder: Stille. So ist es also, denkt der Vikar. Ich sollte etwas tun, denkt er, etwas sagen. Warum sagt er nichts? Wovor fürchtet er sich denn? Fürchtet er sich vor dem Tod?
Von Zeit zu Zeit steht die Tochter auf, wischt der Mutter den Schweiß von der Stirn, bleibt wie prüfend eine Weile stehen; fürchtet sie sich nicht vor dem Tod? Ist sie noch bei sich: sie richtet sich ein wenig auf, und nun sagt sie: „Bitte, beten.“ Der Vikar weiß plötzlich, wovor er sich gefürchtet hat vorhin; er hat gefürchtet, seine eigene Stimme zu hören, hier im gleichen Raum, wo schon der Tod zuhört. Er hat sich gefürchtet, aber nun ist es nicht furchtbar; nichts dünkt ihm glaubwürdiger, nichts wirklicher als diese von weit her kommende Stimme: „Bitte, beten.“ Er weiß nicht, daß es seines Amtes ist, bei Sterbenden zu beten; er kommt sich nur vor wie ein Kind, das aufgerufen ist. Und so betet er denn. Es sind die Worte eines alten Sterbeliedes. Vor Jahrhunderten hat’s einer gebetet, und tausend nach ihm haben gemerkt, daß es recht ist, recht in seinen Worten, seinem Tiefgang, seinem Zusammenklang. Gericht ist darin und Erbarmen, Not und Ende der Not. „Amen.“ Und „Amen“ sagen auch Sohn und Tochter – und nun flüstert die Sterbende: „Amen.“ Es geht auf den Morgen zu. Ein dunkles Blau vor den Fenstern kündet ihn an; Müdigkeit lallt uns über die Augen. Aber da gehen mit einem die Atemzüge der Sterbenden rascher, und nun hat keines Zeit, an sich zu denken. Wir treten ganz nahe herzu. Und so zart kann kein Morgenwehen sein wie nun der letzte Hauch. Eine Weile noch verharren wir, horchend, wartend; worauf denn wartend? Dann geht die Tochter ans Kammerfenster und öffnet die Flügel weit.
„Nein, die Laterne ist nicht nötig, es ist ja bald Tag.“ Er geht allein zurück. Einmal würde er aufhören, Kind der Gemeinde zu sein, dann wäre es wohl auch die Liebe nicht mehr, die ihn trüge, wie sie Kinder trägt. Denn nun würde er das neue Wort wissen: daß ihn die Botschaft tragen würde, ihn und die Lebenden und Sterbenden um ihn, die gute Botschaft.
Quelle: Albrecht Goes, Dunkle Tür, angelehnt. Gedanken an der Grenze des Lebens, Eschbach: Verlag am Eschbach, 1997, S. 76-78.