Hannah Arendts Rundfunkvortrag „Wahrheit und Politik“ von 1963: „Vom Standpunkt des Philosophen manifestiert sich die Ohnmacht der Wahrheit, die Macht und Geltung nur gewinnen kann, wenn sich viele auf sie einigen soll­ten, wobei dann aber die Geltung dieser Art Wahrheit, beziehungs­weise ihr Machtgewinn, nicht der Wahrheit und ihrer Überzeu­gungskraft geschuldet wäre, sondern lediglich der Tatsache, daß Menschen sich auf sie geeinigt haben, die morgen ihren Sinn ändern und sich auf eine Unwahrheit oder eine beliebige Meinung einigen können.“

Wahrheit und Politik

Von Hannah Arendt

Daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, daß Lü­ge zu ihrem Handwerk gehört, daß es gefährlich ist, das Wahre an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen – dies sind Gemeinplätze, die gering zu achten von einem gefährlichen Mangel an Wirklich­keitssinn zeugen würde. Niemand hat sich über das Schicksal der Wahrheit in der Welt rücksichtsloser und illusionsloser ausgespro­chen als Hobbes, einer der großen politischen Denker des 17. Jahr­hunderts, der nicht daran zweifelte, daß der Satz »Die Winkelsum­me eines Dreiecks ist zwei rechten Winkeln gleich« zum Verbren­nen sämtlicher Mathematikbücher geführt hätte, wenn er zufällig mit Herrschaftsansprüchen oder anderen Interessen in Konflikt ge­raten wäre. Wobei wir natürlich sofort hinzufügen müssen, daß die Unterdrückung des Wahren in diesem Fall nichts geholfen hätte, da anzunehmen ist, daß gerade Sätze dieser Art von der Vernunft des Menschen immer wieder erzeugt werden. Setzen wir aber an die Stelle des mathematischen Satzes einen Satz historisch-politischer Art, in dem nicht eine »Vernunftwahrheit«, sondern eine »Tatsachen­wahrheit« bezeugt wird, so ist es um die Chancen des Siegs der Wahr­heit schon erheblich schlechter bestellt. Gerade die Kraft des tatsäch­lich Wahren – und damit haben wir es in der Politik primär zu tun – ist immer in Gefahr, von der Macht organisierter Interessen zum mindesten temporär aus der Welt herausmanipuliert zu werden.

Im politischen Bereich steht der Wahrheit das Interesse staat­licher oder gesellschaftlicher Art entgegen. Bei diesen Interessen sind immer wirkliche oder vermeintliche unmittelbare Lebensnot­wendigkeiten mit im Spiel, so daß man wohl meinen kann, das In­teresse müsse vor der Wahrheit den Vorrang haben. Soll, so wird man vom Standpunkt der Staatsraison fragen, die Welt um der Wahrheit willen zugrunde gehen? Fiat veritas pereat mundus? Ist nicht auch das Wahrheitsagen erst einmal an den Bestand und Fort­bestand der Welt gebunden? Und folgt hieraus nicht, daß die Wahrheit sich nur durchsetzen kann, ja sich nur durchsetzen darf, wenn die Interessen der Welt mit ihr übereinstimmen? Ist es nicht so, daß der Bestand des politischen Raumes nicht nur von anderen Mächten abhängt als der Kraft der Wahrheit, sondern daß Wahr­heit unter Umständen, die alles andere als selten sind, ihn direkt bedroht? Und daß also der Mensch, sofern er politische Verant­wortung übernommen hat, auf keinen Fall Wahrheit zum obersten Kriterium seines Handelns und Sprechens erklären darf?

Die Gemeinplätze und die auf den ersten Blick so plausiblen Erwägungen sind gefährlich, weil Richtiges und Unrichtiges, legi­time Erfahrungen und illegitime Interpretationen dieser Erfahrun­gen ungeschieden beieinanderliegen und ineinander übergehen. Allgemein gesprochen steht der Frage: Darf man den Bestand der Welt oder einer weltlich legitimen Interessengruppe der Wahrheit opfern? immer die andere Frage gegenüber: Was wird aus einer Welt, aus der die Wahrheit verschwunden ist? Lohnt es sich für Menschen noch, in einer solchen Welt zu leben? Konkret aber stellt sich die Frage ja nie in dieser verhängnisvollen Allgemeinheit. So wie es in der Politik eigentlich nie um die Wahrheit geht, sondern um partikular Wahres, eben Tatsachenwahrheiten, so ist auch das, was mit diesem Wahren in Konflikt geraten kann, niemals ein All­gemeines – etwa die Welt überhaupt –, sondern es sind partikulare Interessengruppen. Zu diesen partikularen Interessengruppen ge­hört auch der Staat, und zwar sowohl außenpolitisch, wo er mit den Interessen anderer Gemeinwesen konfrontiert ist, wie innenpoli­tisch, wo jede Regierung die jeweils herrschende Partei und ihre Interessen vertritt. Auf dieser Ebene, auf der das Wahre und inter­essengebundene Meinungen miteinander in Konflikt geraten kön­nen, ist Wahrheit identisch mit Unparteilichkeit und Unvoreinge­nommenheit, und die politische Rolle dieses Wahren ist, daß es den Meinungskampf nicht abschafft, wohl aber unter Kontrolle hält, daß es dafür sorgt, daß Meinungen an Tatsachen gebunden bleiben und der Unterschied zwischen einer Tatsache und einer Meinung gewahrt bleibt, schließlich daß in diesem Meinungskampf der Par­teien auch Tatsachen zu Worte kommen, an denen niemand ein In­teresse hat.

Daß auch diese Instanz des Unparteiischen noch in den Be­reich des Politischen gehört, beweist die ja immerhin erstaunliche Tatsache, daß die gleiche Welt, die nur zu oft die Neigung zeigt, das Wahre totzuschweigen oder gar totzuschlagen, es sich in einer viele Jahrhunderte währenden Tradition hat angelegen sein lassen, in den Universitäten, Akademien und Gelehrten-Gesellschaften selbst Raum bereitzustellen, wo Wahrheit jenseits aller berechtig­ten und unberechtigten Interessenkämpfe das zentrale Anliegen aller Beteiligten ist.

Denken wir zurück an die Anfänge dieser Tradition, so erin­nern wir, daß Plato die Akademie bewußt als den Ort gründete, an dem Wahrheit, von der Polis unbehelligt, eine Stätte haben sollte; und wenn auch Platos Hoffnung, daß schließlich die Aka­demie über die Polis herrschen und also Wahrheit das ausschlag­gebende Kriterion des Politischen werden würde, sich als trü­gerisch erwies und akademische Institutionen, gleich ob privater oder öffentlicher Natur, letztlich von politischen Entscheidungen abhängen, so daß auch die Zuflucht des Wahren in das Akademi­sche ständig der Bedrohung von Seiten des Politischen ausgesetzt bleibt, so ist doch andererseits nicht zu leugnen, daß die Chancen der Wahrheit, sich in der Öffentlichkeit geltend zu machen, unver­gleichlich größere sind, wenn es eine solche Stätte und die mit ihr verbundene Organisation unabhängiger Forscher überhaupt gibt.

Daß sich in der Existenz der Universitäten ein politisches In­teresse an desinteressierter Wahrheitssuche kundtut, kann heute leicht übersehen werden, weil die Universitäten nicht nur dem rein »Akademischen« dienen, sondern durch ihre Berufsschulen und vor allem durch die Entwicklung der Naturwissenschaften, deren reine Forschung so unerwartet lebensnotwendige Resultate gezeitigt hat, ihre Nützlichkeit für Staat und Gesellschaft längst bewiesen haben. Selbst die tyrannischen Staatsformen, für die Unabhängigkeit jeder Art eine beinahe tödliche Gefahr bedeutet, können es sich heute nicht mehr leisten, die Forschung von außen mit präjudizierten Re­sultaten zu leiten. Anders steht es in den Geschichts- und Geistes­wissenschaften, deren Objekt die menschlichen Angelegenheiten im weitesten Sinne sind. Gerade weil sie von den Dingen handeln, die für den Menschen qua Menschen relevant sind, dürfen ihre Er­geb­nisse an keine Lebensnotwendigkeiten gebunden sein, welche die sozialen und politischen Interessen von Gruppen bestimmen. Wenn also etwa die Geschichtswissenschaftler sich von politischen Interessen korrumpieren lassen und Tatsachen, deren Hüter zu sein sie bestimmt sind, verschweigen oder verschleiern, so haben sie sich nicht nur des berühmten Verrats am Geist schuldig gemacht, sondern sie haben Verrat gerade auch an ihrer eigentlich politi­schen Sendung geübt, die darin besteht, die Tatsachendarstellung von den Meinungs- und Interessenkämpfen zu scheiden und gegen sie zu schützen. Und wenn die politischen Wissenschaften, um ein anderes Beispiel zu wählen, auch zweifellos dazu dienen und die­nen müssen, auf die politischen Karrieren vorzubereiten, so doch nur in dem Sinne, daß an der Universität das gehörige Wissen ver­mittelt und im Geist der Unabhängigkeit tradiert wird; die Mei­nungsbil­dung und das politische Partei-Ergreifen ist davon ganz un­abhängig. Die Erziehung an der Universität kann nur dazu dienen, jene »Erweiterung der Denkungsart« zu bewirken, die im Sinne Kants der Wahrheit im Raum der Politik dient, weil sie dazu be­fähigt, »an der Stelle jedes anderen zu denken«, und also in allen Meinungen die partiellen Wahrheiten zu entdecken.

In diesem Sinne bringt der Raum des Akademischen das Ele­ment des Unparteiischen in die Politik, und darin liegt seine eigent­lich politische Bedeutung. Von der Politik her gesehen, dient das Wahre als das Unparteiische dem Ausgleich der Interessen und da­mit der Gerechtigkeit. Und insofern das Wahre nur gesagt und ge­funden werden kann in der Freiheit von den Lebensnotwendig­keiten und unter Absehung von möglichen Konsequenzen aller Art, von dem »was kommt danach«, manifestiert sich in dem Wahrheitsagen ein Teil jener Freiheit, um derentwillen Politik im eigentlichen und höchsten Verstände eines der zentralen Anliegen des Menschen ist.

Dies läßt sich vielleicht am besten an Gebieten illustrieren, die, obwohl in den Universitäten beheimatet, dem politischen Bereich im gewöhnlichen Wortsinne besonders nahe kommen. Wenn zum Beispiel die Soziologie und Psychologie in der modernen Meinungs­forschung aufdecken, auf welche Weise Meinungen erzeugt und manipuliert werden können, was ja nichts anderes heißt, als auf welche Weise die jeweiligen Interessengruppen Menschen daran hindern können, sich echte Meinungen zu bilden, so dient sie der Wissenschaft und der Wahrheit, und damit auch der Freiheit und der Gerechtigkeit, solange sie sich darüber im klaren ist, daß sie es mit den Gefahren des politischen Bereiches zu tun hat. Die gleiche Meinungsforschung verrät all dies und sich selbst als Wissenschaft, sobald sie sich entschließt, Experten der Meinungsmanipulation heranzubilden, um sie dann den jeweiligen staatlichen oder gesell­schaftlichen Interessengruppen zur Verfügung zu stellen. Zwar kann man in diesem Fall nicht sagen, daß diese Wissenschaften not­wendigerweise durch bestimmte Interessen korrumpiert sind, wie­wohl auch dies natürlich durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Sie sind vielmehr der Vorstellung, daß sie sich in dem außerakademischen Bereich des Politischen oder Gesellschaftlichen nützlich er­weisen müssen, zum Opfer gefallen und haben damit gerade ihren wirklichen »Nutzen«, eine Instanz des Unparteiischen im politi­schen Bereich zur Geltung zu bringen, preisgegeben. Daß im Sinne der Universität als einer Stätte der Forschung ein solches Unter­fangen selbstmörderisch wäre, versteht sich am Rande. Haben die­se social engineers im Dienste der großen Interessenverbände erst einmal die nötige Macht erlangt, so haben sie natürlich ein Interesse daran, der Freiheit und Unabhängigkeit der Universitäten den Garaus zu machen. Um ihnen den Nachwuchs zu sichern, bedarf es keiner Universität, da es sich hier nur um das Erlernen gewisser Techniken handelt, und die Forschung, die zeigt, wie es gemacht wird, kann für sie auf jeden Fall nur eine Gefahr bedeuten.

Daß Wahrheit unparteiisch ist, daß Wahrheitsagen darauf be­ruht, daß der Mensch von seinen eigenen Interessen im Privaten, im Gesellschaftlichen und im Politischen absehen und also sich von ihnen befreien kann, hat eine sehr lange, wenn auch nicht eigentlich theoretisch-philosophische Geschichte. Man könnte ihren Ursprung auf den Moment festlegen, als Homer beschloß, die Stimme des Liedes auch für den überwundenen Mann zu erheben und für Hek­tor zu zeugen, oder als später Herodot erklärte, er werde alles der Erinnerung Würdige aufzeichnen, gleichgültig, ob es sich um die Taten und Werke der Griechen oder der Barbaren handele. Nicht die moderne Wissenschaft im engeren Sinne, wohl aber der Geist von Wissenschaft überhaupt, den wir nur im Abendland vorfinden und der die Voraussetzung für alle wissenschaftliche Entwicklung ist, also der Geist der unbedingten Sachlichkeit und intellektuellen Redlichkeit ist griechischen Ursprungs. Und die Wahrheit, die hier auf dem Spiel steht, die es aufzudecken, in der Welt festzuhalten und vor dem Vergessen zu schützen gilt, ist immer die Tatsachen­wahrheit, also nicht die Wahrheit der Philosophen oder die Ver­nunftwahrheit, wie das achtzehnte Jahrhundert sie nannte. An die­ser Vernunftwahrheit aber hat sich nun ursprünglich, und zwar ebenfalls im griechischen Altertum, der Streit zwischen Politik und Wahrheit entzündet; und wiewohl, wie wir sehen werden, dieser Streit heute zwar nicht philosophisch, wohl aber politisch beigelegt scheint, müssen wir kurz auf ihn eingehen, um Klarheit über die legitimen und die nicht-legitimen Ansprüche des Wahrheitsagens im Bereich des Politisch-Öffentlichen zu gewinnen.

Seit dem Beginn der abendländischen Philosophie in Parmenides und Plato hat die Philosophie den unzuverlässigen Meinungen, welche die Vielen scheinbar unverbindlich untereinander austau­schen, eine Wahrheit entgegengestellt, die der Mensch nur als Ein­zelner gewinnen kann, wenn er sich aus dieser Welt des Scheinens und bloßen Meinens, in die die Vielen ver­strickt bleiben, löst und einen Weg einschlägt, der ihn in seiner Singularität in Bereiche führt, die gleichsam nicht von dieser Welt sind. Die Wahrheit oder die Wahrheiten, die er von dieser Reise zurück in das Haus der Vie­len, dem er ja immer verhaftet bleibt, trägt, sind allgemeiner Na­tur, das heißt, sie sind weder Tatsachen- und wissenschaftliche Wahrheiten noch logische oder mathematische Axiome, die den menschlichen Verstand zwingend überzeugen. Diese allgemeinen Wahrheiten nun haben das Fatale an sich, daß sie sich in der Öf­fentlichkeit mit ihrer Meinungspluralität sofort in Meinungen verwandeln, also gerade in das, was der einzel­ne bei seiner Reise ge­hofft hatte, ein für allemal hinter sich zu lassen. In den daraus ent­stehenden Konflikt zwischen philosophischer Wahrheit und politi­scher Meinung manifestiert sich ein Doppeltes: Vom Standpunkt des Philosophen – insofern nämlich als er ein Mensch unter Men­schen ist und das allen Menschen eigene Streben nach Macht teilt – manifestiert sich die Ohnmacht der Wahrheit, die Macht und Geltung nur gewinnen kann, wenn sich viele auf sie einigen soll­ten, wobei dann aber die Geltung dieser Art Wahrheit, beziehungs­weise ihr Machtgewinn, nicht der Wahrheit und ihrer Überzeu­gungskraft geschuldet wäre, sondern lediglich der Tatsache, daß Menschen sich auf sie geeinigt haben, die morgen ihren Sinn ändern und sich auf eine Unwahrheit oder eine beliebige Meinung einigen können. Wenn andererseits eine solche Wahrheit sich absolut durch­setzt und herrschend wird, also politische Macht gewinnt, ist im Sinne echter Philosophie erwiesen, daß auch sie nur eine Meinung ist, und zwar eine Meinung tyrannischer Natur, sofern wir dem Bei­spiel der klassischen Tradition folgen und jede Art von Einherr­schaft – die Herrschaft eines Mannes oder einer Meinung oder ei­ner Partei – mit Tyrannei gleichsetzen.

So ist für die philosophische Wahrheit, zu deren Wesen es ge­hört, den Menschen als Einzelnen zu betreffen, und die gerade dar­um alle nationalen, staatlichen und gesellschaftlichen Gruppenver­bände transzendieren kann, jede Eroberung politischer Macht – und Macht, gleich wo sie ausgeübt wird, ist immer politisch – ein Pyrrhus-Sieg; selbst eine philosophische Schu­le, von politischer Herrschaft ganz zu schweigen, hat bereits die der Philosophie ei­gentümliche Wahrheit zu einer Meinung unter Meinungen ver­kehrt, und was sie an Macht gewonnen, hat sie an Wahrheitsgehalt eingebüßt. Kant hat auch hier das Entscheidende gesagt: nicht nur wäre es, wie Aristoteles bereits gegen Plato eingewendet hat, dem politischen Bereich ausgesprochen abträglich, wenn Philosophen die Herrschaft in ihm ausüben würden, es wäre vor allem dem Philosophieren abträglich, da der Besitz von Macht mit der dem Philosophieren inhärenten Freiheit unvereinbar ist. Sofern der Phi­losoph die Vielen anspricht, spricht er sie als einzelne an, und das heißt nicht nur, insofern jeder von uns eine radikale Unabhängig­keit von den vielen, in deren Gesellschaft wir doch unser Leben verbringen, realisieren kann, sondern auch insofern jeder von uns als Einzelner machtlos ist. Das ist kein Argument gegen die Macht, die in dem Bereich der Vielen und des Handelns möglich und not­wendig ist, und es heißt nicht, eine Philosophie der Ohnmacht pre­digen. Es weist lediglich darauf hin, daß der Mensch sowohl der Macht wie des Verzichts auf Macht fähig ist, daß beides zu seiner Existenz gehört. Das Unheil beginnt erst, wenn die Macht der Vie­len dazu ausgenutzt wird, die Stärke des machtlosen Einzelnen zu vernichten, und dies geschieht immer, wenn die Mittelmäßigen und Schwachen sich zusammentun, um dem Ausgezeichneten den Gar­aus zu machen. Denn auch der Stärkste ist machtlos, wenn er allein ist, so wie er an Stärke gerade verliert, wenn er sich den Gesetzen der Macht fügt. Das Unheil, das von Seiten der Starken und der Unabhängigen droht, entsteht, wenn sie zur Gewalt greifen, um der Macht der Vielen, die ihnen bedrohlich wird, zu entgehen.

Vom Standpunkt der Politik manifestiert sich in dem Konflikt zwischen philosophischer Wahrheit und der Vielfalt der Meinun­gen die für die Existenz des öffentlichen Raumes ganz außeror­dentliche Gefahr, daß in die unendlichen und endlos sich kreuzen­den Relationen zwischen den Menschen ein Absolutes einbrechen könnte, das dem immerwährenden Gespräch, den immer neu sich entspinnenden Geschichten, dem nie abreißenden Meinungsaus­tausch zwischen den Menschen, in die wir zu unserem Heile, so­lange wir leben, verstrickt sind, ein Ende bereiten würde. Im Raum des Politischen, der die Relationen der Menschen regelt, wird jede allgemeine Wahrheit, also jede Weltanschauung oder Weitsicht, notwendigerweise relativiert, und hier gilt in der Tat das Wort Les­sings: »Sage jeder, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.« Jeder, der meint, die Wahrheit zu ha­ben als etwas, das andere zwingt, ob sie nun religiöser Offenbarung oder philosophischer Spekulation geschuldet ist, befindet sich nicht nur in einem Irrtum über den eigentlichen Sinn solcher allgemei­nen und absoluten Wahrheit; er bildet für das menschliche Mitein­ander und die in ihm mögliche Wahrhaftigkeit eine Gefahr, inso­fern er die Menschen daran hindert auszusprechen, was ihnen Wahrheit dünkt, und so den unendlich vielen partikularen Wahr­heitsperspektiven den Boden einer gemeinsamen Welt, die sich doch jedem anders darbietet, unter den Füßen entzieht.

Ich bin auf diesen uralten Streit zwischen Wahrheit und Mei­nung, den die Philosophen entfacht haben, so ausführlich eingegangen, weil er immer noch eine gewisse Rolle im Akademischen spielt. Dagegen hat sich nach langen und vielen Kämpfen in der politischen Wirklichkeit nachgerade doch ein Zustand herausgebil­det, der jedenfalls in freien Gemeinwesen dem Meinungsaustausch die gehörige Sicherheit und Freiheit garantiert. Was in früheren Zeiten oft so gefährlich war, nämlich eine abweichende Meinung zu äußern, birgt heute in den Rechtsstaaten kaum noch Gefahren in sich. Sicher ist es auch heute mit gewissen Risiken verbunden, etwa kommunistische Gedankengänge in der Bundesrepublik oder den Vereinigten Staaten zu vertreten, aber nicht wegen des Inhalts die­ser oder anderer Ideologien, sondern weil es kommunistisch regier­te Staaten mit einer großen, der Freiheit bedrohlichen Macht gibt, so daß jeder, der sich zu einer dieser Ideologien bekennt, in Ver­dacht gerät, eine fremde und eventuell feindliche Macht zu vertre­ten. Es ist nicht so sehr die Meinung als die Macht, die dahinter­steht, die den einzelnen in Gefahr bringt; es besteht die Befürch­tung, daß es sich hier nicht um jemanden handelt, der sagt, was ihm Wahrheit dünkt, sondern um den Agenten einer fremden Macht, der tut, was ihm vorgeschrieben ist.

Ganz anders aber verhält es sich nun mit den Tatsachenwahr­heiten, die gar nicht allgemein sind und die auch gar nichts mit Meinungen zu tun haben, es sei denn in dem allerdings sehr wich­tigen Sinne, daß Meinungsbildung überhaupt unmöglich ist ohne vorhergehende Klärung von Tatbeständen. Die Frage »Werden wir richtig informiert?«, die Karl Jaspers vor kurzem aufgewor­fen hat, ist politisch in diesem Zusammenhang die einzig ent­scheidende. Dies zeigt sich am sinnfälligsten daran, daß es selbst in den ideologisch gebundenen modernen Diktaturen zumeist er­heblich gefährlicher ist, gewisse Tatbestände in der Öffentlichkeit auszusprechen, als eine andere »Meinung« zu vertreten, und zwar auch dann, wenn niemand sich über die Tatsächlichkeit dieser Tat­bestände wirklich im unklaren befindet. So dürfte es selbst in Nazi- Deutschland erheblich weniger gefährlich gewesen sein, nicht an die offizielle Rassen­ideologie zu glauben, als zu sagen: »Juden und an­dere Angehörige diskriminierter Völker werden zu Millionen ver­nichtet.« In den freien Rechtsstaaten aber taucht die Gefahr des Wahrheitsagens überhaupt erst auf, wenn es sich um solche parti­kularen Tatbestände handelt, während bei den Wahrheiten oder Meinungen allgemeiner Natur ja doch die meisten bereit sind zu­zugeben, daß des Menschen Vernunft und Einsicht eben nicht un­fehlbar sind. Hier auch steht der Wahrheit ihr echter Widerpart gegenüber, die Unwahrheit, die sich vielfältig äußern kann – im Verschweigen, im Verschleiern und Verdrehen und schließlich im handfesten Lügen.

Wie immer es um den Gemeinplatz, daß die Lüge zum Hand­werk der Politik gehört, bestellt sein mag, es ist keine Frage, daß das Lügen, wenn es organisiert geschieht, eine außerordent­lich wirksame politische Waffe ist. Daß wir imstande sind zu sagen »Es regnet«, während draußen die Sonne scheint, daß wir also imstande sind, dem offenbaren Zeugnis unserer Sinne zu widersprechen, ist erstaunlich genug. In solchem widersprechenden Sagen manifestiert sich eine bedingte Freiheit des menschlichen Geistes von Tatsachen, und dieser Freiheit wiederum verdanken wir, daß wir die weltli­chen Umstände des menschlichen Daseins verändern oder auch rui­nieren können. Diese Fähigkeit aber kann sich nicht im Sagen des einzelnen, sondern nur im Handeln der Vielen realisieren, also im Bereich der Macht und des Politischen. Wer es unternimmt, auf eigene Faust und ohne Unterstützung anderer zu lügen, ist der Kraft der Wahrheit zumeist hoffnungslos unterlegen. Er allein wird es nie schaffen, alle Zeugen des Tatsächlichen aus der Welt zu räu­men; seine Lügen haben kurze Beine, und was er gesponnen, kommt schließlich an die Sonnen. Hier hat nur der Verbrecher eini­ge Aussicht auf Erfolg, aber nicht weil er lügt, sondern weil das Verbrechen selbst, also das Tatsächliche, bereits im Dunkel, fern von der Zeugenschaft der Mitmenschen stattfand. Die verbrecherische Lüge schöpft ihre Kraft aus einem wesentlichen Umstand des Tat­sächlichen selbst. Nur wo das Verbrechen überhandnimmt, also der Bereich des öffentlichen selbst sich entscheidend verdunkelt hat, erhalten solche Lügen politische Relevanz. Sonst kennen wir diese verhältnismäßig harmlosen Lügen im politischen Bereich nur aus der Diplomatie, die unter Umständen dazu dient, Geheimes geheimzuhalten. Die Lüge ist hier im Handeln selbst schon mitindi­ziert; sie tritt nicht mit dem Anspruch auf, die Welt überhaupt zu verändern.

Wirklich aktiv als eine eigenständige Macht wird die Lüge im Politischen erst dann, wenn es sich darum handelt, das, was öffent­lich geschah und öffentlich bekannt ist, aus der Welt wieder herauszumanipulieren. Wir kennen die radikalen Gewaltmittel, mit de­nen totalitäre Regime ihre Propagandalügen durchsetzen, und wir kennen die weniger radikalen, aber auch sehr gefährlichen Macht­mittel, mit denen in freien Ländern unbequeme Tatsachen ver­schwiegen oder verschleiert werden, um eine normale Meinungs­bildung in der Bevölkerung zu verhindern. In beiden Fällen ist das Lügen eine Form des Handelns, was von dem Ermitteln und Aus­sprechen des Wahren keineswegs ohne weiteres gilt, denn die Fest­stellung des Tatsächlichen ist gemeinhin die Voraussetzung des Handelns, also das, was dem Handeln vorangeht und ihm seine Direktion weist. Sobald es der Lüge wirklich gelingt, die Öffent­lichkeit in ihren Bann zu schlagen, ist es um die echte Fähigkeit des Handelns geschehen: anstatt sich an Tatsachen zu orientieren, um die Welt zu verändern und zu verbessern, versucht man, die Welt in ihrer Tatsächlichkeit zu vernichten. Die Beispiele, wie das gesche­hen kann, sind zahllos. Ein Volk hat einen Krieg verloren, und um dies sich nicht eingestehen zu müssen, erfindet es »Dolchstoßlegen­den«; oder ein Unrecht ist begangen, und um es nicht zuzugeben, wird die Geschichte eines ganzen Zeitabschnitts gefälscht. Diese Legendenbildung spielt im Öffentlich-Politischen die Rolle, die im privaten Bereich der Lebenslüge zukommt. In beiden Fällen fällt der Lügner seinen eigenen Lügen zum Opfer, auch er ist vor dem

Betrug, den er in die Welt gesetzt hat, nicht gefeit – ganz im Sinne der mittelalterlichen Geschichte von dem Turmwächter, der sich einen Spaß erlaubte und die Stadt mit dem Ruf »Die Feinde kom­men!« erschrecken wollte, um dann als letzter zu den Mauern zu eilen, um sie gegen den angeblichen Feind zu schützen. Die Ge­schichte ist harmlos, weil sie weder die menschliche Fähigkeit, das Tatsächliche durch Lügen zu ruinieren, noch die Organisationsge­walt, die sich hinter die Lüge stellen kann, in Rechnung stellt. Aber sie zeigt doch bereits an, wie sehr unser Realitätsbewußtsein davon abhängt, daß wir mit unseresgleichen eine gemeinsame Welt be­wohnen. Im Sinne des bewußten Lügens sollte doch gerade der Lüg­ner gewissermaßen die letzte Zufluchtsstätte des Wahren sein; das Phänomen der Lebenslüge oder der Verlogenheit demonstriert, wie wenig Verlaß darauf ist, daß Menschen in Souveränität lügen können, nämlich so, daß sie ihren eigenen Lügen nicht zum Opfer fallen. Dabei gilt: je größer die Zahl derjenigen ist, die der Lügner überzeugt hat, desto geringer ist die Chance, daß er selbst noch zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Daraus folgt, daß die Lüge in der Öffentlichkeit und unter den vielen ungleich gefährlicher ist als das private Schwindeln. Wo immer bestimmte Fakten in der Öffentlichkeit geleugnet oder durch Propaganda über­spielt werden, während sie von den politisch Verantwortlichen im privaten Gespräch ohne weiteres zugegeben werden, werden sich schließlich die öffentlichen Kundgebungen durchsetzen, selbst wenn sie gar nicht ernst gemeint sind, sondern nur für »Propagan­dazwecke« in die Welt gesetzt wurden.

Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen den ur­alten Lügen der Diplomatie oder der Staatsraison, die immer nur Partikulares betreffen und nur unter den zahlenmäßig äußerst be­grenzten verantwortlichen Politikern ausgetauscht werden, und den Lügen, welche die modernen, gigantisch angewachsenen Pro­paganda-Apparate der staatlichen wie der gesellschaftlichen Inter­essengruppen in die Welt setzen können. Sie sind nun wirklich in der Lage, eine in sich völlig stimmige und daher sehr glaubwürdige Ersatzwirklichkeit, ein sogenanntes image oder Propagandabild, als Fassade vor die real existierende Wirklichkeit zu schieben. Je bes­ser sie sich auf ihr Handwerk verstehen, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie selbst ein Opfer ihrer Propaganda werden, das heißt, daß schließlich die gesamte Politik der betreffenden Gruppe sich nicht mehr an Tatsachen orientiert, sondern an Propaganda­bildern. Die Absicht solcher Propagandabilder ist es natürlich, be­stimmte Interessen zu schützen, indem man die jeweilige Außen­welt täuscht, aber die Folge ist, daß nun nicht mehr andere und möglicherweise feindliche Interessengruppen primär bekämpft wer­den, sondern vielmehr diejenigen, die aus gleich welchen Gründen Dinge zur Sprache bringen, die mit dem Propagandabild nicht übereinstimmen. So liegt die Gefahr der Propaganda, sofern sie Tatsachen verschleiert oder leugnet, nicht nur im Ruin der freien Meinungsbildung, sondern auch in der Pervertierung der echten politischen Konflikte, die ja im Tatsächlichen ihren Grund haben.

Im Unterschied zur Meinungsmanipulation ist die Tatsachen­manipulation großen Stils verhältnismäßig neueren Ursprungs. Erst in den letzten Jahrzehnten haben sich die gigantischen Inter­essenorganisationen überall sogenannte »Forschungsabteilungen« zugelegt, deren Legitimität nun allerdings in der Forschung wie in der Politik mehr als fragwürdig ist. Was die Forschung anlangt, so wäre ja die ganze Abteilung völlig nutzlos, wenn es ihr nicht ge­länge, die Tatsachen im Sinne des Interesses zu präsentieren, und was die Politik anlangt, so wird ihr durch die angeblichen Resul­tate, die natürlich von Interessen präjudiziert sind, der Boden des Tatsächlichen, in dem sie sich bewegt und bewegen muß, entzo­gen. Die Gefahr, die der echten Forschung aus diesen »Forschungs­abteilungen« erwächst – wobei wir einmal von der verblüffenden Leichtigkeit absehen wollen, mit der, wie wir wissen, auch der un­parteiische, akademische Forschungsapparat an »nationale Inter­essen« gleichgeschaltet werden kann liegt darin, daß sie gleich­sam ins Gedränge gerät, wenn sie überall von Institutionen umge­ben ist, die ihr Konkurrenz machen. Sie verliert die ihr eigentümliche Autorität, die gerade darauf beruht, bestimmte Wahrheiten und Tatsachen aus dem notwendigen Streit der Interessen herauszu­halten. Haben die von Interessen geleiteten Forschungsinstitute erst einmal wirklichen Einfluß auf das öffentliche Leben gewon­nen, so tritt an die Stelle echter Polemik, in der Meinung und Mei­nung sich gegenüberstehen, eine Spiegelfechterei darum, wer die »richtigen Tatsachen« wisse – also die Diskussion um etwas, das nicht durch Diskussion, sondern nur durch unparteiische Forschung und verläßliche Information geklärt werden kann. Ungleich schwerwiegender aber sind die Folgen der Tatsachenmanipulation für die Politik selbst. Aus dem Licht der Öffentlichkeit verdrängt und hinter den Fassaden von Potemkinschen Dörfern verborgen, bleiben die wirklichen Tatbestände und die sich aus ihnen ergeben­den wirklichen Prozesse bestehen. Das Unheil, das man öffentlich nicht wahrhaben will, kann nun, ungehindert von allen Versuchen, die Welt wirklich zu ändern und dem Unheil Einhalt zu gebieten, seinen Lauf nehmen – bis schließlich, wie wir es ja nur zu oft erlebt haben, die Fassade zusammenbricht, und es nun so aussehen kann, als sei Wirklichkeit nicht aus Bösem und Gutem, aus Verfalls- und Degenerationsprozessen gemischt, sondern als sei nur das Unheil überhaupt noch wirklich. Das ist die Rache, mit der sich die Wirk­lichkeit dafür rächt, daß wir sie verleugnen.

Die Kraft der Wahrheit und die Stärke dessen, der es wagt, die Wahrheit zu sagen, beruhen letztlich darauf, daß sie sich mit der Welt und ihrer Erscheinung einig wissen und bereit sind, auch das Böseste noch zu ertragen, wenn es wirklich ist. Temporär ist die Kraft der Wahrheit, die nur von Einzelnen in Unabhängigkeit ge­funden und gesagt werden kann, der Macht organisierter Propa­ganda immer unterlegen. Aber Macht selbst ist sehr viel vergäng­licher als Tatsachen, die ihre sprich wörtliche Hartnäckigkeit der Permanenz der Welt verdanken, in deren Zusammenhang sie er­scheinen und gleichsam Platz nehmen. Macht verschwindet, sobald die Organisation erlahmt und die in ihr vereinten Menschen sich wieder zerstreuen; und wenn dies geschieht, ist das Wahre immer noch wahr, als habe es nur auf den Augenblick gewartet, da sich wieder eine Stimme in der Welt erhebt, die von ihm zeugt und es zur Geltung bringt.

So darf ich vielleicht, da ich mit dem radikalen Zweifel von Hobbes diese kurzen Betrachtungen einleitete, mit dem nicht we­niger radikalen Vertrauen von Milton, dem großen Dichter und Denker des gleichen Jahrhunderts schließen: »Wer wüßte nicht, daß Wahrheit stark ist, das Stärkste nach dem Allmächtigen. Sie be­darf keiner Politik und keiner Stratageme und keiner behördlichen Genehmigungen, um den Sieg davonzutragen. All dies sind viel­mehr die Manöver und Verteidigungstaktiken, deren sich die Un­wahrheit bedient im Kampf gegen ihre Macht. Der Wahrheit hin­gegen braucht man nur den ihr gehörigen Platz zu schaffen.«

Beitrag zur Sendereihe „Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker“ des Süddeutschen Rundfunks (Heidelberger Studio) unter Leitung von Johann Schlemmer, 1963.

Quelle: Die politische Verantwortung der Nichtpolitik. Zehn Beiträge, München: Piper, 1964, S. 159-176.

Hier der Text als pdf.

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