Dietrich Ritschl, Worte brauchen eine Wohnung (2000): „Theologie kann vieles leisten: sie kann sichten, erklären, Probleme lösen, Spaltungen heilen, Neues entwerfen, aber Rezepte liefern, wie Menschen, die die Gegenwart und Liebe Gottes nie verspürt haben, die Sprache der Bibel und der Gläubigen wieder bewohnen können, das vermag sie nicht.“

Worte brauchen eine Wohnung

Von Dietrich Ritschl

Nicht nur den Protestanten ist „das Wort“ wichtig, sondern natürlich allen christlichen Kirchen. Dies ist ja gerade das Besondere der „Religion“ Israels, in der wir Christen ein eingepropfter Zweig sind, dass nicht Bäume oder Tiere, goldene Gefäße oder Altäre, prächtige Gebäude mit farbigen Fenstern, Bilder oder Statuen, heiliges Wasser oder wundervolle symbolische Handlungen das Wichtigste, das Heilige, die Gegenwart Gottes bei den Menschen darstellen – sondern eben Worte, nüchterne Worte. Das ist das Israelitische, das Jüdische am Christentum, am Protestantismus. Oder stimmt das nicht?

Nun, es stimmt und es stimmt nicht. Unsere damalige Trennung von Israel und – schlimmer und schuldhafter in noch tieferer Weise – unsere Blindheit gegenüber der Gegenwart Gottes bei seinem Volk, den heutigen Juden, erklärt, weshalb dieser große Ernst gegenüber dem nüchternen Wort immer wieder verloren ging. Und doch ist es so, dass auch die wildeste Symbolik, die schönste Architektur und Malerei, die Hochschätzung der Ikonen, der Respekt vor Kirchenräumen und Altären letztlich – so sagen es immer wieder die Lehrer aller Konfessionen – dem Wort Gottes gelten und Symbolik für die Gegenwart des Wortes sein sollten.

Wort durch Ästhetik und Religion verdeckt

Eingangs wurde das Wort „Religion“ in Anführungszeichen gesetzt, weil damit angezeigt sein sollte, dass die üblichen Bedeutungen von „Religion“ das, was in Israel zentral war und ist, nicht voll einfangen können. Das gilt auch für die christlichen Kirchen. Wir brauchen hier nicht auf die rasante Religionskritik Feuerbachs oder auf Karl Barths radikale Kritik des Religionsbegriffs einzugehen. Es geht um etwas viel Einfacheres: ganz zweifellos ist zumindest das Christentum – über die Entwicklung des Judentums sollten wir uns mit kritischen Beurteilungen zurückhalten – in sekundärer Weise über die Jahrhunderte zur Religion geworden in dem Sinn, dass die typischen Merkmale von sozusagen „menschenmöglicher“ Religionsgestaltung das Eigentliche und Wesentliche überlagert haben. Man muss nun durch den ganzen Wust – und auch die Ästhetik und hohe künstlerische Leistung! – dieser vielfältig gewachsenen Religion hindurchschauen, um „das Wort“ wieder zu hören. Dies war exakt die Absicht der Reformatoren und sie sind deshalb mit Recht auch über die Jahrhunderte hin dafür gelobt worden, dass sie dies versucht haben und somit die Protestanten dem „Wort“ auf besondere Weise Gewicht gaben. Nur, sie meinten mit der Wiederentdeckung der Zentralität des Wortes natürlich nicht nur etwas Formales, sondern etwas Inhaltliches. Gott selber sei Inhalt des Wortes, genauer noch: das in Gott von Ewigkeit her ruhende Wort (der Logos), d.h. sein Plan, seine Liebe, seine Güte, seine Weisheit, sein Verstand, sein Eigentliches sei in Jesus von Nazareth Mensch geworden.

Probleme mit diesem Dreieck

So ist in der christlichen Lehre freilich nicht erst im Protestantismus, sondern schon von Anfang an in der Alten Kirche ein „Dreieck“ entstanden, mit dem nicht leicht umzugehen ist. Die Ecken des Dreiecks: „1. Gott (in ihm das ewige Wort), 2. Jesus Christus (als das menschgewordene Wort), 3. Das Wort des Zeugnisses (der Tora und der Propheten im Alten und der Apostel im Neuen Testament). Ich habe 40 Jahre lang theologische Prüfungen abgehalten und muss in der Rückschau sagen: wenige wussten mit diesem Dreieck so umzugehen, dass das Gesagte wirklich klar war und auch an eine Gemeinde hätte weitergegeben werden können. Die einen philosophierten lieber über „Sprache“, die anderen neigten zu der Meinung, Gott sei in Jesus „Wort geworden“, wieder andere tendierten zu einer glatten Identifizierung der Bibel – des Zeugnisses also – mit Gott.

Wenn wir über den heutigen Sprach- und Bedeutungsverlust jammern und nach neuen Sprachformen – besonders für die Jugendlichen – verlangen, was suchen wir eigentlich? Das Verlorene ist ja nicht die Sprache, sondern der Inhalt, letztlich Gott selbst. Freilich hängen die beiden zusammen, das ist unbestritten, und wie sie dies tun, wollen wir überlegen. Zunächst aber noch eine andere, das protestantische „Monopol“ auf das Wort betreffende Frage:

Ist das Wort wirklich im Protestantismus wieder entdeckt worden?

Eine arrogante Frage. Wem steht es denn schon zu, die Reformation als solche pauschal zu beurteilen? Das Anwachsen der evangelischen Kirchen seit dem 16. Jh., von der Entstehung des Weltprotestantismus ganz zu schweigen, zeigt selbstverständlich, dass damals ein gewaltiger Durchbruch zum Wort der Bibel – zum „Wort Gottes“ – geschehen war. Nur – und dies zu beobachten und zu beurteilen steht uns durchaus zu – „das Wort“ wird nicht nur in den evangelischen Kirchen gehört und beherzigt, sondern sehr wohl auch in der katholischen Kirche unserer Zeit, auch in neuen Bewegungen in der östlichen Orthodoxie und in gänzlich neu entstandenen, großen Kirchen in der Welt außerhalb des euro-atlantischen Raumes. Überall gelingt immer wieder der Durchbruch durch die Verkrustungen von Religion hindurch zur Wahrnehmung des „Wortes“. Oder nicht?

Dann aber die Schattenseite des Protestantismus: Die symbollosen Kirchengebäude, die schulstundenhaften Gottesdienste, die klischeebeladenen Predigten, die ewig redenden Pfarrer und Professoren – dieser ganze Wortschwall der Kirchenleute und -blättchen, ökumenischen Erklärungen und Konferenzen, alles so oft auf mittlerem intellektuellem und kulturellem Niveau….ist das nun die Frucht des großen Durchbruchs der Reformation zum „Wort“? Protestantische „Verkopfung“ wird oft beklagt, – wäre es doch nur eine echte, intelligente Verkopfung! – schlimmer noch sind die dünnen Inhalte, die ungenierten Wiederholungen und das naive Vertrauen in Worthülsen.

Also: brauchen wir eine neue Sprache? Wiederum ist die Antwort: Nein und ja zugleich. Und, was heißt schon „neue Sprache“? Gott statt „König“ oder „Herr“ etwa „Präsident“ oder „chair-person“ zu nennen, was brächte das schon außer Verwunderung bei den einen und Spott bei den anderen? Damit lockt man niemand, erst recht nicht Jugendliche, in kirchliche Treffen. Aber doch auch ja: neue Lieder sind schon etwas wert und beleuchten oft sehr schön unser heutiges Leben, nur – es gibt eben wenige. Und dann phantasievolle, poetische, lebendige, persönliche Predigten in einer Kirche oder beim Kirchentag, auch einmal eine gute Morgenandacht im Radio für einige Minuten – das gibt es schon. Am besten kommen Worte an, meine ich, wenn sie Ereignisse und Taten kommentieren. Worte und Taten gehören offenbar zusammen, und die Worte müssen im Kontext von Sätzen über Geschehenes und über Handlungen „wohnen“, um überhaupt sprechen zu können. Oder: Wenn Worte vom Tun abgelöst sind, wenn sie nicht auf ein Ereignis weisen, wenn sie nicht zu einer Realität hinführen, sind sie nichts mehr wert – „mach nicht so viele Worte!“.

Worte, Sätze, Geschichten

Wir müssen uns klar machen, dass Worte sozusagen „von Hause aus“ in Sätzen wohnen. Auch schicksalsträchtige Einzelworte wie z.B. „Ja, ich verspreche es dir!“ Ein einzelnes Wort kann zwar große Ereignisse auslösen, Menschen niederschlagen oder aufrichten – ein Fluch, ein Segen, ein Trost. Aber hinter dem Einzelwort steht doch jeweils ein Satz, ein möglicher Satz oder gar eine Reihe von Sätzen, und diese sind es, die einen Menschen niederschlagen oder trösten – sie hören sozusagen den unausgesprochenen Satz mit, wenn sie das Einzelwort hören.

Mit den Sätzen, die jemand ausspricht, ist es nicht anders: auch hinter ihnen stehen noch mehr Sätze, Unausgesprochenes schwingt mit. Wir können das testen, wenn wir jemand von einer Urlaubsreise erzählen hören, oder wie jemand uns einen abwesenden Menschen in wenigen Sätzen geschildert hat. War es da nicht so, dass wir immer „mehr“ gehört haben, als der Sprecher in Worten tatsächlich gesagt hat? Auch wenn wir einen Vortrag anhören: Beim Zuhören denken wir unweigerlich noch Zusätzliches, wir fragen uns blitzschnell, warum der Redner gerade dies jetzt so gesagt hat, ob er an anderes dachte? Ob ich dem, was er sagt, zustimmen kann usw.? Darum ermüdet man bekanntlich beim Zuhören und so erklärt es sich auch, dass wir nicht mehr alles hören, was der Redner sagt. Wir hören also einerseits mehr, andererseits weniger, weil wir unabsichtlich selektieren.

Die verführerischen Einzelwörter

Seit langem stehen wir alle unter dem Einfluss der Sprache der Technik, wo ein Einzelwort der Name für ein bestimmtes Ding oder einen Vorgang ist. Nicht so in der Bibel oder der echten Sprache des Glaubens: dort geht es um Geschichten, um Weisungen (in der Tora), um Lob und Klage (etwa in den Psalmen und Liedern) und um große Gedankenketten (etwa in den Paulusbriefen), nicht um Termini oder Namen von Dingen. „Was meinst du mit dem Wort „Gott“, „Liebe“, „Vertrauen“?“ – solche Fragen nach Bezeichnungen sind eigentlich unbeantwortbar, denn sie sind aus ihrem Kontext, ihrer „Wohnung“ herausgerissen. „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ oder die Geschichten im Alten Testament, von Jesus, sie sagen, wer Gott, was Liebe und Vertrauen sind. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn, von Jesu Kreuzigung, lassen sich nicht in einem Wort zusammenfassen.

„Denotationstheorie“ nannten die Sprachphilosophen das naive Streben nach einer Sprache, in der einzelne Worte verifizierbare Bezeichnungen für ein „Etwas“ sind. Leider folgen ihr viele Prediger und operieren somit – freilich unwillentlich – ähnlich wie die Fundamentalisten, die von Einzelworten glauben, die Wahrheit wohne in ihnen. Sie missverstehen, dass Worte auf die Wahrheit hinweisen, dass die Wahrheit hinter den Worten ruht, dass Worte zu allermeist Metaphern, also „ausgeliehene“ Sprache sind, etwa „König“, „Herr“, „Vater“ für Gott, „Gottes Sohn“, „Menschensohn“, „Hirt“, „Herr“, „Retter“, „Richter“ für Jesus Christus. All diese Einzelworte – auch „Gnade“, „Rechtfertigung“, „Gericht“, „Glaube“ – sie alle sind aus der Umgangssprache ausgeliehen und weisen auf die Wahrheit hin, sie sind nicht die Wahrheit. Ja, insgesamt, sternförmig sozusagen, weisen sie auf die Wahrheit hin, auf Gottes Präsenz, aber nur in ihre Einbettung in die Geschichten und längeren Satzgefügen, in denen sie „wohnen“.

Die eigentliche Tragik des Schicksals der Sprache in unserer Zeit sehe ich nicht so sehr in der Reizüberflutung durch Worte oder in der Oberflächlichkeit der Werbung als vielmehr in der Reduktion unseres Respektes vor Worten auf reine Bezeichnungen. Die krampfhafte Bemühung seitens der Kirchen und ihrer Sprecher, die Worte wieder neu mit Sinn „aufzufüllen“, bringt selten etwas, meist endet die Bemühung im Hin- und Herschieben und in der Wiederholung von Klischees. Sie sind dann wie Münzen, deren Währung nicht mehr gilt, Sie haben keinen „crash-value“, sagen die Philosophen. Damit ist aber das Schönste am Protestantismus, das nie endende Eindringen in den Kontext der alten Worte, in ihre Einbettung, die Offenheit für ihre heutige Interpretationskraft im persönlichen, sozialen und politischen Bereich preisgegeben und – dramatisch ausgedrückt – verraten. Da nützt auch die Suche nach neuer Sprache nicht viel. Neue Taten, neues Handeln tut not, dann wird auch griffig, tröstlich und glaubwürdig, was wir sagen. Das ist so, weil das Sprechen über die „Dinge Gottes“ und unser Sprechen in der Gott-Perspektive über die „Dinge unserer Situation“ unbedingt zusammengehören.

Wer steht noch im biblischen „Sprachstrom“?

Möglich, dass in vergangenen Generationen die Menschen – jedenfalls im euro-amerikani­schen Raum und im Bereich der orthodoxen Kirchen – direkter im biblischen Sprachstrom standen als heute. Wir müssen jetzt lernen, dass Christen – wie die Juden – eine Minorität werden und wir wissen noch nicht, wie wir damit umgehen sollen. Um nochmals das mir lieb gewordene Wort wohnen zu gebrauchen: unsere heutigen Mitmenschen „bewohnen“ die biblischen Geschichten vielfach nicht mehr. Sie sind wie leere, unbewohnte Straßenzüge in der Stadt, in der wir leben. Jemand hat noch die alten Stadtpläne – die Theologen vielleicht – aber die Häuser sind leer und wir kennen die Straßen nicht mehr. Das ist eine Tragik, nicht nur der Sprache, sondern der Kirche. In den neuen Bundesländern ist es noch krasser als hier zu spüren. Enorm viel hängt somit am Religionsunterricht, an Radio und kirchlicher Presse, am aktiven Tun der Gemeinden und diakonischen Institutionen, an Aktionsgruppen und sinnvollen Tagungen u.a.m. Theologische Rezepte – das kann ich nach Erfahrungen in vielen Ländern garantieren – gibt es nicht. Theologie kann vieles leisten: sie kann sichten, erklären, Probleme lösen, Spaltungen heilen, Neues entwerfen, aber Rezepte liefern, wie Menschen, die die Gegenwart und Liebe Gottes nie verspürt haben, die Sprache der Bibel und der Gläubigen wieder bewohnen können, das vermag sie nicht.

Quelle: Das Baugerüst 2/2000. Wieder abgedruckt in: Dietrich Ritschl, Theorie und Konkretion in der Ökumenischen Theologie, Münster: Lit, 22005, S. 159-163.

Hier der Text als pdf.

2 Kommentare

  1. Lieber Jochen, wiedereinmal ein großer Text. Was sind das alles für Schätze, an denen du uns teilhaben lässt. Wichtiger als die Tageszeitungen und Wochenblätter. Ich danke Dir sehr für diesen Fährmannsdienst. Dein Rolf

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s