Zum Übersetzen des Neuen Testaments
Von Fridolin Stier
Wer übersetzt, muß ver-setzen. Der Treue verschworen, muß er sie brechen. Die Sprachen wollen, sie können nicht anders. Eine jede spricht Himmlisches und Irdisches, Menschliches und Dingliches je anders gesehen und erfahren, je anders gefühlt und gewertet, erkannt und bezogen – wie Maler, die den gleichen Berg malen, verungleichen Sprachen das Gleiche. Wer vermag ein Trapez auf ein Rechteck zu fügen? Nun ist eben solch Unmögliches des Übersetzers Utopie, der Wahn seiner Treue, die weiß, daß das Müssen am Können scheitert, und doch nicht aufhört, ihr Müssen zum Tyrannen ihres Könnens zu machen […]
Um des Wortes willen gebietet die Treue, es mit den Wörtern genau zu nehmen. Aber mit einem Maximum an Wörterrichtigkeit ist dem Wort noch nicht der ganze Dienst getan. Denn nicht in den Wörtern nur west das Wort, es lebt und leibt im Satz: im baulichen Gefüge, im An- und Auslauf, im Vor- und Nacheinander der Handlung und des Handelnden. In der Lagerung der Akzente, in der Rhythmik, bis hinein in die sinnenhaften Elemente der Laute schafft sich das Wort, der Seele vergleichbar, seinen Leib.
Quelle: Fridolin Stier, Die Heilsbotschaft nach Markus, München: Kösel, 1965, Nachwort, S. 50-52.