Von Hans Bolewski
Reinhold Niebuhr, geboren am 21. Juni 1892 in Wright City, Missouri. Ausbilung am College und Seminar seiner Denomination, anschließend Master of Arts a der Divinity School der Universität Yale. 1915-28 Pfarrer von Bethel Evangelical Church in Detroit, 1928-60 Professor für Sozialethik am Union Theological Seminary in New York. Nach seiner Emeritierung u. a. Gastprofessor an der Universität Princeton. Mitarbeit an der Weltkonferenz „Kirche, Volk und Staat“ in Oxford 1937 und an der Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam. Mitarbeit am „Ökumenischen Seminar“ in Genf 1933-36. 1939 Gifford Lectures an der Universität Edinburgh.
Hauptschriften: Moral Man and Immoral Society. A Study in Ethics and Politics (1932); Reflections on the End of an Era (1934); An Interpretation of Christian Ethics (1935); Beyond Tragedy: Essays on the Christian Interpretation of History (1937, deutsch: Jenseits der Tragödie. Betrachtungen zur christlichen Deutung der Geschichte, 1947); Christianity and Power Politics (1940); The Nature and Destiny of Man: A Christian Interpretation, Bd. I (1941), Bd. II (1943); The Children of Light and the Children of Darkness: A Vindication of Democracy cd a Critique of its Traditional Defense (1944, deutsch: Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung, 1947); Discerning the Signs of the Times. Sermons for Today and Tomorrow (1946, deutsch: Die Zeichen der Zeit. Predigte für heute und morgen, 1948); Faith and History: A Comparison of Christian and Modern Views of History (1949, deutsch: Glaube und Geschichte. Eine Auseinandersetzung zwischen christlichen und modernen Geschichtsanschauungen, 1951); The Irony of American History (1952); Christian Realism and Political Problems. Essays on Political, Ethical, and Theological Themes (1953, deutsch: Christlicher Realismus und politische Probleme, 1956); The Self and the Dramas of History (1955); Pious and Secular America (1958, deutsch: Frömmigkeit und Säkularisation, 1962); The Structure of Nations and Empires. A Study of the Recurring Patterns and Problems of the Political Order in Relation to the Unique Problems of the Nuclear Age (1959, deutsch: Staaten und Großmächte, 1960).
Reinhold Niebuhr ist Sohn deutscher Einwanderer in die Vereinigten Staaten. Sein Vater, Gustav Niebuhr, war Bauernsohn aus dem lippischen Dorf Hadissen und wanderte mit 17 Jahren nach Amerika aus. In dieser Zeit, das heißt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, tragen die verschiedenen Denominationen des amerikanischen Protestantismus noch sehr stark das Gesicht der Heimatkirchen der Einwanderer, mit denen sie auch geistig und persönlich verbunden bleiben. Die evangelischen Deutschen ans der Altpreußischen Union finden sich in der „Evangelical Synod“, in der Niebuhrs Vater Pfarrer wird. Praktische Frömmigkeit und eine gesunde geistige Liberalität bestimmen seine Jugend. Der Vater habe sie, ihn, seinen Bruder Henry Richard und seine Schwester Hulda, so schreibt Reinhold Niebuhr später im Rückblick auf seine geistige Entwicklung, mit der Gedanken Harnacks bekannt gemacht, habe aber dessen liberale Überzeugungen selbst nur bis zu einem gewissen Grade geteilt. Reinhold Niebuhr setzt zwar seine Studien später an der auch damals schon bedeutenden Divinity School der Universität Yale fort, aber er bricht seine akademische Laufbahn schließlich nach seiner Promotion zum M. A. in Yale ab, und zwar nicht nur aus persönlichen Gründen (Tod seines Vaters), sondern auch, weil er der bloß wissenschaftlichen Reflexion über Erkenntnisprobleme überdrüssig wird. Ihn reizt die Praxis der Gemeindearbeit, die Predigen, der Umgang mit Menschen, das Organisieren einer erst in den Anfängen bestehenden Arbeitergemeinde der „Bethel Evangelical Church“ in Detroit, die bei seinem Amtsantritt 65 Mitglieder zählt und die auf eine Mitgliederzahl von 656 gewachsen ist, als er sie nach 13 Jahren verläßt, um am Union Seminary in New York Sozialethik, richtiger gesagt „angewandtes Christentum“, zu lehren. Als Theologe teilt er in dieser Zeh im wesentlichen die Anschauungen des „Social Gospel“, eines Sozialismus angelsächsischer Prägung, für den die ethische Auffassung des Reiches Gottes im Sinne Albrecht Ritschls bestimmend ist und dessen Programm etwa in dem Titel eines Hauptwerks des geistigen Führers dieser Bewegung Walter Rauschenbusch, „Die Verchristlichung der gesellschaftlichen Ordnung“, zum Ausdruck kommt. Im Geiste dieser Bewegung ist auch Niebuhrs erstes Buch der Frage gewidmet, ob die Zivilisation die Religio: brauche. Die meisten seiner ersten Aufsätze erscheinen im „Christian Century“. 1928 übernimmt er schließlich den Lehrstuhl am Union Theological Seminary in New York.
Niebuhr wird als Praktiker dorthin berufen, und er braucht, wie er selber sagt, ein volles Jahrzehnt, um seine Position im Sinne der Wissenschaft zu bedenken und zu bearbeiten, ein Jahrzehnt, in dem er sich aber auch der Problematik seiner bisherigen Anschauungen bewußt wird und sich von der Identifizierung des christlichen Glaubens mit dem sittlichen Idealismus des 19. Jahrhunderts befreit. Niebuhr selbst rechnet also seinen eigenen Werdegang als theologischer Denker bis fast zum Ende seines fünften Lebensjahrzehnts. Er hat aber dabei die pastorale Praxis ebenso wie sein akademisches Lehramt immer sehr weit verstanden. Die Gemeindearbeit umfaßt für ihn neben der Predigt, der Seelsorge, der Kinderlehre (die ihm offenbar nicht sonderlich lag) politische und soziale Aufgaben. Er leitet den pazifistischen „Versöhnungsrat“, er ist Vorsitzender des Detroiter Ausschusses für Rassenbeziehungen. Er gab, lange bevor in den Vereinigten Staaten die gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit Gesetz wurde, den Vertretern der American Federation of Labour Gelegenheit, im Abendgottesdienst zur versammelten Gemeinde zu sprechen. Die Trennung von Staat und Kirche bedeutet eben nicht Trennung des Pastors vom politischen Leben. Aber die Teilnahme am politischen Leben steht auch nicht den Aufgaben der Seelsorge entgegen, beides gehört zusammen. Der Pastor der Detroiter Arbeitergemeinde erlebt den Tod am Sterbebett, das Zerbrechen und das Bewahren des Glaubens, den gesundheitlichen Zerfall in der Fließbandarbeit, die Verzweiflung der Arbeitslosen in den Feierschichten der Ford-Werke, von denen die Mehrzahl der Einwohner des inzwischen zur Millionen-Stadt angewachsenen Detroit abhängt. Wo wird eigentlich dies Schicksal des Menschen in seiner Vereinsamung und in seiner Abhängigkeit von gesellschaftlichen Großorganisationen so bedacht, wie es die Wirklichkeit erfordert? Die Wirklichkeit einer technischen Welt mit ihren von einer Individualethik her nicht einsichtigen Gesetzmäßigkeiten? Die Wirklichkeit des Menschen mit seinem Wissen um das Gute und seinem tatsächlichen Versagen? Tut es die Wissenschaft? Tut es die Kirche? Das Denken, aus dem Niebuhr kam, glaubt an eine Möglichkeit des Zusammenwirkens von beiden. In seinen Detroiter Erfahrungen zerbricht dies Vertrauen. Er sei, so sagt er später rückblickend, jahrelang Pendler zwischen der kirchlichen und der akademischen Welt gewesen. Jede habe sich der anderen überlegen gefühlt. Die eine, weil sie den christlichen Glauben bewahrt, die andere, weil sie ihn überwunden habe. Die Ironie der Situation sei aber die, daß sich beide dabei der eigentümlichen Ähnlichkeit miteinander nicht bewußt wären, der Ähnlichkeit nämlich, daß beide gegenüber den letzten Wirklichkeiten des Menschen, des einzelnen wie der Gesamtheit, ihre Relevanz verloren hätten. Niebuhr unternimmt den Versuch, diese Relevanz wiederzugewinnen. In kritischer Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und mit der Kirche, aber zugleich auch für die Wissenschaft und für die Kirche. Wissenschaft ist für Niebuhr wie für das angelsächsische Denken überhaupt in erster Linie Erfahrungswissenschaft, Science. Diese Wissenschaft ist das Ergebnis eines geschichtlichen Verlaufs, den Auguste Comte mit seiner Lehre von den drei Zeitaltern, dem theologischen, dem metaphysischen und dem wissenschaftlichen, ganz sachgemäß beschrieben hat. Nicht sachgemäß aber sei, so sagt Niebuhr, das damit verbundene Werturteil, so als ob die Wissenschaft jetzt die Antwort auf die Frage nach der letzten Wahrheit sei. Insofern ist die unmittelbare Geschichtserfahrung unserer Zeit mit ihren sozialen und politischen Katastrophen eine Nemesis gegenüber der Maßlosigkeit eines wissenschaftlichen Anspruchs, die „sichere Methode“ zu sein, die „den dauernden Verfall der Zivilisation unmöglich“ machen sollte, wie John Dewey, Niebuhrs immer wieder zitierter Gegner, geglaubt hatte. Gott lacht darüber. Die eigentliche Tiefe der Ironie gegenüber solchen Hoffnungen — und in der Ironie geschichtlicher Situationen meldet sich für Niebuhr immer der richtende Gott — liegt darin, daß in ihnen der Mensch als das sich selbst widersprechende und darum sich selbst transzendierende Wesen verkannt ist. Der Mensch kann sich weder als Natur noch als Vernunft begreifen. Auch das ist eine Erfahrungstatsache, die jedem zugänglich ist und die gerade darum auch eine pragmatisch; Wissenschaft nicht übersehen sollte. Er kann sich aber verstehen, wenn er sich von Gott gekannt und geliebt weiß. Allerdings muß er die Gültigkeit dieses Glaubens in der geschichtlichen Auseinandersetzung ständig erproben. Verzichtet er auf die gläubige Übernahme seiner Existenz, glaubt er. selber Herr der Geschichte zu sein, so scheitert er an seiner Hybris. Verzichtet er auf die Auseinandersetzung im Drama der Geschichte, so wird sein Glaube zur Trivialität und hört damit auf, wirklicher Glaube zu sein. Niebuhr sieht darin die eigentliche Gefährdung der Kirche in der modernen Welt.
Das gläubige Verständnis der menschlichen Existenz und die wissenschaftliche Erforschung und Planung von menschlichen Situationen und Projekten bedingen und durchdringen einander. Die menschliche Welt ist eine Welt von Spannungen, die rational nicht lösbar sind. In dieser Erkenntnis liegt auch der Ausgangspunkt einer Abkehr gegenüber Aufklärung und Idealismus, wie sie die kontinental-europäische und insbesondere die deutsche Theologie nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen hatte. Die Pole der Spannung werden hier gesehen zwischen Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch, Sünde und Gerechtigkeit, Glauben und kritischer Wissenschaft. In diesem Sinn hat sich die neue Theologie als eine „dialektische Theologie“ verstanden. Orientiert war sie in erster Linie am Menschen als Einzelwesen. Mochte sie dies Einzelwesen auch als Mitmenschen, als im Dialog befindlich, ja sogar als „hörig“ gegenüber dem politischen Gemeinwesen (F. Gogarten), als eingebunden in vorgegebene Ordnungen (E. Brunner sehen, so ist ihr dennoch der Mensch in seinem Ausgeliefertsein an soziale Prozesse nicht eigentlich Gegenstand des Nachdenkens geworden. Es ist charakteristisch für die ganz andersartige Entwicklung der amerikanischen Theologie, daß sie erst etwa 1930 zur Methode eines dialektischen Denkens gerade im sozialen Bereich findet. Hier wird das dialektische Denken, wie E. Brunner später sagt, „frei von der theologischen Sprache; es wird zur Kulturphilosophie und zur Sozialkritik und erfüllt beide mit prophetischem Ernst“. Es zwingt zum Überdenken der jeweils eigenen Position. Für diesen Durchbruch ist Reinhold Niebuhr innerhalb der amerikanischen Theologie entscheidend gewesen. Dieser Durchbruch bestimmt bereits Inhalt und Form der Veröffentlichung Niebuhrs, die zum Ausgangspunkt seines sozialethischen Denkens wurde und die sich in gleicher Weise gegen weltliche wie gegen religiöse Moralisten wandte, weil diese nämlich das Verhalten des Menschen innerhalb der Kollektive nicht von seinem durch Vernunft oder Gewissen bestimmten Verhalten, dessen er als einzelner fähig ist, zu unterscheiden vermochten. Daraus resultiert dann der Konflikt zwischen dem „sittlichen Menschen und der unsittlichen Gesellschaft“. Dieser Konflikt kann durch eine rationale Norm der Gerechtigkeit, die einen optimalen Ausgleich der Interessen aller suchen muß, zwar erleichtert werden, doch bedarf eine solche rationale Norm wiederum des Rückbezugs auf die Agape, die sie zugleich transzendiert und begründet. Ohne diesen Rückbezug hat das Gesetz keine Kraft zur Durchsetzung, und es stünde überdies in der Gefahr, zum „Instrument der Sünde“ zu werden.
Die Geschichte ist eben ein Drama, dessen Spannungen und Lösungen unvorhersehbar sind, weil es von Menschen gewirkt wird, die die Freiheit der Selbsterkenntnis, der Selbstbestimmung und des Handelns besitzen und die sich eben darin selber transzendieren können. Die Geschichte ist daher ebensowenig wie der Mensch aus sich selbst verstehbar.
Wer also in diesem Sinne Geschichte deuten und Weisungen für das Handeln des einzelnen und der Gesellschaft geben will, muß angeben, wer der ist, der bedingend und bedingt an und in der Geschichte wirkt und was die Transzendenz ist, auf die sich beide, der Mensch und die Geschichte, beziehen. Sozialethik und Geschichtstheologie gehen daher bei Niebuhr eine Verbindung ein. Wingrens Vorwurf, das Interesse der Moderne für die guten moralischen und sozialen Folgen des christlichen Glaubens sei im selben Augenblick wach geworden, als der schlichte Glaube an ein wirkliches Leben nach dem Tode verlorenging, übersieht die Härte des Schicksals, das den Menschen hinter der freundlichen Fassade des Sozialen zugemutet wird und dem der Mensch nicht weniger ausgeliefert ist als dem Tode. Das Thema der Sozialethik tritt also nicht an die Stelle des alten Themas von Sünde und Erlösung, es zeigt sich nur als neue Dimension desselben Themas. Die Entdeckung dieser Dimension ist vielleicht die eigentliche Leistung Niebuhrs in der modernen Theologie. Aus diesem Grunde ist die Sozialethik Niebuhrs an der Weise orientiert, in der Augustin, Luther, Pascal und Kierkegaard das biblische Menschenverständnis in ihrem Denken jeweils neu formuliert haben: das, was der Mensch ist, getrennt von Gott durch die Sünde, die in immer neuen Formen über ihn Gewalt gewinnt, und was er sein kann und sein soll durch die Gnade, mit der ihm Gott im Kreuz Christi als Richter und Retter begegnet. Der Pragmatismus Niebuhrs, der die Erscheinungen der Welt ohne moralische Wertung oder ontologische Kategorisierung hinnimmt, so wie Augustin auch nur einen „geringen Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande“ sah, läßt ihn dann aber die Frage nach den Triebkräften stellen, die diese Welt der äußeren Erscheinungen in Bewegung setzen, nach des Menschen Elend und Größe, nach seiner Vernunft und seiner Unvernunft, seiner Angst und seiner Hybris. Diesen Mächten begegnet Gott im Kreuz, in dem der Widerspruch von Wesen und Existenz nicht mehr besteht; er nimmt sich in Christus des Menschen an, damit der Mensch zu sich selbst kommen kann. Gott tritt also in das Drama der Geschichte ein, das damit auch nur von diesem Eintritt Gottes her richtig gedeutet werden kann. Der Eintritt Gottes in die Geschichte aber findet seinen Ausdruck in Mythen und Symbolen, die weder in einem als grundsätzlich erkennbar angenommenen Geschichtsverlauf eingeebnet werden dürfen, noch im Sinne der Orthodoxie als wörtlich und für sich verständlich aus der Geschichte isoliert werden können. Diese „mythischen Paradoxe“ sind unauflösbar. Gerade bei ihnen aber hat geschichtliches Denken einzusetzen. Im Kreuz symbolisiert sich die Gegenwart Gottes in der Geschichte.
Niebuhr erklärt, er sei nicht Theologe. Er sei ein Lehrer der christlichen Sozialethik und habe sich in diesem Bereich mit der Hilfswissenschaft einer christlichen Apologetik beschäftigt. Ihm ist es aber in dieser doppelten Aufgabe gelungen, die Sozialethik und darüber hinaus auch die politische Ethik christologisch implicite — im Unterschied zu K. Barths expliziter Behandlung dieses Verhältnisses — zu begründen. Zugleich aber liegt darin der Versuch, Gebiete, die sich in einer langen Entwicklung voneinander entfernt hatten, Kirche und soziale Welt, Glaube und Wissenschaft, wieder zusammenzuführen. Niebuhr spricht von einer „Synthese von Reformation und Renaissance“. Es geht aber um mehr als nur um eine bloße Synthese im Sinne der Geistesgeschichte. Gewollt wird eine Umwandlung von bloßen Denk- und Glaubensformen in Kräfte, die das Leben bestimmen und gestalten. Wie das geschehen kann, das hat niemand besser als Niebuhr selbst in seiner Existenz als theologischer Lehrer, als Journalist, als Politiker, als Prediger und als ökumenischer Kirchenmann bewiesen. Er hat in diesem Sinne ebenfalls wie kein anderer die Theologie als eine scientia eminens practica wieder zur Geltung gebracht.
Dabei sind allerdings viele Fragen offen geblieben, Fragen, die sich heute mit zunehmender Dringlichkeit melden. Die heutige Geschichts- und Sozialwissenschaft ist eben nicht mehr durch den einfachen Fortschrittsoptimismus Deweys repräsentiert. Sie ist sehr viel skeptischer und zugleich rationaler geworden. Die Behandlung ideologiekritischer, wissenssoziologischer und hermeneutischer Fragen ist weiter vorangetrieben und verlangt für das Gespräch zwischen Glauben und Wissenschaft gerade für den Glauben ein erhöhtes Maß an Reflexion über den eigenen Standpunkt. Vielleicht liegt hier die besondere Schwäche in Niebuhrs Denken. Er wisse immer schon, hat P. Tillich ihm vorgehalten, ohne die Frage zu stellen, wie er denn überhaupt wissen könne. Es könnte sein, daß einer jetzt in die geistige Arbeit eintretenden Generation manches als selbstverständlich erscheint, was zwischen den Extremen eines christlichen Fundamentalismus und eines sozialen Optimismus erst mühsam ins Bewußtsein gehoben werden mußte. Es könnte aber auch sein, daß Niebuhrs Werk schon die Ansätze zur Überwindung eines Skeptizismus enthält, gegen den er sich, wenn auch vielleicht nicht immer mit den richtigen Argumenten, sowohl bei R. Bultmann wie bei K. Barth wehrt. Niebuhr selbst weiß, daß er am Ende eines Zeitalters lebt. Er ist einer derjenigen, die dies Bewußtsein der jetzigen Generation vermittelt haben. Er hat aber dieser Generation auch die biblische Wahrheit vom letzten Ende der Geschichte neu gedeutet, in dessen Erwartung der Mensch in allen Epochen seinen Beruf als Mensch zu erfüllen hat.
Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 397-403.