Heinrich Vogel, Orthodoxie als Doxologie (1964): „Der um unsertwillen so tief Herabgestiegene, Er, der Menschgewordene, der für uns Gekreuzigte, Leidende und Begrabene, ist es doch, dem jene Doxologie der Höhe gilt. Er, der mit dem Vater wesenseine Sohn ist es, in dem sich Gott selbst unserer so er­barmte.“

Orthodoxie als Doxologie[1]

Von Heinrich Vogel, Berlin

Wer es in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts inmit­ten des neoprotestantischen Wissenschaftsbetriebes der Epoche nach 1945 unternimmt, nach Orthodoxie als dem der Theologie Gebotenen und Verheißenen ernstlich zu fragen, muß darauf gefaßt sein, daß er einen wahren Kordon von Miß­verständnissen und Vorurteilen zu durchstoßen hat. Der im Raum der Ostkirchen nach wie vor zentrale und leuchtende Begriff „Orthodoxie“ ist im westlichen Bereich so hypothe­karisch belastet und diskreditiert, daß man allein schon vor der Aufräumungsarbeit zurückschrecken könnte, die es im Vor­gelände der sachlichen Erörterung zu leisten gälte. Welcher protestantische Theologe beteuerte nicht auf der Schwelle des Umbruchs der Zeitalter, der Weltanschauungen und Denkfor­men, daß er nicht mit der „Orthodoxie“ verwechselt sein wolle, — von jenen zu schweigen, die in eine gewisse Verlegen­heit gerieten, wenn ihnen der immer von neuem anvisierte und perhorreszierte Gegner etwa wirklich abhanden käme! Wer hier neu zu fragen und umzudenken versucht, muß damit rech­nen, daß sein Kopf-Bild jener Uniform aufgeklebt wird, die schon der Rationalismus des XVIII. Jahrhunderts in seiner zor­nigen Reaktion gegen die Sünden der Orthodoxie des XVII. Jahrhunderts schneiderte. Für dieses ebenso billige wie beliebte, bis zur Stunde immer neu angewandte Verfahren eignen sich vorzüglich Begriffe wie: Neo-Orthodoxie oder gar Fundamenta­lismus, Ontologie und Offenbarungs-Positivismus, Objektivis­mus und nicht zuletzt die schon seit Kant verbotene Meta­physik. Nun aber — wenn es denn inmitten des chaotischen Relativismus der sich befehdenden theologischen Ismen unserer Situation ein „frei Geständnis in dieser unserer Zeit“ — mit den Worten des Kirchenliedes in aller Fröhlichkeit zu reden — gilt, so sei es das Bekenntnis zur „Orthodoxie“ als Befehl und Verheißung über der Theologie, — versteht sich: als Doxologie!

Der Einsatz sei bei dem so bedeutsamen, zwiefachen sprach­lichen Sinn des Wortes „Orthodoxie“ genommen. „Ortho-doxie“, das kann ja — je nach dem Sinn des Wortes „doxa“ — ebenso als „richtige Lehrmeinung“ wie als „rechte Rühmung“ übersetzt werden. Eine orthodoxe Aussage ist im ersten Sinn des Begriffs eine richtige Wahrheitsaussage, im zweiten Sinn rechter Lobpreis der Wahrheit. In gewisser Hinsicht ist die ganze, spannungsgeladene Problematik schon damit gegeben, daß in dem einen Wort beides zur Stelle ist. Die Frage wird sein, wie sich rechte Lehre und rechte Verherrlichung zu­einander verhalten, wie es möglich sein! soll, daß beides nicht nur miteinander, sondern ineinander zum Zuge kommt.

Der sprachliche Hinweis beschwört für den Wissenden sofort die historische Optik herauf. Wenn schon in einer gewis­sen Reduzierung, die nicht als Simplifizierung mißverstanden sein will, darf ja wohl gesagt werden, daß westliche Orthodoxie, wie sie das nachreformatorische Zeitalter kenn­zeichnet, im Zeichen des Ringens um rechte Lehre, wiederum: daß östliche Orthodoxie, gerade im Blick auf ihren Ursprung, im Zeichen des Strebens nach rechter Rüh­mung steht. Der auf den Buchstaben dringende Kampf um richtige Aussagen, der für die Struktur und das Wahrheits­verständnis lutherischer wie reformierter Orthodoxie bei aller ihrer Gegensätzlichkeit charakteristisch ist, läßt nicht nur die Frage nach der Möglichkeit und Legitimierung einer Doktrin aufbrechen, die sich in apodiktischer Sicherheit als die allein richtige gerierte, sondern die Frage eben nach dem Verständnis der Wahrheit selbst, das im nachreformatorischen Zeitalter einer allmählichen, den Beteiligten verborgenen, verhängnis­schweren Verwandlung verfiel[2]. Wir brauchen uns nur an die pura doctrina evangelii im Zeichen der viva vox evangelii und dem gegenüber an die tote Richtigkeit des Buchstabens, der tötet, zu erinnern. Dennoch wird vor jenen Simplifizierungen und Karikierungen, wie sie die ihrerseits vollends fragwürdigen Proteste gegen die „tote Orthodoxie“ begleiteten, zu warnen sein. Eins dürfte sicher sein: Wenn die Väter der Orthodoxie um richtige Lehre kämpften, beteten sie gleichzeitig um die Bewahrung im rechten Glauben, und das nicht nur im Sinne der fides quae, sondern auch der fides qua creditur. Allein schon das Kirchenlied des orthodoxen Zeitalters — die nicht nur zeitliche Nähe eines Johann Gerhard und eines Paul Gerhardt — sollte uns vor den traditionellen Kurzschlüssen warnen.

Für das Wesen östlicher Orthodoxie war der west­lichen Christenheit das Verständnis so gut wie versperrt, ein­mal durch die Nichtkenntnis der Wirklichkeit und — im Raum protestantischer Theologie — durch das Zerrbild, in dem sich einem Adolf v. Harnack gerade die östliche Orthodoxie auf dem Grunde seiner Interpretation der Entstehung des trinita­rischen und christologischen Dogmas darstellte. Eine in stereo­typen Lehrformeln erstarrte Orthodoxie in Verbindung mit einem magisch durchsetzten Mysterienkult, — das bezeichnet ihm die schreckliche Umwandlung der christlichen Religion aus einem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit zu einem Gottesdienst der Zeichen, Formeln und Idole. Erst die lebendi­gen Begegnungen in der Epoche nach dem zweiten Weltkrieg, insbesondere mit der russischen Orthodoxie, haben so etwas wie eine Entdeckung ihres Lebens und Wesens heraufgeführt, die bis dahin allenfalls durch die großen russischen Dichter literarisch vorbereitet war. Jetzt erlebten westliche Theo­logen die Liturgie der Anbetung als den Herzschlag der Ortho­doxie des Ostens, und das wog schwerer als alles Befremdliche und Beunruhigende in „magischem“ Ritual und sakralem Formelgebrauch. Von da aus beginnt sich ein Zugang zu er­schließen zu der orthodoxen Theologie, die in ihrer für sie so charakteristischen Einheit mit der Liturgie als Rühmung des Mysteriums der Wahrheit verstanden sein will. „Theologie ist Lobgesang“, hat schon Origenes gesagt[3]; die Liturgie aber ist die zelebrierte Theologie der Anbetung. Wer dafür kein Ge­spür hat, kann die orthodoxen Kirchen, ihre Lehre und ihr Le­ben nur mißverstehen. Vielleicht könnte ihn die unerhörte, in immer neuen Martyrien bewährte Leidensfähigkeit und Sanft­mut östlicher Christen, Priester und Mönche ein wenig in der Sicherheit seiner westlich-rationalen Struktur erschüttern. — Dabei werden wir keineswegs zu verkennen haben, daß auch und sogar gerade die östliche Orthodoxie im Zeichen des Kamp­fes um die richtige Lehre stand, einem oft mit allem Fanatismus geführten Kampf um die Silbe und den Buchstaben mit allen seinen höchst unheiligen Begleiterscheinungen. Auch die östliche Orthodoxie nötigt in ihrem Licht und ihrem Schatten neu zu der Frage nach dem wahren Verhältnis von Orthodoxie und Doxo- logie.

Schon der Verzicht auf eine Charakterisierung der rechten Lehre im Zeichen des römisch-katholischen, autoritativ-juridisch bestimmten Verständnisses des tradierten und vom Lehramt der Kirche verwalteten Dogmas kennzeichnet den Torsocharakter dieser geschichtlichen Hinweise auf westliche und östliche Orthodoxie. Sie wollten und konnten hier ja nur eine Beleuch­tung der Frage sein, die uns in der Not der gegenwärtigen theologischen Situation mit ihrer tiefen Aporie in der Wahr­heitsfrage gestellt ist.

Diese Frage gehen wir nunmehr an, indem wir eine Be­sinnung auf das Wesen der Doxologie, und zwar gerade in ihrer Gestalt als Erkenntnis der Wahrheit versuchen. In der Doxo­logie geht es — das ist in bezug auf alle ihre Gestalten im biblischen Zeugnis des Alten und des Neuen Testaments fest­zustellen — um die Doxa theou, die Kabod Jahwes, die Gloria Dei, die Herrlichkeit Gottes. Die Herrlichkeit Gottes will aber nicht als eine Aussage über Gott, etwa in seiner reinen und unzugänglichen Transzendenz verstanden sein, sondern im Zeichen der Selbst-Offenbarung des Herrlichen, der sich in seiner Göttlichkeit manifestiert, kundtut und erschließt. In der Lehre von Gottes Wesen und Wesensvollkommenheiten wird unter der Herrlichkeit Gottes die Fülle aller seiner Vollkommenheiten in ihrer Einheit und Ganzheit verstanden, und so denn die Gestalt seines Wesens, die mit seinem Wesen so in eins geht, daß die Gestaltaussage selbst eine Wesensaussage ist. Das für unsere Frage Entscheidende ist aber, daß es nicht in einem ideellen, religiös-ideologischen Sinne um Herrlichkeit geht, so wenig wie es um Barmherzigkeit, Heiligkeit oder Ewigkeit geht, sondern um den Herrlichen, der sich als dieser Herrliche offenbart, wie er, derselbe, sich als der Barmherzige, der Heilige, der Ewige kund gibt[4]. So wahr nun seine Herr­lichkeit das Licht ist, da niemand zukommen kann, dessen Un­mittelbarkeit für die sündige Kreatur nur blendend und tötend sein könnte, offenbart sich der Herrliche in der Herrlichkeit seines allmächtigen Erbarmens nicht in der tötenden, sondern in der rettenden Gestalt, in der Knechtsgestalt der tiefsten Verhüllung. Was schon das Geheimnis jener Geschichte bezeich­net, in der Mose, der die Herrlichkeit Gottes zu sehen begehrt, den sich seiner erbarmenden Herrn nur „von hinten“, aber nicht von Angesicht sehen darf, das hat seine Wahrheits-Mitte dort, wo die Herrlichkeit Gottes in dem Fleischgewordenen Wort nur in der tiefsten Verhüllung durch dieses „Fleisch“, nur in der Knechtsgestalt für das Auge des Glaubens zu schauen, und so denn zu rühmen und anzubeten ist. An dieser Verborgenheits-Gestalt des Offenbarers scheiden sich Glaube und Speku­lation, ja, Gott und Götze; denn an der Direktheit ist — mit Kierkegaard zu reden — der Götze kenntlich. Der verborgene Gott, der sich in seiner Majestät vor jedem religiösen Zugriff und Übergriff im Zorn verbirgt, erbarmt sich des Menschen, der in seiner Hybris an Gottes Geheimnis scheitert, in der Gestalt der Verhüllung, und so gerade in der Herrlichkeit sei­ner Gnade. Er, der Sohn, ist es, der sich an das schreckliche Geheimnis des Gottes ausgeliefert sein läßt, der sich dem Men­schen verbirgt, einem Menschen, der sich vor Gott zu verbergen, und wiederum der das Geheimnis Gottes zu erstürmen suchte. Da, in der Tiefe der stellvertretend durchlittenen Gottverlassen­heit verherrlicht der Sohn den Vater, indem er ihn offenbar macht als den, der er ist (Joh. 17,1). Der Vater verherrlicht den Sohn als den Sohn, indem er das Ja und Amen, das Jawort seiner Auferweckung vom Tode spricht. Da geht das Licht der Herrlichkeit Gottes als das Licht des allmächtigen Erbarmers dem Volk auf, das im Finstern wandelt. Da ist der Ursprung der Doxologie, die der Heilige Geist als der Schöpfer der nova creatura erweckt, einer Doxologie, an der Himmel und Erde, der gesamte versöhnte Kosmos, die sichtbare und die unsicht­bare Kreatur, beteiligt ist, sei es schon nur für das Ohr des in der Herrlichkeit seines allmächtigen Erbarmens Herrlichen, des Pantokrator.

Wer will eigentlich im Ernst bestreiten, daß das ganze Neue Testament eine einzige große Doxologie dieses in der Macht seiner Gnade herrlichen Gottes ist, dessen Gnade über seinen Zorn siegt, und dessen Erbarmen im Gericht triumphiert, so wahr er, der Richter, die Freiheit seiner majestätischen Ent­scheidung gegenüber allen religiösen Verfälschungen seiner Gnade in ein allgemein gültiges, dem Menschen verfügbares Prinzip zu wahren weiß. Die einzelnen Doxologien des Neuen Testaments, deren Urbild bezeichnenderweise der Lobgesang, nicht der Menschen, sondern der Engel in der Weihnacht (Luk. 2,14) ist, umfassen die ganze Existenz der Versöhnten und Erlösten (1. Kor. 10,31 oder auch 1. Petr. 2,12). Wiederum ist der Gottesdienst der im Namen ihres Herrn versammelten Gemeinde Anbetung. Das ihr anvertraute Gebet, das Vater­unser, mündet in die Doxologie ein, unter deren Vorzeichen schon die Anrede steht. Die Liturgien vor dem Thron Gottes, wie sie die Offenbarung Johannis kund tut, sind Doxologien (Offb. 4,11; 5,18; 19,1). Was besagt das für die Erkenntnis der sich dem Glauben erschließenden und durch den Glau­ben zu verherrlichenden Wahrheit des Fleisch gewordenen Wor­tes Gottes?

Wenn die Wahrheit des Gottes der Selbstoffenbarung die Wahrheit des Logos ist, dann will sie erkannt werden. Gott selber ist ja in sich selber Logos (Joh. 1,1). Dieser Logos, derselbe, durch den die Welt geschaffen wurde und erhalten wird, ward Fleisch, wurde unserer, vom Euch der Sünde und des Todes geschlagenen Existenz inexistent. Wenn durch und in dem Logos, der ja nicht ein, sei es schon göttliches Wort über Gott, sondern der „Sohn“, Gott selbst, ist, die Aletheia Gottes sich entbirgt, dann schenkt und fordert diese Wahrheit mit dem Glauben Erkennen. Wenn der Logos des innergöttlichen Selbstgespräches zur Selbst-Aussprache kommt, dann entspricht dieser Selbst-Aussprache zu unseren Gunsten die Antwort, in der das Hören mit dem Erkennen geeint ist. In dem, was man das reine Hören, das nur als die Heilung eines Taubstummen begreifbare, durch den Heiligen Geist ge­wirkte Hören nennen könnte, ist die Anerkenntnis schon ein­beschlossen, in der Anerkenntnis aber der Erkenntnistrieb des Glaubens. Audio, ut intelligam! Der Erkenntniswille ist nicht eine zum Glauben hinzukommende Begierde der Vernunft, ist nicht eine gegenüber der Unmittelbarkeit des Glaubens sekun­däre Reflexion (Schleiermacher!), in der der Glaubende über Gott und wohl gar über sich selbst nachdächte. Der Ursprung des Erkennens ist vielmehr in dem Wort selbst, das sich vernehmbar macht für die von ihm geschaffene Vernunft des Glaubens. Hören, glauben, erkennen können aus­einander nur folgen, weil sie ineinander wesen. Ineinander wesen können sie nur, weil sie in dem Wort der Selbst-Aussprache Gottes gründen. Theologie gründet als Glaubens- Erkenntnis in dem Logos theou und ist darum ihrem Wesen und ihrer Bestimmung nach Doxologie, Verherrlichung der Wahrheit des Logos in seiner Doxa.

Wenn die große, entscheidende Aussage bereits getan wurde, weil sie mit innerer Notwendigkeit durchbrach, so will doch hier gerade ein Weg Schritt für Schritt zurückgelegt sein, der uns das Wesen der Theologie als Doxologie gegenüber Kurzschlüssen und Mißverständnissen recht verstehen läßt.

Das erste ist, daß die Erkenntnis der Wahrheit, die sich selbst so in eigener Freiheit erschließt und mitteilt, Aner­kenntnis ist. Die ewige Priorität liegt bei dem Wort, das sich hörbar macht, indem es die Existenz des sich verhörenden und das Gehör verschließenden Menschen zu seiner Existenz macht, dem Fluch der so pervertierten Existenz sich existierend preisgegeben sein läßt. Darum können wir nach dem Glauben nur fragen, indem wir nach dem Wort fragen, das als der Schöpfer des Glaubens allem Glauben und Erkennen vorhergeht. Das Verhältnis ist nicht umkehrbar! Ebeling hat nicht gut dar­an getan, nach dem Glauben und von dort her nach dem Wort zu fragen. Vollends geht es nicht an, die Zusammengehörigkeit von Wort und Glaube dazu zu mißbrauchen, daß der Gott, der diese Relation herstellt und immer von neuem aktualisiert, in die Relation wie in ein Gefängnis eingesperrt wird, in der Weise jener Relationstheologie, die über der durch das „Für-uns“ der Offenbarung gegebenen Relation vergißt, daß der Gott, der sich in seiner göttlichen Freiheit für uns so gebunden hat, der freie Herr der Bindung bleibt, die wir keineswegs zu so etwas wie einer Bindung Gottes mißbrauchen dürfen. Es geht nicht an, das in der majestätischen Freiheit des allmächtigen Erbarmers gesetzte Gegenüber zwischen seinem göttlichen, un­vergleichlichem Ich und dem Du des Geschöpfes, das Gottes Anrede schaffend, richtend und begnadigend sich gegenüber stellt, als eine Verobjektivierung Gottes zu perhorreszieren. Die Anerkennung des Subjektes aller Subjekte ist die wahre Abwehr alles Objektivismus und Subjektivismus, der sich Gottes zu bemächtigen sucht.

Die Anerkenntnis will aber — und das ist das zweite, was es zu bedenken gilt — in Erkenntnis vollzogen werden. Wenn die Anerkenntnis den Akt des Gehorsams be­zeichnet, in dem der hörende Glaube das Wort Herr sein läßt, durch das er lebt, auf das er vertraut und an dem er — mit Luther zu reden — hängt, so geht es doch nicht um eine blinde, ein für alle Mal zu leistende Unterwerfung. Nein, es geht nicht um ein sacrificium intellectus als opus operatum, wie es der Orthodoxie immer wieder — mit mehr oder minder Recht — nachgesagt wurde! Als die zur Anerkenntnis der Wahrheit ge­rufenen Hörer des Wortes dürfen wir erkennen. Credo, ut intelligam! Diese Erkenntnis will erbeten und gewagt, sie will unter dem Befehl und der Verheißung Gottes vollzogen sein. So wahr der Glaubende nicht von seiner Erkenntnis lebt, son­dern aus und in dem Wort Gottes, ist der Glaubende zum Er­kennen der Wahrheit, die sein Heil ist, gerufen und getrieben. Damit ist nicht etwa jene verhängnisvolle Überordnung der Gnosis über die Pistis ausgesagt und auch nicht der gnostische Eros an die Stelle der Agape getreten! Vielmehr wird die Er­kenntnis immer von neuem zurückgeworfen auf den Glauben, — was sage ich? — auf die Gnade, die den Glauben schafft und erhält.

Zum dritten: Gerade im scheiternden Erkenntnisvollzug bleibt die Anerkenntnis Anbetung. Es ist dafür gesorgt, daß die Erkenntnis sich nicht über den Glauben erheben kann. So wahr der Glaube nämlich der Offenbarung des sich selbst im Geheimnis erschließenden und mitteilenden Gottes verhaftet bleibt, wird die Erkenntnis dieses Geheimnis nicht aufbrechen, nicht in dasselbe einbrechen können. Kein Theo­loge hat so wie Luther — der Luther von De servo arbitrio! — vor der Hybris gewarnt, die wähnt, in die Majestas des ver­borgenen Gottes eindringen zu können, und dazu gerufen, sich auf und in das Wort des offenbaren Gottes fallen zu lassen, auf daß — mit seinen Worten zu reden — Gott Gott und der Glaube Glaube bleibe! Dann gilt es aber die Demütigung der Erkenntnis unter das, was man die eschatologische Verborgen­heit Gottes nennen könnte. Damit ist nicht das sich verschwei­gende Geheimnis eines hinter und über seiner Offenbarung unbekannten Gottes gemeint, der dann plötzlich die Züge des dunklen und unberechenbaren Fatums annehmen könnte! Viel­mehr ist es gerade der sich verbergende, jedem Zugriff sich entziehende Gott, der sich selbst in der Verborgenheitsgestalt offenbart, damit der radikal entsicherte Mensch allein der Gnade Gottes mitten im Gericht verfällt. Das besagt dann eine Demütigung und Brechung der Erkenntnis eben da, wo sie er­möglicht wird. Ihr vom Befehl getragenes und von der Verhei­ßung überleuchtetes Wagnis ist und bleibt in der Zeit der theologia viatorum doch „Stückwerk“ (1. Kor. 13,9ff.). Ihre Freude ist Vorfreude. Sie scheitert im Vollzug, aber auf Hoff­nung. Gerade aber als im Vollzug scheiternde Erkenntnis ist sie Anbetung. Theologie ist ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach gerade an ihrer Grenze Doxologie. Sie darf den Gott, der sie im Scheitern leben läßt, loben, unter der Verheißung jener ihrer neuen Gestalt, in der das Schauen Erkennen und das Erkennen Schauen sein wird.

Mit den letzten Sätzen scheint in gewisser Hinsicht schon das Telos des Gedankenganges erreicht zu sein, so aber doch, daß es sofort gilt, die gewonnene Erkenntnis konkret zu ver­deutlichen und gegen Mißverständnisse abzuschirmen. Die Kon­kretion sei im Blick auf einen von der gesamten Kirche aner­kannten, für die östliche Orthodoxie in besonderer Weise fundamentalen Text vollzogen, nämlich das Nicaenische Glaubensbekenntnis, genauer gesagt: das Nicaeno-Constantinopolitanum[5].

Wenn man an das Nicaenum als einen im eminenten Sinn doxologischen Text denkt, dann gewiß zuerst in der Er­innerung an jene, für dieses Bekenntnis charakteristischen Aus­sagen: „… Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht geschaffen, mit dem Vater in einerlei Wesen, durch welchen alles geschaffen ist.“ Man könnte sie als die Doxologie der Höhe, nämlich in der Verherrlichung des trinitarischen Gottes bezeichnen. Sie werden aber erst dann, auf ihren Ursprung und ihr Telos ge­sehen, recht verstanden, wenn sie in eins gehört werden mit jener Doxologie der Tiefe, die dann anhebt. Der um unsertwillen so tief Herabgestiegene, Er, der Menschgewordene, der für uns Gekreuzigte, Leidende und Begrabene, ist es doch, dem jene Doxologie der Höhe gilt. Er, der mit dem Vater wesenseine Sohn ist es, in dem sich Gott selbst unserer so er­barmte. So wenig nun die Doxologie der Höhe aus einer spekulativen Schau erwächst, die sich in supranaturalen Wissensaussagen darstellte, so wenig die Doxologie der Tiefe aus einer historischen Erforschung des Lebens und Ster­bens Jesu von Nazareth. Ja, es geht um den geschicht­lich gewordenen Christus Jesus; aber daß er als der Incarnatus an unsere Stelle trat, für uns der Gekreuzigte und Aufer­standene wurde, diese Wahrheit kann nie und nimmer histo­risch verifiziert werden! Ihr Wahrheitsmedium, in dem sie sich für das Gehör des Glaubens verifiziert, um in der anerkennen­den Erkenntnis gepriesen zu werden, ist das doxologische. Ja, es geht um den ewigen Sohn, der mit dem Vater und dem Geist Gott ist. Er ist das Subjekt jener göttlichen Selbstbewe­gung in unsere Tiefe zu unserer Rettung. Aber die Aussagen von seiner ewigen Gottheit sind ihrem Ursprung und Wesen nach nicht Wissensaussagen über ihn, sondern die doxologische Antwort des Glaubens, der ihn in seiner wesenhaften Doxa rühmt. Die Wahrheit dieser Aussagen ist nicht spekulativ verifizierbar. Auch ihr Wahrheitsmedium ist das doxologische. Keinem Wahrheitsmedium des menschlichen Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses — schon gar nicht dem der existentialen Interpretation! — kann und wird die noetische Verifikation der ontischen Wahrheit Gottes in der Priorität und Überlegenheit seines Seins und Wesens, seines Sprechens und Handelns ge­lingen. Theologie ist Doxologie.

Gerade so werden wir das Scheitern theologischer Erkennt­nis im Erkenntnisvollzug anzuerkennen haben. Die Aussage von der creatio ex nihilo will getan werden; aber wer ver­möchte zur rationalen Evidenz zu bringen, was es um dieses „nihil“ ist. Die scheiternde Erkenntnis wird sich daran genügen lassen müssen und dürfen, daß es die Freiheit des durch das Wort schaffenden Gottes bezeugt. Die Aussage von der Gottverlassenheit des Menschen, in dem Gott an unsere Stelle trat, will getan werden; aber wer wagte zu sagen, daß wir rational, sei es schon in der ratio fidei, die Möglichkeit der Verlassenheit dieses Menschen, in dem doch Gott selber an das Kreuz ging, zu ergründen vermöchten. Die Formeln der Zwei-Naturenlehre halten — man denke an das Chalcedonense! — Wache zu beiden Seiten des Mysteriums. Sie können und wol­len es aber nicht bewältigen. Steht es anders mit den Aussagen von Gottes innertrinitarischem Sein und Wesen? Gerade wer sich hier nicht in den großen Haufen der modernen Anti­trinitarier einreiht, wer sich zu der Wahrheit bekennt, daß Gott sich als der offenbart, der er in seinem Sein und Wesen ist, daß er ist, der er heißt; Vater, Sohn und Geist, wird im Vollzug der uns aufgegebenen Erkenntnis scheitern. Die Worte „Zeugung“ und „Hauchung“ wollen und dürfen in ihrem ewi­gen Bezug gewagt werden. Aber indem wir sie aussprechen, scheitern wir zuletzt bei dem Versuch zu sagen, was sie, ihrem göttlichen Sinn nach, in sich beschließen. Ne taceretur (Augu­stinus), und: Ou phtano to hen noesai kai tois trisi perilam­pomai; ou phtano ta tria dihelein, kai eis to hen anaferomai (Gregor von Nazianz, orationes 40,41). „Ich vermag das Eine nicht zu denken, ohne von den Drei umleuchtet zu werden; ich vermag die Drei nicht zu unterscheiden, ohne zu dem Einen er­hoben zu werden.“ Das sind Sätze der im Vollzug schei­ternden, und gerade in diesem Scheitern anbetenden Erkenntnis. Es mag in unserem Zusammenhang der Hinweis darauf genügen, daß es mit dem Satz von der Wiederkunft Christi, in deren Erwartung die christliche Hoffnung schlechter­dings lebt, nicht anders steht, sofern unser zeitliches Denken an seiner „Zukunft“ scheitert. Ein verhängnisvoller Irrtum ist es aber auch zu meinen, daß die Wahrheit von der Recht­fertigung des Gottlosen propter et per Christum in unserer Erkenntnis zur ideologischen Evidenz gebracht werden könnte. Gerade der Apostel, der dem Weg der Weisheit Gottes nach­sinnt, des Gottes, der alle unter den Unglauben beschlossen hat, auf daß er sich aller erbarme, mündet in die Anbetung Gottes ein, dessen „Gerichte unbegreiflich“ und dessen „Wege unerforschlich“ sind. Ihm sei die Doxa in Ewigkeit, — die Doxa, die sein ist! (Röm. 11,32-36).

Das von der Anbetung im scheiternden Erkenntnis-Voll­zug Gesagte will gegen ein zwiefaches Mißverständnis abge­schirmt sein, gegen eine mystische und gegen eine ästhetische Interpretation der Doxologie. Was das eine betrifft, so mag der Hinweis auf das Philosophieren im Sinne von Jaspers zur exemplarischen Verdeutlichung dienen[6]. Indem das Denken dort nämlich alles gegenständlich Da-seiende, und denn auch alles Vorstellbare und Denkbare transzendiert, schei­tert es im Vollzug des Denkaktes. Jenem Nichts sich überant­wortend, das aus der Absage an alles Daseiende als einer ver­gegenständlichten Wahrheit resultiert, intendiert es das abso­lute Sein, das „Umgreifende“, das in seiner reinen Transzen­denz zugleich der Immanenzgrund alles Daseienden ist. Im Ge­gensatz zu einem solchen, zum Prinzip des Philosophierens er­hobenen Scheitern im Transzendieren, scheitert die theologische Erkenntnis nicht an einem Es, sondern an dem Namen des­sen, der als die personale Wahrheit zugleich der Ermögli­chungsgrund und die Zukunft der Glaubenserkenntnis ist, und so gerade die Doxa der Doxologie.

Das Mißverständnis aber, das wir nach der anderen Seite sichteten und als das „ästhetische“ bezeichneten, wäre damit gegeben, daß wir unter der Doxologie den Hymnus, bzw. die Hymnen des religiösen Menschen verstän­den, wie sie aus seiner, dem Unendlichen verhafteten Sehnsucht in mancherlei Gestalt aufsteigen mögen. Die Gefahr, Doxologie einfach als Hymnologie zu interpretieren, ist um so größer, als gerade im Gottesverständnis der altkirchlichen, griechischen Theologie ein Zug des Transzendierens zu Gott in seiner Un­begreiflichkeit unverkennbar ist. „Unendlich und unbegreifbar ist das göttliche Wesen. Nur das ist von ihm begreifbar, seine Unendlichkeit und Unbegreifbarkeit“ (De fide orthodoxa, Lib. I, cap. 4). Freilich redet der Damascener, aus dessen Summa der griechischen Orthodoxie der Alten Kirche wir den Satz zitier­ten, von dem Dreieinigen Gott, durch dessen Mysterium die Theologie zur Anbetung gerufen ist. Der religionsphiloso­phische (platonische) Einschlag aber, der sich schon in der durch die via negationis bestimmten Begriffsbildung meldet (un-begreiflich, un-endlich, un-veränderlich etc.!) nötigt jedenfalls zu der Klarstellung, daß die Aszendenz des sich zu Gott erhebenden doxologischen Denkens seinen Ermöglichungsgrund in der Deszendenz des Wortes, des Sohnes Gottes hat. Nur im Nachvollzug seiner Aszendenz als des zur Rechten Got­tes Erhöhten kann die mit ihm erniedrigte Erkenntnis in der Miterhöhung doxologisch sich zu ihm erheben.

Nach beiden Seiten, gegenüber dem „mystischen“ wie dem „ästhetischen“ Mißverständnis, gilt in ihrer Zusammengehörig­keit: Doxologie, wie sie hier als Verheißung über der Theolo­gie leuchtet, will ihrem Ursprung nach nicht vom Menschen her, sondern von dem Gott her verstanden «ein, dessen Verherrli­chung sie dienen darf und soll. Doxologie ist Antwort.

Es bleibt noch übrig, den Erkenntnisgang, der die Theo­logie als Doxologie zu erörtern suchte, in der Frage nach der Bedeutung der Doxologie für das rechte Verständnis der Orthodoxie zu beschließen. Orthodoxie als Doxologie, so lautete ja unser Thema, das wir mit Bedacht von der Doxologie her angingen. Wenn wir der Bewegung treu bleiben, die durch die Deszendenz des Logos in seiner Kondeszendenz ge­boten war, so werden wir zum ersten das „ortho“ in dem Be­griff Orthodoxie bestimmt sein lassen müssen von der Wahr­heit her, zu der hin die orthodoxe Aussage eine rechte, nämlich dorthin gerichtete Aussage ist. Das griechische orthos bezeichnet von seiner Wurzel aus das Aufgerichtete, das Emporgehobene und Gerade, ja, das, was durdi seine Hin-Wendung in eine bestimmte Richtung unverrückt die gerade, die rechte Bahn innehält. Wenn die Richtung durch die Hinwendung und Hin­neigung der Wahrheit selbst bestimmt ist, dann wird die an der Wahrheit ausgerichtete Erkenntnis rechte Erkenntnis nur sein können in der Anerkenntnis der Priorität der Wahr­heit. Sie will ja nicht mit einer unserem Geiste immanenten Idee, auch nicht mit einem Postulat unserer Vernunft oder einem Bild unseres spekulierenden Geistes verwechselt sein. Die Wahrheit, von der wir reden, begegnet uns personal in ihrer Kondeszendenz, und zwar in dem Wort, das sie bezeugt, und in dem sie selbst sich zu Gehör bringt. Das menschliche Wort, in, mit und unter dem das Fleischgewordene Wort Gottes zu Worte kommt, ist aber das Wort der Schrift, in deren Auslegung und Verkündigung die Wahrheit, Er selbst, der die Wahrheit ist, das Wort ergreift durch den Heiligen Geist. In dieser Begegnung wird das Gehör des Glaubens zu der Wahrheit hingewendet, die als gehörte Wahrheit anerkannt und in der Anerkenntnis erkannt sein will. Nur als gehörte Aussage wird die Wahrheitsaussage die von der Wahrheit her und so die zu ihr hin gerichtete Aussage, nur so „orthodoxe“ Aussage sein. Orthodoxie lebt und west in diesem Von-her und Zu-hin, so aber, daß das Von-her die Priorität hat und behält. Die Entscheidung darüber fällt aber an der Schrift, ver­steht sich als an dem Zeugnis für Ihn, der als die Wahrheit Gottes für uns ihr Substanzzentrum ist. Als schriftgemäße Lehre wird sie orthodox sein, und eben im Hören auf die Christusdoxologie der Schrift Doxologie sein dürfen.

Darin ist das zweite bereits zur Stelle. Wenn die ortho­doxe Erkenntnis ihre Ermöglichung und ihre Wahrheit nämlich nur in der Relation zu der lebendigen, der personalen Wahr­heit hat, deren Gnade allein die Begegnung herstellt und die Antwort hervorruft, dann wird die rechte Aussage ihr Wahr-sein nicht so an und in sich selber haben, daß die lebendige Wahr­heit sich in den Buchstaben, den an sich toten, verwandelt hätte. Die Wörter, auch die „richtigen“, werden nicht Wahrheitskapseln sein, über die ihre Besitzer, die Theologen, bzw. die Kirche dann verfügen könnte wie über ein Kapital, von dessen Zinsen sie lebte. Mag die Orthodoxie, historisch gesehen, auch gerade dieser Versuchung noch so oft erlegen sein, sich als Wahrheits­besitzerin und Herrin gerade gegenüber ihren Gegnern zu ge­bärden, so wird sie ihrem Ursprung und Wesen nach sich doch immer von neuem zu dem Herrengeheimnis der Wahrheit zu­rückrufen lassen, das durch und durch lebendig ist. Was sage ich — sie wird sich zu dem Lebendigen Herrn hinwenden lassen, der die „richtige“ Lehre als den rechten Lobpreis an­nehmen kann und will. Gerade in der bis auf den Buchstaben dringenden Leidenschaft des Ringens um richtige, am Wort der Schrift ausgerichtete Aussagen wird orthodoxe Theologie — werden um Orthodoxie ringende Theologen! — sich darunter demütigen lassen, daß die richtigen Wörter noch nicht das wahre, das lebendige Wort sind, dem die Wörter nur dienen, und auf dessen Gegenwart sie nur warten können. Die so war­tende, im wörtlichen Sinn um den Segen von oben betende Orthodoxie wird Doxologie, Rühmung der Wahrheit sein, die sich durch rechte Lehre rühmen lassen will.

Noch aber muß als drittes und letzte« jenes Scheitern im Denkvollzug gerade im Blick auf das Ringen um rechte Lehre noch einmal unterstrichen werden. Wir bedachten, daß in keinem Wahrheitsmedium, in dem wir die immanente Wirklich­keit befragen und durchforschen, und auch nicht in dem Ver­such sie zu transzendieren, die Wahrheit Gottes in Christo verifizierbar ist. Unser Erkenntnisvermögen selbst aber, seine Worte, Begriffe und Vorstellungen, ist als das Vermögen des raum-zeitlich gebundenen, ja, des gefallenen und verfallenden Menschen, unvermögend, die Wahrheit Gottes recht zu erken­nen und in rechter Erkenntnis die Wahrheit in ihrem Wahrsein zu preisen. Auch der versöhnte, der zur rechten Gottes-Er­kenntnis befreite Mensch wird doch noch nicht in den Menschen der unmittelbaren und direkten Erkenntnis, der Gottesschau verwandelt. Sein Hören und Glauben, sein Anerkennen und Erkennen bleibt reines, immer neues Wunder, das ihn bei und an sich selbst mit der Unmöglichkeit, bei Gott aber mit der Möglichkeit, der Macht und dem Willen seiner allmächtigen Gnade rechnen läßt. Was sage ich: „rechnen“? Nicht rechnen, sondern beichten und beten! Erst wenn der Zwiespalt zwischen unserer Existenz und unserer Erkenntnis, zwischen uns selbst und unsern Wahrheitsaussagen in einem neuen Sein und Wesen geschlossen sein wird, wird unsere Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr scheiternde Erkenntnis sein. Es ist Wunder, reines Gnadenwunder, wenn die Wahrheit unsere unadäquate Erkennt­nis sich adäquatisiert und sie als Orthodoxie Doxologie, viel­mehr als Doxologie Orthodoxie sein läßt. Keine Orthodoxie ist schon, auf sich selbst gesehen, Doxologie. Sie darf und soll sich aber unter dem Befehl, von der Wahrheit recht zu reden, der Verheißung getrosten, daß rechte Lehre Lobgesang, Orthodoxie Doxologie sein darf.

Es ist dem Ganzen nur noch ein Schlußsatz hinzuzufügen, ohne den der Gedankengang nicht nur einer, Mißverständnisse heraufbeschwörenden, Kürze, sondern der Verleugnung der Theo­logie in ihrer anderen Funktion beschuldigt werden könnte. Diese andere Funktion ist die diakonische, und das will sagen: ihr Dienst an der Verkündigung des Wortes Gottes, wie sie der Kirche aufgetragen ist. Wenn die Erörterung dieser anderen Funktion durch unser Thema uns nicht aufgegeben war, so darf darüber doch eines nicht verkannt und verleugnet werden, daß nämlich die diakonische und die doxologische Funktion der Theologie so unlöslich zusammengehören wie die Liebe zu Gott und die Liebe zum Mitmenschen; denn der Mensch, in dem Gott einer von uns wurde, ehrte Gott, indem er uns diente. Seine Diakonie ist die Doxologie, kraft deren unsere Diakonie Doxologie sein darf.

Theologische Literaturzeitung 89, Nr. 9 (1964), Sp. 641-650.


[1] Vorlesung für die Theologische Fakultät der Universität Kopenhagen am 3. März 1964.

[2]) Es sei insbesondere auf die eindringende Analyse dieser Ver­wandlung hingewiesen, wie sie Hans Emil Weber in seinem Werk „Reformation, Orthodoxie und Rationalismus“ durchgeführt hat.

[3]) Aus selecta in psalmos ad Ps. CXXII, 14 Migne PG 12, 1581 A.

[4] Es sei in diesem Zusammenhang besonders auf das Buch vor dem Holländer Miskotte hingewiesen „Wenn die Götter schweigen”, mit seinem leidenschaftlichen Kampf für die Herrlichkeit des Namen (Jahwe!) gegenüber jeder religiösen, nihilistisch-ambivalenten Ideologie.

[5] Ich darf gerade im Blick auf die gedrängte Kürze dieser Vor­lesung auf mein Buch hinweisen: „Das Nicaenische Glaubensbekennt­nis, eine Doxologie (Lettner-Verlag, Berlin)“, der Versuch, den lapidaren Text Wort für Wort in seiner Auslegung nach- und mitzu­sprechen.

[6] Wir könnten auch auf die in dieser Hinsicht geradezu klassische Mystik eines Rhadakrishnan hinweisen.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Vielen Dank! Grosser Text !!

    Herzliche Grüße

    Hans Mudde Lutherischer Pfarrer (Emeritus) Thomas Jeffersonlaan 48 2285 BB Rijswijk Niederlande T 070 365 97 38 M 06 499 00 658

    >

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