Martin Buber, Zion und die nationalen Ideen (1950): „Im Gebet und im Lied haben sich Trauer und Sehnsucht des Volkes im Exil an ‚Zion‘ geknüpft, die Heiligkeit des Landes war in ihm verdichtet, und in der Kabbala wurde Zion mit einer der göttlichen Ema­nationen gleichgesetzt. Als die nationale Idee des jüdischen Volkes diesen Namen zu dem ihren machte, nahm sie die ganze Fülle dieser Assoziatio­nen auf sich. Sie musste es tun.“

Zion und die nationalen Ideen (1950)

Von Martin Buber

Solange man „Zion“ lediglich als eine der nationalen Ideen versteht, kennt man seine eigentliche Bedeutung nicht.

Wir sprechen von einer nationalen Idee, wenn ein Volk seine Einheit, seinen inneren Zusammenhang, seinen geschichtlichen Charakter, seine Überlieferungen, seine Ursprünge und Entfaltungen, sein Schicksal und seine Bestimmung zum Gegenstand seines Bewußtseins und zur Motivation seines Willens erhebt. Demgemäß ist die Zionsidee des jüdischen Volkes in unserer Epoche eine nationale Idee zu nennen. Aber das Wesentliche an ihr ist eben das, was sie von allen unterscheidet.

Es ist kennzeichnend für den Sachverhalt, daß diese nationale Idee sich nicht wie die andern nach einem Volke, sondern nach einem Orte be­nannte. Damit ist die Tatsache zum Ausdruck gebracht worden, daß es hier nicht um ein Volk an sich, sondern um seine Verbindung mit einem Land, mit seinem heimatlichen Land geht. Und zwar hat sich die Idee nicht nach einer der Bezeichnungen dieses Landes – Kanaan oder Palästina oder Erez Israel – benannt, sondern nach der alten Jebusiterfestung, die David zu sei­ner Residenz machte und deren Name von Dichtern und Propheten auf die ganze Stadt Jerusalem, aber vornehmlich nicht als Sitz der Königsburg, sondern als Sitz des Heiligtums erstreckt wurde, wie denn auch der Tempelberg selbst nicht selten so heißt: der Name hat schon früh die Weihe eines heiligen Ortes empfangen. Zion ist „Burg des mächtigen Königs“ (Ps 48,3), das heißt Gottes als des Königs Israels. Diese Weihe ist dem Na­men geblieben. Im Gebet und im Lied haben sich Trauer und Sehnsucht des Volkes im Exil an ihn geknüpft, die Heiligkeit des Landes war in ihm verdichtet, und in der Kabbala wurde Zion mit einer der göttlichen Ema­nationen gleichgesetzt. Als die nationale Idee des jüdischen Volkes diesen Namen zu dem ihren machte, nahm sie die ganze Fülle dieser Assoziatio­nen auf sich. Sie mußte es tun. Denn zum Unterschied von den nationalen Ideen anderer Völker war die mit diesem Namen bezeichnete nicht ein Novum, nicht ein Produkt der gesellschaftlichen und politischen Wandlun­gen, deren historische Kundgebung die Französische Revolution war, son­dern nur eine Fortsetzung, nur die der allgemeinen Form der nationalen Bewegungen im 19. Jahrhundert angepaßte Neugestaltung einer uralten, zugleich religiösen und volkstümlichen, geistigen Realität. Diese Realität war die im Namen Zion zentrierende heilige Ehe eines „heiligen“ Volkes mit einem „heiligen“ Land.

Es ist ein verhängnisvoller Irrtum der modernen Bibelkritik gewesen, diese Kategorie des Heiligen, wie sie in der Schrift auf Volk und Land an­gewandt wird, später priesterlicher Anschauung zuzuweisen, für die der Anspruch des Kults der bestimmende war. Diese Kategorie ist vielmehr in ihren Anfängen einem primitiven Begriff des Heiligen zugehörig, wie wir ihn bei naturnahen Volksstämmen finden, denen es Bedürfnis ist, gerade die zwei Hauptträger des nationalen Lebens, den Menschen und die Erde, als mit sakraler Kraft ausgestattet zu verstehen. In den Stämmen, die sich zu „Israel“ zusammenschlossen, hat sich dieser Begriff auf eine besondere Weise entwickelt und gewandelt: die Heiligkeit ist nicht mehr ein Macht­stoff, ein magisches Fluidum, das wie Menschen und Menschengruppen, so auch Ortschaften und Gegenden innewohnen kann, sondern sie ist eine Eigenschaft, die diesem Volk und diesem Land dadurch verliehen wird, daß ein Gott beide erwählt, um dieses Volk, sein Volk unter allen, in dieses Land, ein Land unter allen, zu führen und sie miteinander zu verbinden. Seine Erwählung heiligt das Volk als die Schar, der er unmittelbar gebietet, und das Land als seinen Königssitz, und weist sie aufeinander an. Dies ist eher eine politische, theopolitische, als eine kultische Kategorie der Heiligkeit: der Kult ist nur erst der konzentrierte Ausdruck der Gottesherrschaft. Abraham baut Altäre, wo der Gott ihm erschien, aber er tut es nicht als Priester, sondern als Herold des Herrn, der ihn ausgeschickt hat, und wenn er über dem Altar den Namen seines Herrn ausruft, meldet er damit dessen könig­liehen Besitzanspruch auf das umliegende Land an. Das ist nicht späte Um­färbung der Urzeit, sondern Urgefühl und Urwort, dessen Verwandtes wir bei anderen frühen Völkern finden, aber nirgends in solch einer geschicht­lichen Konkretheit wie hier. „Heiligkeit“ bedeutet hier noch: dem Gott an­gehören, nicht bloß an den dem Kult gewidmeten Zeiten und Stätten und im kultischen Sinnbild, sondern allumfassend und faktisch, in der ganzen Breite des öffentlichen Lebens, als Volk und als Land. Erst spät spezialisiert sich die Kategorie des Heiligen auf den Kult, und zwar in dem Maße, als der Bereich des öffentlichen Lebens der Gottesherrschaft entzogen wird.

Daß der Gott es ist, der dieses Volk mit diesem Land zusammentut, ist nicht nachträgliche Geschichtsperspektive: die wandernden Scharen waren immer wieder von der Verheißung an die Väter befeuert, und die Ent­flammtesten unter ihnen sahen den Gott selber dem Volk in das Land vor­ausgehen. Es ist unmöglich, ein geschichtliches Israel zu konstruieren, das zu irgendeiner Zeit ohne den Glauben an seinen Gott besteht und ihn erst da­nach annimmt: eben durch die Botschaft der gemeinsamen Führung schlie­ßen sich die wandernden Scharen zum Volk zusammen. Und ebenso ist es unmöglich, diesen Glauben als vorher und außerhalb Israels bestehend zu konstruieren: er ist ganz und gar Geschichtsglaube, Glaube an einen Gott, der erst die Väter und dann das Volk in geschichtlich determinierten Zeiten um göttlich geschichtlicher Ziele willen in das Land führt. Es gibt hier keine „Nation“ als solche und keine „Religion“ als solche, sondern nur ein Volk, das seine geschichtlichen Erfahrungen als die Taten seines Gottes versteht.

Dieser Glaube an die Führung ist aber zugleich Glaube an einen Auf­trag. Wieviel auch von der uns in der Schrift erhaltenen Gesetzgebung man späteren literarischen Schichten zuweisen mag: daß mit dem Auszug aus Ägypten die Gebung eines als Verfassungsurkunde des göttlichen Herr­schers verstandenen Gesetzes verbunden war, ist nicht anzuzweifeln, und der sichere Kern, um den sich das Spätere ankristallisiert hat, ist seinem Wesen nach Anweisung für die Begründung einer „heiligen“ Volksgemeinschaft in dem zu besiedelnden Land. Wir dürfen uns die Scharen als solche vorstel­len, für die die himmlische Führung Befehle auch für die Zukunft im Land einschloß, und auf diesem Grunde wuchs die Überlieferung und die Lehre. Die Erzählung von Abraham, die die Schenkung von Kanaan mit dem Ge­bot, ein Segen zu werden, verknüpft, ist eine knappste Zusammenfassung der Tatsache, daß die Verbindung dieses Volkes mit diesem Land im Zeichen eines Auftrags stand. Es kam in das Land, um ihn zu erfüllen; durch jede der Auflehnungen gegen ihn erkannte es sein Bestehen an; und seine Pro­pheten waren dazu bestellt, vergangenes und künftiges Schicksal daraus zu deuten, daß das Volk den gerechten Staat Gottes nicht errichtet hatte, den zu errichten es in das Land gebracht worden war. Zu keiner Zeit Israels ist dieses Land einfach Volksbesitz gewesen; immer war es zugleich Forderung, aus ihm zu machen, was Gott aus ihm gemacht haben wollte.

So steht von Uranbeginn die einzigartige Verbindung zwischen diesem Volk und diesem Land im Zeichen dessen, was sein soll, was werden, was verwirklicht werden soll. Zu dieser Verwirklichung kann das Volk nicht ohne das Land und das Land nicht ohne das Volk gelangen: nur die getreue Verbindung beider führt zu ihr. Es ist dies aber eine Verbindung, in der das Land nicht als toter, passiver Gegenstand, sondern als lebendiger und tä­tiger Partner erscheint. Wie das Volk, um sein volles Leben zu gewinnen, des Landes bedarf, so bedarf das Land des Volkes, um sein volles Leben zu gewinnen; im Zusammenwirken des voll Lebendigen mit dem voll Leben­digen wird sich das Werk vollziehen, das ihrer Gemeinschaft aufgegeben ist. Weil das lebendige Land wie das lebendige Volk daran beteiligt ist, wird das zugleich ein Werk der Geschichte und ein Werk der Natur sein. Die in unserem Wissen getrennten Gebiete der Natur und der Geschichte sollen sich, wie sie in der Schöpfung des Menschen vereint waren, in dem Werk vereinen, zu dem das erwählte Land und das erwählte Volk Zusammenwir­ken sollen. Die heilige Ehe beider zielt auf die Ehe der Seinssphären hin.

Dies ist das auf einen kleinen und verachteten Teil des Menschenge­schlechts, auf einen kleinen und verödeten Teil des Erdballs bezogene und doch weltenweite Motiv, das sich im Namen Zion birgt. Das ist nicht ein­fach ein Sonderfall der nationalen Idee und der nationalen Bewegung: das Besondere, das hier zum Allgemeinen hinzutritt, konstituiert eine eigene Gattung, die weit über die Grenze nationaler Probleme hinaus an Menschheitliches, an Kosmisches, ja an das Sein selber rührt. Das Volk Israel mag sonst als ein Volk unter den Völkern und das Land Israel als ein Land unter den Ländern angesehen werden: in ihrer Beziehung zueinander und in ih­rer gemeinsamen Aufgabe sind sie ein Einziges und Unvergleichbares. Und Geheimnis ist und bleibt, was sich zwischen beiden begeben hat, begibt und begeben soll, trotz alles namhaft und historisch Faßlichen doch noch Ge­heimnis. Diesem Geheimnis haben die Geschlechter des jüdischen Volkes nachgesonnen und nachgesonnen.

Als die nationale Bewegung dieses Volkes das Geheimnis erbte, wurde in ihr trotz des Einspruchs ihrer wichtigsten geistigen Führer der Wille mäch­tig, es aufzulösen. Es erschien als zur „Religion“ gehörig, und die Religion war auf zwiefache Art diskreditiert: im Westen wegen ihrer Bestrebung in der Emanzipationsepoche, sich zu entnationalisieren, im Osten wegen ihres Widerstandes gegen die Europäisierung des jüdischen Volkes, auf der sich die nationale Bewegung aufbauen wollte. Die säkularisierende Tendenz im Zionismus richtete sich auch gegen das Geheimnis Zions. Ein Volk wie alle Völker, ein Land wie alle Länder, eine nationale Bewegung wie alle natio­nalen Bewegungen — das wurde und wird als Postulat des gesunden Men­schenverstandes gegen alle „Mystik“ proklamiert. Und von da aus wurde und wird der urzeitliche Glaube bekämpft, daß das Gelingen der Wieder­verbindung dieses Volkes mit diesem Land an ein Gebot, an eine Bedingung geknüpft ist. Dem jüdischen wie jedem anderen Volk freie Entfaltung all seiner Kräfte in seinem Land, mehr ist nicht not, das eben heißt „Auferste­hung“ — so lautet die Losung.

Ihr gegenüber wird hier die Gewißheit der Geschlechter Israels zum Zeugnis aufgerufen, daß es an dem nicht genug ist. In tieferen Regionen des Erdreichs wurzelt, in höhere Regionen des Ätherreichs erhebt sich der Gedanke Zions, und beides an ihm, Wurzeltiefe und Wipfelhöhe, Ge­dächtnis und Ideal, beide gleichen Gewebes, dürfen nicht verleugnet wer­den. Wenn Israel auf das Geheimnis verzichtet, verzichtet es auf den Kern der Wirklichkeit selber. Nationale Formen ohne den ewigen Sinn, aus dem sie entstanden sind, bedeuten das Ende der spezifischen Fruchtbarkeit Is­raels. Eine freie Entfaltung der Kräfte ohne einen höchsten Wert, um des­sen willen sie sich entfalten, ohne eine ihrer Entfaltung gesetzte Richtung auf die Verwirklichung dieses Wertes, bedeutet nicht Auferstehung, sondern das Spiel einer gemeinsamen Selbsttäuschung, hinter dem der Tod der Seele lauert. Wenn Israel weniger will, als was mit ihm gemeint ist, wird es auch das Wenigere verfehlen.

Für jede neue Begegnung dieses Volkes mit diesem Lande stellt sich die Aufgabe neu, von der geschichtlichen Lage und ihren Problemen aus, und sie bleibt die eine Aufgabe. Unbewältigt bedeutet sie Zerfall des Gebauten, ihre Bewältigung wäre der Beginn einer neuen Art menschlicher Gemein­schaft. Gewiß, es erweist sich, daß die Aufgabe mit jedem Mal schwerer wird. Es ist schwerer, im Lande eine gerechte Lebensordnung aufzurichten, wenn man unter der Oberhoheit einer fremden Macht steht wie nach der Rückkehr aus Babylon, als wenn man, wie nach der ersten Landnahme, in seiner Selbstbestimmung verhältnismäßig frei ist; und noch schwerer ist es, wenn man mit der Koexistenz eines andern Volkes im Lande zu rechnen hat, verwandten Ursprungs und verwandter Sprache, aber an Überlieferung, an Struktur, an Tendenzen überwiegend fremd, und diese Lebenstatsache aus der gestellten Aufgabe nicht zu eliminieren ist. Aber in diesem Immer- schwerer-werden scheint ein hoher Sinn zu walten. Auch im Dasein des Einzelnen ist das Versäumte nie wieder im gleichen Bereich und unter den gleichen Bedingungen einzuholen; aber es wird einem zuweilen gewährt, das Verfehlte in einer ganz anderen Situation, in einer ganz anderen Gestalt wiedergutzumachen, und es ist sinnreich, daß die neue Situation wider­spruchsvoller, die neue Gestalt schwieriger zu verwirklichen ist als die alte, und daß es von Mal zu Mal eines immer stärkeren Aufschwungs bedarf, um das Werk zu vollbringen; eben solcher Art ist der harte und doch nicht gnadenlose Weg des Lebens. Nicht anders scheint es sich mit dem Dasein Israels zu verhalten.

Martin Buber, Politische Schriften, hrsg. v. Abraham Melzer, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, 2010, S. 520-525.

Hier der Text als pdf.

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