Fridolin Stiers Übersetzung von Psalm 139: „Auch Finsternis finstert dir nicht, / Nacht ist dir leuchtend wie Tag“

Du kennst mich

1JHWH! Du hast mich erforscht und erkannt.
2Du! Du erkennst mein Sitzen und Stehen,
du merkst mein Denken von fern.
3Meines Wanderns und Lagerns bist du gewahr,
mit all meinen Wegen vertraut.
4Wenn noch kein Wort auf meiner Zunge,
schon erkennst du, JHWH, es ganz.
5Hinten, vorn engst du mich ein,
hältst deine Faust auf mich gelegt:
6Zu entrückt ist dies Erkennen mir,
zu ragend, ich kann ihm nicht hin.

7Wohin kann ich gehn vor deinem Geist
wohin fliehen vor deinem Angesicht?
8Stieg ich die Himmel hinan, bist du dort,
bettet ich mich in der Unterwelt, bist du da.
9Erhöb ich die Flügel der Morgenröte
und ließe mich nieder am hintersten Meer
10auch dort packte mich deine Hand,
ergriffe mich deine Rechte.
11Und spräch ich:
Nur Finsternis decke mich zu,
Nacht sei das Licht um mich her!
12Auch Finsternis finstert dir nicht,
Nacht ist dir leuchtend wie Tag,
Finsternis wie Licht.
13Du hast ja, du, meine Nieren bereitet,
mich gewoben im Leib meiner Mutter.
14Ich preise dich,
daß in Furchtwürdigkeiten du dich entrückst,
Entrücktes deine Werke sind
– gar sehr erkennt es mein Leben.
l5Nicht war dir mein Gebein verhohlen,
als ich gemacht ward im Verborgenen,
buntgewirkt im Untergrund der Erde.
l6Als Keimling sahn mich deine Augen,
und in dein Buch ward alles geschrieben,
und Tage wurden schon gebildet,
da noch keiner unter ihnen war.
l7Ich aber! Wie schwer, Gott,
sind deine Gedanken mir,
wie gewaltig ihre Summen!
18Wollt ich sie zählen, sind sie mehr als der Sand,
und hätt ich geendet, noch wär ich bei dir.

19Wenn du den Frevler doch umbrächtest, Gott:
– Ihr Blutmenschen, weichet von mir!
20Sie, die in Tücke dich nennen,
die schwören zum Falschen!
21Sollt ich deine Hasser nicht hassen, JHWH,
verabscheuen nicht, die gegen dich sich erheben?
22Mit urletztem Hasse hasse ich sie,
mir zu Feinden sind sie geworden!
23Erforsche mich, Gott, daß mein Herz du erkennst,
prüfe mich, daß meine Sorgen du kennst,
24sieh her, ob ich auf den Weg der Kränkung geh,
und führ mich auf dem Wege der Vorzeit.

Psalm 139

Quelle: Für helle und dunkle Tage. Texte aus dem Alten Testament übersetzt von Fridolin Stier, hrsg. v. Eleonore Beck und Gabriele Miller, München: Kösel, 1994, S. 89-91.

Hier der Psalm als pdf.

2 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für die wirklich interessante Übersetzung von Fridolin Stier! Sein Tagebuch „Vielleicht ist irgendwo Tag“ war eins der ersten Bücher, die ich auf Deutsch gelesen habe (im Jahr 1981!), als ich noch dabei war, die Sprache zu lernen. Durch den Blog hier habe ich auch schöne biographische Anekdoten über ihn gefunden.

    Besonders gefällt mir v17: „Ich aber! Wie schwer, Gott, sind deine Gedanken mir …“, mit dem emphatischen „Ich aber!“ viel besser/unmittelbarer, persönlicher als auf Englisch in der NRSV „How weighty are to me your thoughts, O God!‘ oder Authorised Version „How precious also are thy thoughts unto me, O God“.
    Die Entrückung in „Furchtwürdigkeiten“ ist auch als Übersetzung erstaunlich …

    Michael Robertson

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