Karl Barth, Eine Frage und eine Bitte an die Protestanten von Frankreich (1940 nach der deutschen Besetzung): „Es wird die Demut vor Gott mit Resignation nichts zu tun haben können: nichts mit dem staunenden Starren auf ein Schicksal, dem wir — auch nur provisorisch — eine Art von Unabänderlichkeit zuerkennen müßten. Wo es zu diesem Starren käme, da wäre ja der Glaube schon preisgegeben und hätte es der Feind schon über uns gewonnen. Der ganze Hitler lebt davon und nur davon, daß er es verstanden hat, dieses Starren um sich her zu verbreiten.“

Eine Frage und eine Bitte an die Protestanten von Frankreich, 1940

Basel, im Oktober 1940.

Liebe Freunde und Brüder!

Es war diesmal einer der Jüngsten unter den Predigern des Evangeliums in Ihrem Lande, der es auf sich genommen hat, mich, ähnlich wie letztes Jahr Herr Pfarrer Westphal, zu einem Wort offener Aussprache Ihnen gegenüber aufzufordern. Die Verpflichtung zu einer Art Fortsetzung des damals Gesagten habe ich angesichts der seither stattgefundenen Entwicklungen doch schon längst empfunden.

Sie haben meinen letzten Brief in der Hauptsache freundlich und mit Verständnis aufgenommen. So darf ich ohne weiteres hoffen, daß Sie auch das, was ich Ihnen jetzt schreiben möchte, nicht als unbefugte Einmischung eines Draußenstehenden und Unbeteiligten auffassen werden.

Gegenüber der Not und Aufgabe unserer Zeit gibt es keine Draußenstehenden und Unbeteiligten. Vielleicht Viele, die sich dafür halten möchten, aber Keine, die es wirklich sind: Das ist heute noch viel deutlicher als vor einem Jahr. Der Krieg zwischen den Nationen, der damals wie ein schleichender Brand anhob und seither zur alles verzehrenden Flamme geworden ist, ist die notwendige Form eines Gegensatzes, der durch keine nationalen Grenzen bedingt ist, sondern quer durch alle Nationen (auch durch die neutralen und nicht zuletzt auch durch die deutsche) hindurchgeht, der so oder so überall die Geister zu klarer verbindlicher Entscheidung nötigt: zu einem Ja oder Nein mit der Aussicht auf alle denkbaren Konsequenzen. Wir befinden uns alle innerhalb dieses Gegensatzes. Wir sind alle beteiligt an seiner Entstehung und an seinem Bestande und wir werden alle auf der einen Seite des Abgrundes oder auf der anderen — an seiner Überwindung, wie diese auch ausfalle, beteiligt sein: als Mithandelnde, als Mitverantwortliche, als Mitschuldige, als Mitleidende. [148]

Indem ich mit dieser Feststellung die Freiheit begründe, die ich mir nehme, Sie, liebe Glaubensgenossen in Frankreich, aufs neue anzureden, kann ich Ihnen eben damit auch sofort erklären, welche Frage und welche Bitte ich Ihnen vorzulegen habe.

Meine Frage: Nicht wahr, meine französischen Freunde, wir sind einig in dem soeben Gesagten? Wir waren es vor einem Jahr. Wir sind es doch auch heute, d. h. nach wie vor dem, was seither geschehen ist? Nicht wahr, der zwischen Frankreich und Deutschland geschlossene Waffenstillstand hat nichts daran geändert, daß auch Sie an dem Gegensatz, der das Geheimnis des bisherigen und weitergehenden Krieges ist und an der Verantwortlichkeit für seine Existenz und für seine Überwindung immer noch und erst recht beteiligt sind?

Und im Anschluß daran meine Bitte: Wir wissen, daß und wie Sie jetzt von Ihrer besonderen nationalen Not und Aufgabe in Anspruch genommen sind. Sie werden sich aber nicht auf diese zurückziehen, als ob sie Ihre Privatsache wäre. Sie werden nach keinen Lösungen suchen, die Sie in die Neutralität gegenüber der großen Entscheidung führen würde, die wie vor uns Allen, so nach wie vor auch vor Ihnen steht, von der letztlich gerade auch für Sie nicht weniger als Alles abhängig sein wird. Wir rechnen darauf, daß Sie uns als Christen und als Franzosen nicht im Stich lassen, sondern innerlich: mit Ihrem Glauben und Ihrem Gebet, aber eben darum nach dem Maß Ihrer Einsicht und Ihres Könnens auch äußerlich: mit Ihrem Wort und mit Ihren Handlungen genau so bestimmt wie vor einem Jahr, nein, noch viel bestimmter und begründeter, weil erfahrener und wissender als vor einem Jahr mit uns auf der einen Seite des Abgrundes stehen werden. Gerade weil wir Frankreich nach wie vor lieben und respektieren, können und werden wir Sie nicht entlassen zugunsten irgend eines speziell französischen Anliegens. Wir haben Sie nötig. Trennen Sie Ihre Sache nicht von der unserigen, weil die unsrige nach wie vor auch die Ihre ist!

Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Viele von Ihnen sich nach den Ereignissen des vergangenen Sommers mit besonderer Nachdenklichkeit des letzten Teiles meines Weihnachtsbriefes erinnert haben, wo ich davon gesprochen hatte, daß es unchristlich und unklug wäre, wenn wir nicht auch mit der Möglichkeit [149] eines unserem Willen und unseren Erwartungen zuwiderlaufenden Ganges der kriegerischen Verwicklung, mit „Wundern des Antichrist” mit einem kommenden Gericht Gottes über uns selbst rechnen wollten und daß wir bereit sein müßten, uns dem Willen und Gebot Gottes auch unter solchen unerwünschten Umständen erst recht zu unterziehen. Dann und nur dann, wenn wir auch dazu bereit seien, so schrieb ich damals, könne das notwendige Werk des Widerstandes gegen den Hitlerschen Nationalsozialismus freudig und zuversichtlich getan werden. Ich war frei von aller „Prophetie”, als ich das schrieb. Ich schrieb so, wie ich in Verantwortung der heiligen Schrift gegenüber in der damaligen Lage meinte schreiben zu müssen. Was dann im Mai und Juni geschehen ist, habe auch ich wirklich nicht vorausgesehen. Es war freilich kein gutes Zeichen, daß die französische Zensur damals gerade den letzten Teil meines Briefes als „defaitistisch” meinte unterdrücken zu müssen. Es konnte der Widerstand Frankreichs vielleicht auch darum so freudig und zuversichtlich nicht sein, um wirksam zu werden, weil man damit, daß der Mensch denkt, Gott aber lenkt, zu wenig rechnen wollte. Aber wie dem auch sei: gerade das trat dann tatsächlich ein, was wir alle am wenigsten gewünscht und erwartet hatten, schlimmer als das Schlimmste, was zu vermuten war. Ich darf Ihnen erzählen, daß mein Bruder Peter Barth, der am Abend des 20. Juni gestorben ist, noch in der Schwachheit seiner letzten Lebensstunde ausgerufen hat: „Aber über die Loire gehen wir nicht zurück!” „Wir!” Verstehen Sie, liebe französische Freunde, so lebten in jenen Wochen viele von uns unmittelbar mit Ihnen! Aber Sie (und wir mit Ihnen) gingen dann doch noch weit, weit auch über die Loire zurück. Die Einzelheiten, die Ihnen ja besser bekannt sind als mir, bedürfen hier keiner Erwähnung und ich möchte von den harten Worten, die zur Bezeichnung, Beschreibung und Erklärung jenes ganzen Geschehens in Frankreich selbst oft genug ausgesprochen und vernommen worden sind, meinerseits keines hier in den Mund nehmen. Wie man die Sache auch benennen und mit welcher Anklage oder Selbstanklage man sie auch betrachten mag — es war nun einmal so, daß die militärische Leistungsfähigkeit des Hitlerschen Deutschland sich für diesmal als überlegen erweisen durfte und daß nach Polen, Norwegen, Dänemark, Holland und Belgien auch Frankreich fürs [150] Erste an der weiteren Mitwirkung an dem notwendigen Krieg gegen jenes Deutschland verhindert ist. Der Fall ist eingetreten, daß Sie sich nun eben unter diesen Umständen dem Willen und Gebot Gottes unterziehen müssen.

Aber wenn Sie heute wahrscheinlich geneigt sind, sich besonders jenes letzten Teiles meines Weihnachtsbriefes zu erinnern, so darf ich Ihnen gewiß nahelegen, zu bedenken, daß auch von dem anderen, was ich Ihnen damals geschrieben habe, heute nichts zurückzunehmen ist. Was hat sich für Sie geändert? Dies, daß Sie heute vorläufig (in der Vorläufigkeit des Waffenstillstandes!) Gründe haben — ich untersuche nicht, ob sie gut oder schlecht sind — nicht mehr oder noch nicht wieder Krieg führen zu wollen. Aber, nicht wahr, Eines hat sich auch für Sie nicht verändert, hat sich seither sogar noch verstärkt: der Grund nämlich, der Sie — gerade Sie als Christen — vor einem Jahr veranlaßt hat, denselben Krieg zu bejahen und allen Ernstes führen zu wollen. Brauche ich es erst auszusprechen: ein Meer von Wirklichkeit — z. B. ein Meer von feindlichem Erfolg und eigenem Mißerfolg — bedeutet für uns Christen noch keinen Tropfen von Wahrheit. Es ist die Einsicht, daß wir den Anderen unterschätzt und uns selber überschätzt haben, eine gute und notwendige Sache. Über Recht und Unrecht aber und über das, was aus der Erkenntnis von Recht und Unrecht folgt als Verpflichtung und Entscheidung dürfen wir uns durch diese Einsicht nicht belehren lassen. Ich kann mir nicht denken, daß Sie die grundsätzliche Lage zwischen Hitler und uns Anderen heute darum anders als vor einem Jahr beurteilen können, weil Hitler inzwischen eine solche — lebhaft genug an Hiob 21 und an Ps. 10 und 73 erinnernde — Reihe von guten, Frankreich aber mit allen jenen anderen Ländern so viele böse Tage gehabt hat. Sie müßten ja den deutschen Waffen nicht nur, sondern bereits jener deutschen Philosophie erlegen sein, die 1933 im deutschen Volke selbst wie eine Pest ausgebrochen ist, wenn sie das tun wollten! Hitler müßte Sie dann bereits innerlich erobert haben. Ich hoffe nicht nur, sondern ich weiß, daß dem nicht so ist: jedenfalls nicht, was Sie, die Söhne und Erben der französischen Reformation, betrifft. Ich weiß, daß Sie den furchtbaren Nebel der Verwechslung zwischen Gottes Wort und der Sprache brutaler Tatsachen zu durchschauen noch fähig und willig sind, wie ich [151] auch in Deutschland selbst Menschen kenne, die zu dieser Durchsicht bis auf diesen Tag fähig und willig geblieben sind. Aber ich nehme ohne weiteres an, daß es auch unter Ihren katholischen Brüdern, aber auch unter den echten Kindern der Revolution von 1789 an solchen nicht fehlt, die sich von dem Trug des deutschen Realismus von 1933 frei erhalten haben. Ich darf aber jedenfalls Sie, meine Glaubensgenossen, behaften und festlegen, auf den Satz: Es hat sich hinsichtlich des Grundes, der Notwendigkeit und des Rechtes des gegen Hitler geführten Krieges — obwohl er zur Zeit nicht Ihr Krieg ist, sondern am Ärmelkanal, über London, in Ägypten (und wer weiß: wo morgen?) von Anderen ausgefochten wird — auch für Sie nichts, gar nichts geändert. Der Nationalsozialismus selbst mit seinen Lügen und Grausamkeiten, mit seiner Willkürjustiz, seinen Judenverfolgungen und Konzentrationslagern, mit seiner Bekämpfung und Vergiftung der christlichen Kirche, mit seiner grundsätzlichen Unfreiheit und darum Unverantwortlichkeit des Denkens und der Rede, mit seiner bewußten bösen Ungeistigkeit — der Nationalsozialismus als „Revolution des Nihilismus” ist ja auch nicht im Geringsten anders geworden. Er hat sich nur als kriegstüchtiger erwiesen, als wir gedacht; er ist nur mächtiger geworden, als wir es gewünscht haben. Er hat nur so und so viele Völker (darunter das Ihrige) unterworfen, wie er sich zuerst das deutsche (das unglücklichste von allen!) unterworfen hatte. Er hat nur Gelegenheit gewonnen, seine Methoden nun auch in Polen, in Norwegen und Holland zur Anwendung zu bringen und ich nehme an, daß nun auch Frankreich schnell genug Gelegenheit haben wird — oder schon hatte — sie kennen zu lernen. Wissen Sie, was die bekennenden Christen in Deutschland augenblicklich viel mehr beschäftigt als der ganze Krieg? Die Tatsache, daß die medizinische Tötung gewisser „unheilbar” kranker Menschen dort nunmehr zu einem in aller Breite angewendeten und durch die Polizeigewalt gegen jede Kritik geschützten System geworden ist. Man spricht von bis jetzt 80 000 Opfern dieses Systems! Das ist Hitler. Diesem Hitler, als er sich nach seinem eigenen auch auf andere Völker und Länder zu stürzen begann, zu widerstehen, war die klare Absicht, mit der England und Frankreich im Herbst 1939 nach langem Zuwarten in den Krieg getreten sind. Daß es Hitler in der Zwischenzeit so [152] ungemein gut und allen Anderen so schlecht gegangen ist, daß er in Europa und Asien in denen Verbündete gefunden, die es ihrer eigenen Art nach früher oder später werden mußten, daß er sich heute aufreckt wie ein Gott, um der ganzen Welt eine neue, seine Ordnung aufzudringen — das Alles sind keine Gründe, jene Absicht aufzugeben. Sie können auch für Sie, die zur Zeit aus der Kriegführung ausgeschieden sind, keine Gründe bilden, jener Absicht untreu zu werden. Sie müssen mindestens mit Ihrem ganzen Herzen bei den Franzosen sein, die den Entschluß faßten und zur Ausführung des Entschlusses die Gelegenheit hatten, auch die Kriegführung des Frankreichs von 1939 jetzt schon fortzusetzen! Der Nationalsozialismus ist dasselbe fürchterliche, aber auch innerlich hohle, letztlich nichtige Gebilde aus der Unterwelt, das er immer gewesen ist. „Ein Wörtlein kann ihn fällen”; heute wie gestern! Sie, liebe Freunde, können in diesem Gegensatz heute tatsächlich so wenig neutral sein wie gestern.

Wenn ich recht orientiert bin und verstehe, wird nun in christlichen Kreisen des heutigen Frankreichs viel von der Demut geredet, mit der man die erlittene „Totale Niederlage” als göttliches Gericht anerkennen und hinnehmen müsse. Und weiter von der Buße, die jetzt nötig sei. Und weiter von einem traurigen Schweigen, in dem man sich jetzt an die übriggebliebenen oder neu erwachsenden bescheidenen Aufgaben innerhalb des eingetretenen Provisoriums machen müsse. Und weiter vom Gebet, von der Predigt des gekreuzigten Christus, von der Schaffung, Erhaltung und Förderung eines neuen öffentlichen Geistes als von der für Sie heute allein möglichen Mitwirkung an der gemeinsamen Sache der christlichen Kirche und des rechten Staates. Ich verstehe das Alles und gebe mir große Mühe, es mit Vertrauen zu verstehen: in einem Vertrauen, mit dem ich zu dem Allem einfach Ja sagen könnte und müßte. Aber ich kann mir nicht helfen: es fällt mir schwer, es so zu verstehen. Es beunruhigt mich nämlich, daß ich das Alles schon einmal gehört zu haben meine: in dem vom Nationalsozialismus überschwemmten Deutschland nach 1933 nämlich! Es bedeutete damals und dort den Rückzug der Christenheit aus der kirchlichen und politischen Verantwortlichkeit auf die innere Linie einer Religiosität, die, um sich selber zu erhalten, schon um die rechte Gestalt [153] der Kirche und erst recht um die des Staates sich nicht mehr kümmern, jedenfalls nicht mehr kämpfen und leiden wollte. Es bedeutete das Alles damals und dort die Sanktionierung des Nationalsozialismus durch ein recht oder auch schlechtverstandenes Luthertum. Machen Sie sich klar, daß die dämonische Kraft des Nationalsozialismus die Sie nun selbst, zunächst passiv, erlebt haben, auch damit zusammenhängt, daß die Christenheit in Deutschland damals diesen Rückzug vollzogen hat. Ich will nun mit dieser Reminiszenz aus dem deutschen Kirchenkampf gewiß nicht sagen, daß die, die im heutigen Frankreich jene Parole ausgeben, bereits in diesem Rückzuge begriffen seien. Ich will nur sagen: mit der zunächst vielleicht sehr gut gemeinten und relativ berechtigten Ausgabe dieser Parole könnte jener Rückzug anfangen mit dem dann die Kirche dem altbösen Feind und jedenfalls dem Nationalsozialismus bestimmt geradezu in die Hände arbeiten würde. Sehen Sie zu, daß das nicht geschehe!

Demut ist eine ausgezeichnete Sache. Zum Hochmut besteht ja wirklich kein Anlaß und wenn wir bisher hochmütig waren, so haben wir nun seit einem halben Jahr tüchtig auf die Nase bekommen. Aber mich beunruhigt die gewisse Nähe dieser plötzlich hervorgehobenen Buße sowohl zu der Politik der Regierung von Vichy als auch zu der Apathie, in die, wenn ich recht unterrichtet bin, die breite Masse Ihres Volkes seinem Schicksal gegenüber heute versunken ist. Ist es nicht fast zu zeitgemäß, heute gerade die Demut zu predigen? Aber sei es denn! Nur daß es sich dann um die Demut vor Gott wird handeln müssen und nicht etwa um die Demut vor Tatsachen und Umständen, vor Mächten und Gewalten, vor Menschen und menschlichen Autoritäten. Es wird die Demut vor Gott mit Resignation nichts zu tun haben können: nichts mit dem staunenden Starren auf ein Schicksal, dem wir — auch nur provisorisch — eine Art von Unabänderlichkeit zuerkennen müßten. Wo es zu diesem Starren käme, da wäre ja der Glaube schon preisgegeben und hätte es der Feind schon über uns gewonnen. Der ganze Hitler lebt davon und nur davon, daß er es verstanden hat, dieses Starren um sich her zu verbreiten. Von diesem Starren würde sich also eine rechte christliche Predigt von der Demut im heutigen Frankreich weit entfernt halten müssen. [154]

Und es würde dann — wenn es um die Demut vor Gott ginge — von der „totalen Niederlage” eigentlich gar nicht die Rede sein dürfen. Erinnert der Begriff nicht peinlich an die „totalen” Absichten und Ansprüche der Gegenseite? Wie kommen wir denn als Christen dazu, das Wort „Total” auf etwas Anderes als auf Gottes allmächtige Gnade anzuwenden? Wann und wie könnte denn eine menschliche Niederlage anders „total” werden als damit, daß die beteiligten Christen den Glauben an Gottes allmächtige Gnade und damit die Freudigkeit und damit den Mut zum Zeugnis verlieren würden? Eben dies ist es, was nicht geschehen darf!

Es würde dann — wenn es um die Demut vor Gott ginge — die Anerkennung und Hinnahme des göttlichen Gerichtes gewiß nicht das bedeuten, daß man sich müde machen und irre machen ließe in dem, was man als Gottes Gebot und Willen früher erkannt und im Gehorsam gegen ihn zu tun versucht hatte. Von Gott gerichtet ist doch nicht unser Gehorsam, sondern der allerdings unendliche Ungehorsam, mit dem wir unser bischen Gehorsam immer wieder bedeckt haben. Wenn Gott uns gerichtet hat, so ist er uns gnädig gewesen, so hat er uns eben mit seinem Richten nicht hinausgestoßen in eine selbstgewählte Neutralität, sondern aufs neue ausgerichtet und aufgerichtet zu reinerem Gehorsam.

Es würde dann die nötige Buße gewiß nicht in einer ergebnislosen allgemeinen Beugung, in einem passiven Bedauern begangener Fehler stecken bleiben und noch weniger in solchen vermeintlichen Neuerungen sich manifestieren können, mit denen man dem „alten Menschen” nun erst recht zu vollendeten Triumphen verhelfen würde. Sondern es würde uns dann die Buße (z. B. hinsichtlich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!) ganz schlicht ernst werden lassen, wo wir früher leichtsinnig, fröhlich, wo wir früher skeptisch, stark, wo wir früher schwach und lau gewesen sind. Die Buße würde uns dann zum Wachen und nicht zum Schlafen anleiten; sie würde uns dann zum Leben und nicht in den Tod führen.

Es würde dann das gewiß nützliche Schweigen eigentlich kein trauriges Schweigen sein können, sondern von selbst zu der fruchtbaren Zurückhaltung derer werden, die heimlich zu viel zu tun haben, um allzu viel reden zu können. [155]

Es würde uns dann das Gebet von einem bescheidenen aber bestimmten politischen Denken und Handeln gewiß nicht weg, sondern in einen zielbewußten Kampf erst recht hineinführen.

Es würde dann der neue öffentliche Geist nicht nur Ziel, nicht nur Gegenstand von allerlei Unterricht, Seelsorge und Diskussion, sondern vor allem sofort auch Anfang sein: der Geist der christlichen Verneinung der Niederlage, der Geist des christlichen Ansatzes zu neuem, besseren Widerstand, der Geist der christlichen Hoffnung, die den Dämonen das Feld zu lassen nicht gesonnen ist. Wie in aller Welt soll dieser Geist denn anders geschaffen, erhalten und gefördert werden, als indem er betätigt wird?

Mehr als je und vielleicht nirgends so wie im heutigen Frankreich würde der gekreuzigte Christus — dann nämlich, wenn es um die Demut vor Gott ginge — als der Auferstandene zu verkündigen sein: als der König, dessen Reich keine Grenzen hat und dessen Knechte keine Furcht haben können, weil er die Welt überwunden hat.

Wenn sie so zu verstehen und ein wenig zu korrigieren wäre, könnte ich jener Parole wohl zustimmen. Sie würde ja dann nicht bedeuten, daß auch die Kirche von Frankreich einen Waffenstillstand geschlossen hat! Dies ist es, was sie nicht tun kann, nicht tun darf, weder unter dieser Parole, noch unter einer anderen. In der Kirche von Frankreich muß der Krieg geistlich weitergehen. Sie kann mit Hitler unter keinem Titel Frieden oder auch nur Waffenstillstand schließen. Und in der Kirche von Frankreich muß es deutlich sein und bleiben, daß auch der militärische Waffenstillstand, den die Regierung von Vichy mit Hitler geschlossen hat, nur vorläufigen Charakter haben kann.

Hier möchte ich abbrechen, obwohl und indem ich weiß, daß die praktischen Fragen hier anfangen würden. Mir fehlt die Kompetenz, in diesen Fragen mitzureden. Vor allem in der Frage „Vichy”! Sie können sich denken, daß ich eine Meinung dazu habe und auch eine Vorstellung, wie ich mich als Franzose dazu stellen würde. Aber ich bin nicht Franzose und halte es für besser, Sie in dieser nun wirklich Sie im Besonderen angehenden Angelegenheit nur insofern anzureden, als ich ausdrücklich sagen muß, daß gerade Ihre Stellungnahme in dieser Sache [156] hinsichtlich der Beantwortung meiner Frage und der Erfüllung meiner Bitte von entscheidender Bedeutung ist.

Seien Sie, liebe Freunde und Brüder, auf allen den schweren, versuchungsreichen und gefährlichen Wegen, die vor Ihnen liegen, unserem Gott befohlen! Sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Ihre und unser aller Herzen und Sinne in Christo Jesu.

Mit brüderlichem Gruß!

Ihr Karl Barth.

Quelle: Karl Barth, Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, Zollikon-Zürich: EVZ 1945, 147-156.

Hier der Brief als pdf.

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