Über die Pflege der deutschen Sprache
Von Gustav W. Heinemann
In seiner Ansprache bei der Einweihung des Deutschen Literatur-Archivs Marbach am 16. Mai 1973 kamm Heinemann als Bundespräsident auf die Pflege der deutschen Sprache zu sprechen:
Sprache ist etwas Lebendiges. Von daher hat sie ihre eigenen Gefahren, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Manchmal scheint es so, als wolle die List einer seltsamen Unvernunft uns auf dem Umweg über die Sprache wieder in eine mittelalterliche Zunftgesellschaft zurückverwandeln. Es gibt unter uns viele Zünfte, die ihre Sondersprache entwickeln und mit einem selbstherrlichen Eifer pflegen, der einer besseren Sache angemessen wäre.
So gibt es eine Sprache der Verwaltung, die in Stil- und Wortwahl unverkennbar ist. Es gibt das blutleere Juristendeutsch, das in Gerichtssälen seinen Platz verteidigt und in die Urteile und Urteilsbegründungen einfließt. Es gibt eine Sondersprache der Wissenschaft, genau gesehen sogar von jedem ihrer Teilbereiche. Daß die Naturwissenschaften ihre eigene Sprache sprechen, erfährt jeder, der sich über den Stand naturwissenschaftlicher Forschungen zu unterrichten versucht. Berühmt und berüchtigt wegen ihrer Unverständlichkeit ist die Sprache der Soziologen. Den Theologen sollte ins Stammbuch geschrieben werden, daß Nächstenliebe auch darin besteht, sich einfach und verständlich auszudrücken. […]
Seit Jahren geht es mir in meinen mündlichen und schriftlichen Äußerungen darum, anstelle von Fremdwörtern nach bester Möglichkeit deutsche Wörter zu benutzen. Ich tue das nicht, um damit besonderes Nationalgefühl zu beweisen, es geht mir vielmehr um das Ziel der Verständlichkeit für jedermann. Dabei handelt es sich um nichts Geringeres, als um den mir wichtig erscheinenden Auftrag, die Sprachkluft zwischen den sogenannten gebildeten Schichten und den breiten Massen unserer Bevölkerung zu überwinden, die für eine Demokratie so gefährlich ist. Welche Kluft eine durch Fremdwörterei überladene Sprache verursacht, erfahre ich oft in meinen Gesprächen mit Angehörigen der verschiedensten Bevölkerungsgruppen, besonders auch mit Schülern. Beklagenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß sich Rundfunk und Fernsehen bis in die Nachrichtensendungen an dem Gebrauch unnötiger Fremdwörter beteiligen.
Sich in solche Sprachzucht zu nehmen, ist sicher nicht immer leicht, aber ein Beitrag sowohl zur Demokratie wie auch zur Bewahrung der Schönheit unserer Sprache. Deshalb sollte ein wesentlicher Gesichtspunkt für den Gebrauch jedes Fremdwortes sein, ob es unersetzbar ist, weil es eine wirkliche Lücke ausfüllt. Es wird sich dann herausstellen, daß die Verteidigung von Fremdwörtern oft nur die Verteidigung einer Bequemlichkeit ist, die wir uns nicht erlauben sollten.
Verantwortung für die Sprache zu empfinden, ist ein Teil der Verantwortung aller Bürger für unsere Gesellschaft und für unseren Staat. Deshalb möchte ich hier in Marbach noch einmal Friedrich Schiller als Zeugen bemühen. Die Sprache, so mahnte er seine Zeitgenossen, »ist ein Spiegel der Nation; wenn wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen«.
Freilich: Eine Nation spiegelt sich nicht nur in ihrer Sprache. Sie hinterläßt ihre Handschrift in der Geschichte. Was sie dort bewirkt oder verfehlt, prägt vor allem anderen das Bild, das andere sich von ihr machen.
Es scheint das Schicksal unseres Volkes zu sein, daß in seiner Geschichte und in seiner Sprache sich Großartiges und Schreckliches enthüllt.
Um so mehr wollen wir in der Pflege unserer Sprache deutlich machen, was unser Wille für die Zukunft unserer Geschichte ist: eine demokratischere und eine menschlichere Zukunft.
Sprache ist also am Hörer zu orientieren, nicht an der ideologischen Einstellung des Sprechers.
Fremdwörter wie Sünde und Vergebung, Bekehrung und Buße können aber nicht vermieden werden…