Von Martin Niemöller
Daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, daß Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, daß wir durch ihn leben sollen. 1. Johannes 4,9
Der heilige Abend ist wieder da, liebe Gemeinde, und mit ihm das Weihnachtsevangelium von der Geburt im Stall, und mit ihm das Weihnachtslied vom Kind in der Krippe. Für einen Augenblick leuchtet das helle Licht durch die Nacht, klingt die Freude hindurch durch die verzagende Welt: »Euch ist heute der Heiland geboren«.Wir freuen uns dieses jährlich wiederkehrenden Augenblicks. Wir tragen mit Fleiß end Bedacht auf dieses Fest alles zusammen, was unsere Freude erhöhen und was ne vertiefen könnte, damit das Leuchten des Festes bei uns bleiben und hinausleuchten möchte, bis es am grauen Alltag das Feld räumen muss.
So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich am Weihnachtsfest alles vereint, was wir an Wünschen und Sehnsüchten und Hoffnungen in uns tragen und lebendig wissen. So ist es auch zu verstehen, wenn sich heute unser Volk auf alte Bräuche und Sitten besinnt, um sie in das Leuchten des Festes hineinzutragen; wenn alte Sonnenwendfeiern wieder erwachen: Es muss doch Frühling werden. Der Mythos des Lichts, des schwindenden, aber doch wiederkommenden Lichts, kündet uns die Wiederkehr des Lebens. Wir wagen einen neuen Anfang. Wo wir es nicht schaffen, schauen wir auf unsere Kinder, die werden es weiter schaffen und vollenden. Zum Mythos des Lichts gesellt sich der Mythos der Geburt, des Kindes in der Krippe. Das Kind in der Krippe muss von dem Mythos wissen: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Wir Kinder wachsen nach und nehmen euch die Waffen und Werkzeuge aus den Händen, wenn sie den euren entfallen.
Liebe Freunde, und doch ist das alles nur Rankenwerk! Solange unsere Augen darauf schauen und daran haften, wissen wir weder von der grossen Furcht, noch von der grossen Freude der Weihnachtsgeschichte. Es geht heute nun einmal nicht um die ewigen Gesetze von Natur und Geschichte, mit denen wir uns abfinden und nach denen wir uns einrichten müssen, während dahinter das unabänderliche Schicksal steht, womit sich unsere Gedanken lieber nicht befassen; sondern darum geht es in der Weihnachtsbotschaft und in der Weihnachtsgeschichte, daß der ewige lebendige Gott, vor dem niemand unschuldig ist und der unerforschlich ist aus seiner Verborgenheit hervortritt, um sich uns zu bezeugen. »Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie«.
Und da kann die Wirkung keine andere sein wie immer, wo Menschenkinder der Nähe des lebendigen Gottes innewerden: »Sie fürchteten sich sehr«. Die ständige Furcht ist es, die die Freude nicht aufkommen lässt.
Wir wandeln über die Erde, als hätten wir festen Boden unter den Füssen; aber der feste Boden ist nur eine dünne Lavadecke. In Wirklichkeit gehen wir dahin über einen brodelnden Vulkan, und wo die Decke bricht, da züngelt das Feuer, da schießt die Flamme empor: der Zorn Gottes über unser unheiliges, sündiges, menschliches Wesen. Vor ihm ist kein Lebendiger gerecht, das wußten die Hirten. Das wissen auch wir, wenn wir an den lebendigen Gott denken.
Liebe Freunde, wer von dieser letzten Fragwürdigkeit unseres Lebens auch nur etwas ahnt, dem ist mit keinem Mythos geholfen, den Menschen auch erdenken, mögen. Wer etwas weiß von der Unentrinnbarkeit Gottes, der weiß auch, daß es an unserem Rennen und Laufen nicht liegt, der merkt auf, der tut seine Ohren auf, wenn eine Botschaft der Rettung kommt. An dieser Stelle, bei der großen Furcht, da hat die Weihnachtsbotschaft ihre Stätte: »Christ, der Retter, ist da!« Da ist die Tür aufgestoßen zur großen Freude, die uns durch Leben und Sterben hindurchtragen wird: »Die Liebe Gottes ist erschienen«, die Liebe Gottes!
Wir hören die Geschichte, die uns von dem Kind in der Krippe gesagt wird; und wenn wir uns schon verwundern – wie sich die Leute immer verwundern –, daß hier nicht das Elend der Welt und der ganze Jammer unseres Menschseins vor uns in der Krippe liegt, sondern verbunden mit diesem Jammer und mit diesem Elene und eingehüllt in diesen Jammer und dieses Elend der Sohn des lebendigen Gottes, der Heiland der Welt. Da schieben wir solch seltsame und über die Maßen törichte Botschaft nicht beiseite wie ein Märchen. Da fragen wir, ob wir diese Botschaft glauben können, daß der Retter da ist, daß die Liebe Gottes für uns erschienen ist Denn um den Glauben ist es hier zu tun.
Was unsere Augen sehen, das ist ein Mensch gleich wie wir, ein Mensch, von dem es heißt von der Stunde der Geburt an, wie der Prophet gesagt hat: »Er war der Allerverachtetste und Unwerteste«. Kein Platz in der Herberge, und so kommt das Kind in den Futtertrog. Und als das Kind zum Manne herangewachsen ist: »Des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege!« Und schliesslich weiß die Welt nichts anderes mit ihm anzufangen, als dass sie ihn ausstößt und ihn an den Galgen, an das Kreuz hängt.
Aber, liebe Freunde, die Botschaft von diesem Kinde, die Botschaft, die den Menschen verkündigt wird, die nennt ihn den eingeborenen Sohn Gottes, den Heiland der Welt, der die Welt mit Gott versöhnt, der den Frieden mit Gott bringt, welcher höher ist als alle Vernunft. Die Botschaft nennt ihn Immanuel, Gott mit uns, Gott für uns, die Liebe Gottes. Die Botschaft sagt uns, daß Krippe und Kreuz aus dem selben Holz geschnitzt sind, daß dieses Kind in der Krippe den Fluch und Zorn Gottes, den wir getragen haben, hinweggenommen hat, weil er der Einzige ist, der diese Last für uns tragen und den Fluch hinwegnehmen konnte. »Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an«.
Diese Botschaft, heute am Weihnachtsfest gepredigt als die eine Botschaft, in der Gott uns armen Sündern hat Rat und Hilfe schaffen wollen, daß die Furcht in Freude, das Verzagen in Zuversicht, unser Leben – das in Wahrheit ein Sterben ist – in wahrhaftiges Leben verwandelt wird: »Daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, dass er seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, dass wir durch ihn leben sollen«.
Liebe Freunde, wir wollen in aller lauten Festesfreude dieses eine Wort hören und mit uns gehen heißen. Wir wollen uns darüber freuen und in den Jubel der Christenheit einstimmen und ja nicht aufhören, zu ringen und zu beten um die freudige Gewißheit und Zuversicht des Glaubens an den eingeborenen Sohn Gottes, der in der Krippe lag.
Drum Jesu, schöne Weihnachtssonne,
bestrahle mich mit deiner Gunst,
dein Licht sei meine Weihnachtswonne
und lehre mich die Weihnachtskunst,
wie ich im Lichte wandeln soll
und sei des Weihnachtsglanzes voll.
Amen.
Quelle: Martin Niemöller, Dennoch getrost. Die letzten 28 Predigten des Pfarrers Martin Niemöller vor seiner Verhaftung gehalten in den Jahren 1936 und 1937 in Berlin-Dahlem, Zollikon: Verlag der Evangelischen Buchhandlung, 1939, S. 48-51.