Von Reinhold Schneider
Die Nächte sind lang und schwer. Wie oft habe ich nach der Uhr gegriffen, in der törichten Vorstellung, sie aufziehen zu müssen, während doch kaum eine Drehung möglich war; ich hätte ja auch sehen können, daß der Mond sich aus dem kleinen Geviert der Scheibe dicht am Fensterkreuz nicht entfernte. Wie wunderbar müßte es sein, einmal die ganze lange Stille zu empfinden in Ruhe, ohne den Körper als Leiden zu spüren! Aber wäre ich dann wach, wie ich bin, für die Ereignisse der Nacht? Die Nacht ist der Raum, in dem sich eine Gemeinschaft der Leidenden herstellt, die keine Grenzen hat; sie geht über in eine Gemeinschaft der Wachenden überhaupt. Der Staatsmann ist nun doch allein mit seiner Verantwortung, der Künstler mit dem Zweifel an seinem Werk, das gerade in der Überwindung des Zweifels stark werden soll; der Arzt mit der Sorge um seine Kranken. In einem Gefängnis unter dem Gebirge wickelt sich der Gefangene auf dem Strohsack vergebens fester in seine Decke; – ob er nun schuldig oder unschuldig verurteilt wurde: er steht vor dem Tribunale des Selbstgerichts, im Prozeß über sein Leben, den er selber führt; hier werden Urteile gesprochen über Verfehlungen, für die kein Gerichtshof zuständig ist, sondern allein das Gewissen. Und sie alle und unzählige andere begegnen einander in ihren Gedanken; sie spüren das Ringen und Warten, Vorwurf und Reue, selbst wenn sie nichts voneinander wissen. Die Nächte sind nicht deshalb so schwer zu tragen, weil sie einsam und leer sind; im Gegenteil, es ereignet sich allzu viel; eine Abrechnung mit dem eigenen Leben, mit der Welt spielt sich ab, die nur unerbittlicher wird, je öfter sie sich wiederholt.
Kranksein heißt Wachsein vor sich selbst, für sich selbst; und in diesem Wachsein bildet sich ein Wissen und Ahnen von Dingen, über die nachzusinnen der Tag nicht erlaubt. Krankheit ist der Anruf der Wahrheit an uns. Lernen wir sie so verstehen, so können wir ihr nicht mehr vorwerfen, daß sie unsere Zeit und unsere Kraft zerstört. Sie ist die Vorbereitung auf die große Rechenschaft, die wir doch einmal ablegen müssen, auch wenn wir wieder gesund werden. Kranksein: das heißt im Advent leben.
Es ist gewiß ein Trost für einen Kranken, wenn er in der Adventszeit teilhaben darf an den Vorbereitungen, der Freude seiner Mitmenschen, wenn auf sein Bett der Schein der ersten Kerze fällt und aus der Welt der Gesunden – es ist in der Tat eine ganz andere »Welt« – Lieder zu ihm herüberwehen. Aber das ist doch nicht das eigentliche. Er hat seinen Advent für sich.
Und dieser Advent des Kranken erfüllt vielleicht erst den Sinn dieser Festzeit; geht es doch darum, daß das Licht in uns geboren werden, daß die Wahrheit in unser Leben kommen soll, die Wahrheit ohne Einschränkung. In dem Maße, in dem es in uns hell wird, das Licht in uns eindringt, erkennen wir die Herrlichkeit. Denn »in Deinem Lichte schauen wir das Licht«. Diese Herrlichkeit hat etwas Schreckliches. Adventszeit beginnt, nachdem die Schrecken des Endes verkündet worden sind; sie endet mit der Herabkunft des Lichtes, das unser Richter sein wird; und das Licht kommt dann, wenn Finsternis die Erde völlig überdeckt. Es ist eine der Gnaden des Krankseins, daß wir diesem Ernste nicht ausweichen können. Wir sind an der Stelle, wo wir Advent begehen müssen, eine Zeit der Einkehr, der Buße, der Reinigung. Das Licht wird uns nur dann zur Freude, wenn wir ihm, soweit das Menschen gegeben ist, ähnlich geworden sind, wenn wir das Verborgene durchläutert haben, wenn wir durchlässig geworden sind für die Wahrheit. Das zu werden ist der Sinn der Krankheit. Aber wieviel steht seiner Erfüllung entgegen! Die Schmerzen machen gerade dunkel, undurchlässig, ungeduldig. Und doch ist all das Dunkle in uns, das sich dem Licht entgegenstellt, ein verborgener Teil unseres Selbst, der uns immer gehörte; wir würden seiner vielleicht nicht innegeworden sein, ohne krank zu sein; wir hätten so viel Widerstand, so viel Neigung zu Bitterkeit, Heftigkeit, zur Verneinung, zur Härte nicht in uns erwartet. Die Schmerzen graben tief; sie holen alles Dumpfe und Schlimme und Schwere hervor: Das bist Du, das in Dir Gefangene, Verheimlichte, das Du erkennen und überwinden sollst. Jetzt, da Du leidest, bist Du endlich auf dem Wege zu Dir, und Du bist auf dem Wege zu Dem, der in der Nacht der Welt geboren wurde. Wie aber sollst Du das »Fürchte Dich nicht« der Engel annehmen, wenn Du das Licht fürchten mußt, das auf das Unbewältigte Deiner Seele fällt? Ist es nicht eine große Gnade, daß Du wachen darfst auf dem Felde, daß Du nicht überrascht, nicht erschreckt wirst wie die Hirten; daß Du weißt: Das Licht wird den Himmel überfluten zu einer bestimmten Stunde, und Du bist auf dem Felde und wachst; Du bist vielleicht einer der ersten, der das Licht erkennen wird, der für die große Freude bereit ist und sie verkünden darf?
Daß die Wahrheit Dich angerufen hat, wahrhaftig zu werden gegen Dich und gegen die Welt – und das heißt wahrhaftig vor Gott –, das ist nun Dein Schicksal. Alles kommt darauf an, daß Du dem Lichte entgegenlebst, entgegenleidest. Was sich aber in Dir begeben soll, das soll sich in der Welt begeben, Du bist ihr nur voraus in diesen langen Nächten und nebelverhüllten Tagen. Weltgeschichte, das ist nichts als Advent; und was wir heute erfahren, ist eine schwere Krankheitsnacht der Welt, die nicht erkennen will, woran sie leidet, die sich dem Schlimmen, das die Schmerzen in ihr entdecken, nicht stellen will. Es ist ein Advent, der nicht als Advent vollzogen wird. Aber das Licht kommt unabwendbar, es wird Unvorbereitete überraschen mit der Wahrheit von sich selbst, vom Richter und von der Welt.
Du bist nur krank, weil Deine Seele gesund, Dein Gewissen stark werden sollen: Seele und Gewissen des Kranken brauchen wahrhaftig nicht krank zu sein. Etwas von dem Schrecklichen, das in der Welt sich ereignet, das unüberwindbar scheint, soll sich entschweren in Dir. Das Leiden wird zum Tun. Die Tat wird offenbar werden, wenn das Licht da ist. Dich umgeben, nach einem Wort der hl. Therese von Lisieux, »leuchtende Finsternisse«; am letzten Tage des Advent sollen die Finsternisse aufgezehrt sein vom Licht.
So will ein Morgen nach dem andern erkämpft werden; draußen im Garten haben sich die letzten Rosen, die so lange noch widerstehen wollten, dem Frost gebeugt; aber der Rhododendron hat schon Knospen angesetzt; es ist wunderbar, daß der in ihnen verschlossene Duft der Farben dauern wird unter Eis und Schnee, bis seine Stunde kommt. Herrliches ist schon geborgen für die Zeit jenseits der großen Nacht. Was der Christ auf Erden erfährt und allein erfahren kann, ist tragischer Friede, der aber echter Friede ist und doch keine Ruhe bedeutet. Er ist echt, weil er gegründet ist in Jesus Christus und die Erfüllung seiner Verheißung ist; eben darum ist dieser Friede nicht von der Welt, und was nicht von ihr ist, das wird von ihr angefochten, aber aufgehoben kann ihr dieser Friede nicht werden. Er ist dem Irdischen entgegen, aber er verneint es nicht; er ist ja sein Heil. In diesem tragischen Frieden liegt auch Dein Leiden, in ihm will es ausgetragen werden. Im Innersten der Seele ist schon Wahrheit, aber die Finsternisse wogen von außen herein: sie sollen in die Mitte gelangen, wo sie zu leuchten beginnen. Ist es nicht, als ob das Licht all das Düstere anziehe, um es zu durchdringen, aufzulösen? Es ist offenbar die Bestimmung des Kranken, zu einer solchen Kraft zu werden.
Ich habe ein Wort der Heiligen von Lisieux genannt, die wahrlich Erfahrung hatte im Leiden und Kranksein, im erhabenen Ernste ihrer Anmut ist sie nicht immer richtig verstanden worden; die Darstellung von Hans Urs von Balthasar, die den Untertitel »Geschichte einer Sendung« trägt, sieht die eigentliche Leistung der Heiligen darin, daß sie die Wahrheit zum »Grundwort« ihres Lebens machte. »Ihre Existenz sollte die Wahrheit ausdrücken«; sie wurde damit zu einer theologischen Existenz, im Sinne gelebter Theologie: »Die Wahrheit tun, in der Wahrheit wandeln, dieses johanneische Gebot ist der Ausgangspunkt ihrer Theologie.« »Ihr einziges Werk« ist somit ihr Leben; sie konnte sich, wie sie bekannte, »allein von der Wahrheit ernähren«. Zur Wahrheit stand sie im Verhältnis vollkommenen Gehorsams; Wahrheit war eben »der in jedem Augenblick mit ganzer Liebe erfaßte und ausgeführte Wille Gottes«. Von dieser Heiligen, die sich in der Welt in der Verbannung fühlte und von der Welt doch nicht lassen wollte bis zu deren Ende und Erlösung, also auch nicht um den Himmel, stammt das wunderbare Wort: »Das Leben ist nicht traurig, es ist im Gegenteil sehr heiter. Hätten Sie gesagt: Die Verbannung ist traurig, dann hätte ich Sie wohl begriffen. Mit Unrecht benennt man etwas, das endlich ist, mit dem Namen Leben. Nur für Himmlisches, für das, was keinen Tod kennt, sollte man diesen schönen Namen gebrauchen, und da wir solches schon hienieden genießen, ist das Leben nicht traurig, sondern heiter, sehr heiter.«
Dies ist der äußerste Trost: Was vergänglich ist, sich vergänglich, verfallen fühlt, verdient den Namen Leben gar nicht. Das Leben beginnt erst in der Sicherheit ewigen Lebens. Es ist ein Trost aus der Hingabe an das Licht, aus einem Leben, das unter aller Beschattung vor sich selber Wahrheit war. Gewiß ist das ein Werk der Gnade, aber es ist auch ein Werk des Wachseins; eines Willens, der zu einem einzigen entschlossen ist: »Jesu Wort behalten: das ist die einzige Bedingung unseres Glücks, der Beweis unserer Liebe zu ihm. Was ist denn aber dieses Wort? Mir scheint: das Wort Jesu ist Er selbst.«
Wenn es dazu kommt, in einem Leben, in einem Leiden, daß die göttliche Gestalt des Wortes – unendlich viel mehr als alle Worte des Herrn – auf diese Weise empfangen, behalten wird: daß sie rückhaltlos gelebt und gelitten wird, so ist die Adventszeit eines Leidens wirklich bestanden. Wir, die wir uns im Advent fühlen und wissen, daß die Gnade ihn herbeigeführt hat, können keinen anderen Wunsch haben, als daß das Licht alles Leiden umwandle und sich ihm ähnlich mache; daß es alle Einsamkeit erlöse in die Gemeinschaft mit ihm; daß das Licht aus uns hervorzubrechen bereit ist, wenn das Licht aufstrahlt am Himmel. 1950
Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 21984, S. 388-393.