Gerhard von Rad, Predigt über Jesaja 29,9-14 zum 1. Advent (1967): „Wer Ohren hat zu hören, dem muss das wie Donnerschläge dröhnen. Auch bei uns führt man Gott im Munde. Wer seine Morgenzeitung auf schlägt, der sieht: Der liebe Gott und die Kirche haben eine gute Presse. Das geht so weit, dass einer, der eine schöne Stelle im öffent­lichen Dienst anstrebt, gut tut, sich nicht allzu laut gegen Gott zu erklären (und dafür werden wir Christen wohl auch noch einmal zur Kasse gebeten!).“

Predigt über Jesaja 29,9-14 zum 1. Advent

Von Gerhard von Rad

Starret hin und werdet bestürzt, seid verblendet und werdet blind! Tau­melt, doch nicht vom starken Getränk! Denn der Herr hat über euch den Geist eines tiefen Schlafs ausgegossen und eure Augen — die Propheten — zugetan und eure Häupter — die Seher — hat er verhüllt. Darum sind euch alle Offenbarungen wie die Worte eines versiegelten Buches, das man einem gibt, der lesen kann und spricht: Lies doch das! Und er spricht: Ich kann nicht, denn es ist versiegelt, oder das man einem gibt, der nicht lesen kann, und spricht: Lies doch das! Und er spricht: Ich kann nicht lesen.
Und der Herr sprach: Weil dies Volk mir naht mit seinem Munde und mit seinen Lippen mich ehrt, aber ihr Herz ferne von mir ist, und sie mich fürchten nur nach Menschengeboten, die man sie lehrt, — darum will ich auch hinfort mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs wunderlichste und seltsamste, daß die Weisheit seiner Weisen vergehe und der Verstand seiner Klugen sich verbergen müsse.

Keinem könnte man es übelnehmen, wenn er beim ersten Anhören dieser schweren und dunkelsinnigen Prophetenworte nicht gar viel verstanden hat und wenn er sich vielleicht auch etwas erstaunt ge­fragt hat, ob wir davon angeleitet werden, Advent zu feiern. Und die Theologen werden vielleicht auch ein wenig die Köpfe geschüttelt und gedacht haben: da hat er aber einen schweren Text! Was ist das eigentlich: ein schwerer Text? Nun, das ist ein Schriftwort, dessen objektiven Wahrheitsgehalt wir nicht im geringsten in Zweifel zie­hen, der aber in seiner Begrifflichkeit und auch in seiner Sprach­gestalt so fremd ist, daß wir bezweifeln, ob wir ihn den heutigen Menschen weitergeben können. Und warum nicht? Weil die Gedan­ken der Menschen von den christlichen Dingen so mager und dürf­tig geworden sind. Aber in der Misere unserer Vorstellungen von Gott und der Welt und dem Menschen bedürfen wir doch gerade solcher „schwerer“ und aufs erste Hinsehen unbequemer Propheten- und Apostelworte, die unseren bescheidenen Glaubenshaushalt auch einmal überfordern. Es schadet uns gar nichts, wenn wir an diesem ungeheuren Prophetenwort erst einmal ratlos hinaufstarren wie zu einem Dreitausender-Gletscher hinauf und denken, daß da oben schlechterdings nichts mehr wächst und die Luft zu dünn ist zum Atmen. Ja, ihr habt schon richtig gehört: Nicht davon redet der Prophet, daß die Menschen leider so verblendet sind, sondern daß Gott sie in Wahn und Verblendung hinausstößt. Nicht davon, daß sie lei­der Gottes alle religiöse Schlafmützen sind, sondern daß Gott über sie einen Geist des Tiefschlafs ausgegossen und ihre Augen verhüllt hat. Seht, ich denke mir, daß auch für einen Jesaja — und er war der größte aller Propheten! — solche Erkenntnisse etwas Letztes und Erschreckendes waren. Da werden wir wohl bestenfalls nur par distance zuhören können. Aber was wäre es, wenn wir zunächst nur das einmal begreifen würden, daß es zwischen Gott und den Men­schen auch um solche Dinge geht, daß das sozusagen die Einsätze sind, um die da gespielt wird: um eine Betörung und Gottesblind­heit, vor der jede Bekundung Gottes zu einem versiegelten Buch wird. Man gibt es einem, der lesen kann, der sich, wie es im He­bräischen heißt, auf Bücher versteht. Aber der gibt es zurück: was willst du denn? Das Buch ist ja versiegelt! Nelly Sachs spricht in einem ihrer schönsten Gedichte von dem Land Israel, das „die den Horizont übersteigenden Heiligen durchmessen“ haben. Bei diesen „den Horizont übersteigenden Heiligen“ hat sie bestimmt auch an Jesaja gedacht. Und weiter: „Deine Berge, deine Büsche, aufgegan­gen im Flammenatem des furchtbar nahegerückten Geheimnisses.“ Habt ihr’s gehört: da ist von einem „furchtbar nahegerückten Ge­heimnis“ die Rede. So etwas meinen doch wohl auch die Christen, wenn sie vom Advent ihres Herrn reden.

Aber nun, da ja in unserem Schriftwort so viel von Irren und Be­törung die Rede ist, müssen wir tapfer einer großen Versuchung widerstehen, nämlich zu dem Thema überzugehen, das so viele Dich­ter heute bewegt: daß wir hinweggeflucht sind von jeder tragfähigen Wahrheit; daß wir Ausschau halten, bis uns die Augen schmerzen, um nur so viel Boden zu finden, auf dem wir wenigstens eine Weile stehen können. Aber wenn wir weggegangen sind, wird auch diese Spur verwischt und zur Wüste geworden sein. „Die Wüste wächst“, hat schon Nietzsche gesagt. „Die Welt ein Tor zu tausend Wüsten stumm und kalt.“ Was meint ihr, wie die Leute aufhorchen würden, wenn wir ihnen dieses Lied sängen, wie sie in die Kirchen geströmt kämen, wenn wir sie in diesen ihren innersten Gedanken bestätigen würden! Nichts gegen eine ehrliche Solidarität mit jenem „hochbe­trübten Heer“ der Verzweifelten. Da fehlt es oft weit! Aber wir wür­den dieses Prophetenwort total mißverstehen, wenn wir aus ihm auch nur etwas von der Schwermut jener von der Wahrheit Aus­geschlossenen heraushören wollten. Jesaja denkt ja gar nicht daran, sich zu diesen Irrenden, Taumelnden und Schlafenden zu rechnen. Er steht unter einer Wahrheit, die ihm sonnenklar geworden ist, und diese Wahrheit — es ist wohl eine grelle Wahrheit — war es gerade, die ihm so ungeheure Horizonte aufgerissen hat. Es fehlt uns wohl jede Möglichkeit, uns eine solche Prophetenpredigt konkret vorzu­stellen. Er redet zu solchen, die von Gott einmal mehr gewußt, die sich seiner Führung anvertraut haben; aber jetzt „führen sie ihn nur im Munde, aber ihr Herz ist ferne von ihm“. Und denen sagt er: O freilich, Gott ist schon bei euch gegenwärtig; er handelt auch an euch, — nämlich in eurem Nichtverstehen, in eurem Wahn, in eurem Tiefschlaf ist er am Werk! Und — und damit wird seine Predigt zur Adventspredigt! — paßt auf, es wird noch ganz anders kommen!

Wer Ohren hat zu hören, dem muß das wie Donnerschläge dröhnen. Auch bei uns führt man Gott im Munde. Wer seine Morgenzeitung auf schlägt, der sieht: Der liebe Gott und die Kirche haben eine gute Presse. Das geht so weit, daß einer, der eine schöne Stelle im öffent­lichen Dienst anstrebt, gut tut, sich nicht allzu laut gegen Gott zu erklären (und dafür werden wir Christen wohl auch noch einmal zur Kasse gebeten!). So ist heute scheinbar alles voller Wohl­wollen für Gott und die Kirche. Und was für eine Steineshärte der Herzen liegt dahinter! Aber nun werde ich mich hüten, auf bestimmte gei­stige Strömungen oder Parteien und schon gar nicht auf theologische Richtungen zu deuten. Wer hier vom Besitz der Wahrheit aus pole­misiert, sehe zu, daß sich die Rollen nicht schnell vertauschen! Unser Herr sagt von seinem letzten Advent: „Zwei werden auf dem Felde sein; der eine wird angenommen, der andere wird verlassen wer­den. Zwei werden an einem Mühlstein arbeiten; die eine wird an­genom­men, die andere wird verlassen werden.“ Je näher wir dem Herrn kommen, umso unheimlicher wird die Grenze zwischen Wahr­heit und Wahn quer durch unsere Mitte laufen. Das aber müssen wir unbedingt von Jesaja lernen und auch nach Hause nehmen: daß das, was Buber die Gottesfinsternis genannt hat, nicht eine betrübliche religiöse Randerscheinung ist, sondern daß dieses Unverstehen Got­tes, dieses Taumeln, dieser Tiefschlaf unmittelbar von Gott kommen, daß das zusammenhängt gerade mit seinem Näherkommen. Ist doch sogar Johannes der Täufer einmal von den Strudeln dieser Finster­nis erfaßt worden und erhielt die Botschaft: „Selig, der sich nicht an mir ärgert.“

Ist das nicht eine große Ahnungslosigkeit, wie sich die einen aus einer gewissen Gutwilligkeit glauben, für Gott, andere aus irgend­einer Enttäuschung heraus sich glauben gegen Gott entscheiden zu können? Als ob wir so oder so nicht Ton in seinen Händen wären! Goethe besingt in seiner Braut von Korinth ein junges Liebespaar, das sich in flammender Leidenschaft von dem neuen Christusglauben wieder löst (ich glaube, es ist eine der souveränsten Absagen, die das Christentum in seiner langen Geschichte erfahren hat). Heraus aus der Knechtschaft dieses düsteren Glaubens! Zurück in die Freiheit und in das Licht der alten Götter:

„Wenn der Funke sprüht, wenn die Asche glüht,
Eilen wir den alten Göttern zu.“

So denken sie sich das. Aber können sie das? Können sie sich so ent­scheiden? Steht ihnen dieser Rückweg wirklich offen? Wer einmal sich diesem Gott anvertraut hat, wer einmal dem Herrn Christus angehört hat, der bleibt gezeichnet. Zurück kann er nie mehr. Er hat eine Gren­ze überschritten; er hat einen Kreis betreten, aus dem er nie mehr entlassen wird, in dem etwas ganz Neues zwischen ihm und Gott begonnen hat. Jetzt kann er nur noch vorwärts, nie mehr rückwärts. Aber wohin vorwärts? Wenn es nicht der Weg ist auf den Advent des Herrn hin, könnte es auch der Weg eines Irrens, einer gottgewirkten Finsternis sein, die viel schrecklicher ist als die Blind­heit der echten Heiden, die ihren Göttern dienen, denn das Stigma dieser Blindheit ist das totale Unvermögen, noch irgendwelche Of­fenbarung zu vernehmen oder gar zu verstehen. Das Wort vom „Neuheidentum“ ist ganz töricht, denn die Blindheit derer, die um Gott einmal gewußt haben, ist etwas anderes als die Blindheit der Heiden. „Darum“ — sagt der Prophet — „wird euch diese ganze Offenbarung wie die Worte eines versiegelten Buches.“ Der Mann, so hörten wir, versteht sich auf Bücher, aber er wird sagen: „Wie kann ich das lesen; es ist ja versiegelt.“ Nicht wahr, das sind unheimliche Worte. Natürlich hat Jesaja nicht an die Bibel gedacht; die gab es damals noch nicht. Er scheint an ein Testament, an ein Vermächtnis zu denken, das man verschnürt und versiegelt hat. Aber wer bringt es denn heute fertig, bei diesen hintergründigen Worten von dem versiegelten Buch nicht an die Bibel zu denken, die ja auch ein Ver­mächtnis ist. Weiß Gott, Leute, die sich auf Bücher verstehen, haben wir mehr als genug, und sagen sie nicht fast alle: Das kann ich nicht lesen, nicht verstehen, es ist mir versiegelt. Ist da nicht auch etwas von dem „furchtbar nahegerückten Geheimnis“, von dem wir vor­hin sprachen?

Als Gott vor dem Auszug der Israeliten die Finsternis über ganz Ägypten sandte, da — so stellt es der Erzähler dar — lagerte die dichteste Finsternis drei Tage über dem Land. Keiner konnte den anderen sehen. Aber in den Wohnsitzen der Israeliten war heller Tag. Ich glaube, so einfach dürfen wir unseren Text, der ja auch von Finsternis und Wahrheit redet, nicht verstehen, so als sei nun in den Wohnsitzen der Christen heller Tag, draußen aber undurch­dring­liche Finsternis. Müssen wir nicht ehrlicherweise sagen, das Kommen Christi belädt uns mit neuen Finsternissen und Geheim­nissen, von denen wir vorher gar nichts gewußt haben. Das aber müßten wir heute schon gelernt haben: Es gibt im Blick auf die Wahrheit Gottes, im Blick auf das furchtbar nahegerückte Geheim­nis ein Drinnen und ein Draußen. Es gibt im Blick auf den kommen­den Herrn ein Irren und eine Betörung, in der Gott selbst am Werk ist. Ob sich dieses Drinnen und Draußen mit den Grenzen der sicht­baren Kirchlichkeit und Christlichkeit deckt, das wollen wir lieber offen lassen. Zur Überheblichkeit ist sowieso kein Anlaß, denn zwi­schen dem Drinnen und dem Draußen steht das Schwert Gottes. Wenn wir das vergäßen, daß es dieses von Gott selbst bestimmte Drinnen und Draußen gibt, daß sich am Advent Christi Wahrheit und Wahn scheiden, dann wäre es Zeit, das einsame Licht auf dem Adventskranz auszulöschen.

Aber darnach, ob wir unser kleines Lichtlein auslöschen, sind wir ja gar nicht mehr gefragt, denn nun hebt der Prophet zu seiner eigent­lichen Weissagung an. Ja, vielleicht sind diese Worte wirklich der seltsamste und vielleicht auch der aufregendste Adventstext in der Bibel: „Darum will ich mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs wunderlichste und seltsamste, daß die Weisheit seiner Weisen ver­gehe und der Verstand seiner Klugen sich verbergen müsse.“ Diese Stelle hat Paulus in seinem berühmten Kapitel von der göttlichen Torheit im 1. Korintherbrief aufgegriffen. Er hat dies Propheten­wort als Weissagung verstanden. Dieses seltsam wunderbare Han­deln Gottes ist in der Erscheinung Christi ans Ziel gekommen. Die göttliche Torheit zerbricht die Weisheit dieser Welt. Schwere, schwere Worte sind das! Auch Paulus hat sich geplagt, dieses Ge­heimnis Gottes recht zu umschreiben. Und wir — aber das ist nicht nur den Theologen gesagt — werden uns auch Mühe geben müssen, den Advent Christi recht zu verstehen, daß wir nicht eines Tages wie jener Mann dastehen, der sich zwar auf Bücher versteht, der aber sagt: Ich kann’s nicht lesen; es ist versiegelt. Warum sollen wir uns nicht, um aus den sterilen alten Geleisen herauszukommen, ein bißchen Mühe geben, die Bibel richtig zu verstehen.

Dazu wird man sich in ihre Gedanken, aber auch in ihre Sprache ein wenig einleben müssen. Trumpft nicht zu schnell auf mit dem bald schon langweiligen Wort von eurer ganz anderen modernen Sprache! Besser wäre es, ihr würdet klein vor der ungeheuren Konzentriertheit, in der da von Gott geredet wird. Versucht euch ein­zulesen in diesen Stil und einzuleben in dieses Format, von Gott zu reden. Und wenn es möglich ist, lernt diese Sprache der Propheten und Apostel lieben, — dann übersetzt sie sich euch ganz von selber. Natürlich stehen wir vor der fast eisigen Größe eines solchen Pro­phetenwortes zunächst wie religiöse Stümper da. Aber etwas von sei­ner Wahrheit hat es uns doch mitgeteilt und uns all dem üblichen Adventsfeiern gegenüber nachdenklich gemacht. Advent? Wer weiß denn nicht, was das ist? Man kennt ja die Bräuche, die Lieder, und die entsprechenden Gefühle sind dann bald auch zur Hand. „Wie soll ich dich empfangen?“ Diese Frage ist keine rhetorische Frage und sie sollte uns doch wohl ein wenig schwerer auf die Seele fallen. Der Prophet hat von dem „furchtbar nahegerückten Geheimnis“ gespro­chen in einer Klarheit, so schroff, daß wir fast zurückgeprallt sind und noch lange daran zu lernen haben. Aber um Klarheit geht es uns doch, um Klarheit um jeden Preis. Mir scheint manchmal, der schönste Satz in der Weihnachtsgeschichte stehe da, wo von den Hir­ten gesagt ist: „Und die Klarheit des Herrn umleuchtete sie.“ Ja, da stehen sie nun, — ein wenig abseits — und in den Falten ihrer groben Mäntel hängt noch die Nacht, aus der sie kommen, aber sie sind dem Licht zugekehrt und ihre Gesichter sind schon hell. Diese Klar­heit möge uns Gott erhalten, und sei es in einer so strengen Form, wie wir ihr heute begegnet sind! Er möge sie uns erhalten inmitten all des Wahns und Irrens und des Tiefschlafs, der uns umgibt, und der immer aufs Neue nach uns greifen möchte, daß wir nicht verloren gehen.

Gehalten im Universitätsgottesdienst Heidelberg in der Peterskirche am 27. November 1966 (1. Advent)

Quelle: Evangelische Theologie 27, Heft 6, 1967, S. 281-286.

Hier der Text als pdf.

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