Max Horkheimer über Psalm 91: „Den Gegensatz zwischen der Güte Gottes und dem Unrecht, der Niedertracht, dem Grauen in der Realität, hat moderne Theolo­gie zu mildern ver­sucht. Göttliche Hilfe, Erlösung sei nicht wörtlich, sondern sym­bolisch aufzufassen. Von der logischen Problematik des Begriffs Symbol in solchen Zusammenhängen ganz abgesehen, scheint es mir entscheidend, daß die Psalmen ein Bedürfnis, eine Hingabe an das Gute bezeugen, die selbst wahrlich nicht symbolisch ist.“

Psalm 91 (1968)

Von Max Horkheimer

»Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schat­ten des Allmächtigen bleibt,
der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott auf den ich hoffe.
Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädli­chen Pestilenz.
Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen,
vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt.
Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.
Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird.
Denn der Herr ist deine Zuversicht; der Höchste ist deine Zuflucht.
Es wird dir kein Übel begegnen und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.
Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest
Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf junge Lö­wen und Drachen.
›Er begehrt mein, so will ich ihm aushelfen; er kennt meinen Na­men, darum will ich ihn schützen.
Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.
Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.‹
«

Die historisch-philologische Bedeutung einzelner Stellen, Wendun­gen, Worte des 91. Psalms, von dem ich sprechen will, exakt zu be­stimmen, bin ich nicht berufen. Die Übersetzungen von Juden, Christen, von Theologen und anderen Wissenschaftlern gehen aus­einander. Ich zitiere nach dem Wortlaut, der mir angemessen scheint. Der Anfang steht auf dem Grab meiner Eltern: »Wer im Schirm des Höchsten wohnt, der ist im Schatten des Allmächtigen geborgen.« Die Mutter hat den Psalm geliebt; ihn von der Erinnerung an den Glanz ihrer Augen zu lösen, wenn sie ihn sprach, vermag ich auch heute nicht. Er war der Ausdruck ihrer Gewißheit einer göttlichen Heimat, angesichts der Not und des Schreckens in der Wirklichkeit. »Meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue«, heißt es im zweiten Vers. Vertrauen durch­herrschte ihr Leben, im vollen Bewußtsein des Unheils am europäi­schen Horizont.

Furcht lauert in jedem. Wer immer behauptet, er kenne sie nicht, ist seelisch beschädigt oder ein Tor. Wie andere negative Regungen kann sie überwunden werden, solchem Bemühen verdankt sich der Psalm. Der Unterschied von Angst und Furcht, in ontologischer Seinslehre groß aufgespielt, mag je nach der Definition zu empiri­schen Forschungen führen, beim Vertrauen auf göttliche Hilfe ist er irrelevant. Jüdisches Denken, wie es mir überkommen ist, hat we­der die zufällige mit einer existentiellen Angst, noch Glück und Un­glück im Diesseits mit einem Schicksal im Jenseits konfrontiert. Sehnsucht nach Geborgenheit vor täglichen Gefahren, vor Schande und Verderben, vor dem Nichts, ist dem Gedanken an Gott imma­nent. »Du brauchst dich nicht zu fürchten vor dem Schrecken der Nacht, noch vor dem Pfeil, der am Tage fliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern einhergeht, noch vor der Seuche, die am Mittag verwü­stet. Denn deine Zuversicht ist der Herr, den Höchsten hast du zu deiner Zuflucht gemacht.«

Der fortgeschrittene Jugendliche weiß von den psychisch-soziolo­gischen Mechanismen, aus denen das Vertrauen sich erklären läßt. Fernerhin ist ihm bekannt, wozu der Name Gottes immer wieder diente, zum Vorwand für das Unrecht, für Scheiterhaufen und Mas­senmord. »Deus vult, Gott will es!« war die Rechtfertigung der Blutgier bei Eroberungszügen des Mittelalters, wie bei den Schand­taten der Inquisition. Nur reflektiert er nicht darauf, daß seine ei­gene Liebe zur Wahrheit, seine Verachtung der Manipulation durch skrupellose Cliquen, letztlich eben jenem Glauben sich verdanken, den er denunziert. Noch durch den bitteren Hohn, mit dem er die Erfüllung leugnet, erkennt er unbewußt das Heimweh an, das vom Gedanken an das Paradies nicht lassen kann. Nur daß er die Ver­zweiflung durch kein trostreiches Bekenntnis aufhebt, sondern in den Antrieb seiner Rebellion umformt. Sein Gegensatz zu dem ans unbekannte Höchste sich verschreibenden ernsthaften Frommen ist jedoch lange nicht so kraß, wie der zum neuen Konformismus, der mit der heute bekanntlich abgeschlossenen Nachkriegszeit auch das Entsetzen ignoriert, das die Geschichte durchherrscht.

Wenn wahre Empörung gegen das Schlechte seit je die Idee des An­deren, des Richtigen mit einschloß, so umgekehrt das Vertrauen zum Ewigen den Gedanken des Untergangs. Wie schon gesagt, ge­hört zur Vorstellung des göttlichen Schutzes auf Erden die des Ver­derbens, vor dem er bewahrt, des stets wachen Neides, der Bosheit und des Verrats, des drohenden Unheils schlechthin. Der Ewige be­deutet die Zuflucht und wo es der Zuflucht bedarf, lauert Gefahr. Der Anstoß, den humane Gesinnung am Psalm sowie an vielen an­deren Stellen der Bibel mit Recht zu nehmen pflegt, ergibt sich aus dem Lob von Gottes Güte und Allmächtigkeit. Wer ihm vertraut und ihn begehrt, der wird befreit. »Er ruft mich an, und ich erhöre ihn«, verkündigt Gott am Ende, »ich bin bei ihm in der Not, reiße ihn heraus und bringe ihn zu Ehren«. Der Untergang der Unzäh­ligen gilt als »Vergeltung der Gottlosen«, wer auf den Ewigen sich verläßt, wird seiner Hilfe teilhaftig. Die abscheuliche Historie soll somit auch noch gerecht gewesen sein. Waren die Opfer der Pharao­nen und römischen Kaiser bis zu denen von Hitler, Stalin und Mao schlechter als ihre unmenschlichen Henker, war es Gnade, ihren Untergang mit anzuschauen, soll das Entsetzen, das jeden Tag und jede Stunde, offen und hinter Mauern, in der Welt sich abspielt, soll das grauenhafte Unrecht wohlverdiente Strafe heißen? Für den Widerspruch zum bon sens, zum Plausiblen, weiß ich als Erklärung nur die Ohnmacht, mit dem furchtbaren Bestehenden, dem Irrsinn der Realität anders sich abzufinden als durch die Flucht in das auf eigene Kompetenz verzichtende Vertrauen zu einem unbedingten Anderen, zu einem Guten trotz alledem.

Die Juden, die durch Jahrtausende den Psalm gesungen haben, wußten, daß allzuoft sie selbst zu jenen zählten, die den Schwertern der Barbaren, den Folterkammern und den Scheiterhaufen preisge­geben waren. Eher jedoch haben sie die eigenen Toten, ihr eigenes Volk, die Individuen wie das Kollektiv, zu den mit Recht Bestraften gerechnet, als auf die Liebe und den Überschwang, das Lob des Gottes zu verzichten, der zuletzt sie selbst und die Gerechten aller Völker retten wird. Erleichtert war die Unbeirrbarkeit, so scheint mir, durch den Umstand, daß im Judentum der Lehre von der Ein­zelseele nicht schon die Bedeutung zukommt, wie im Christentum. Wenn es im Psalm heißt, »den Höchsten machst du zu deiner Zu­flucht. Seine Engel entbietet er für dich, dich zu behüten auf all deinen Wegen«, so betrifft der Schutz das Ganze wie den Einzelnen. Als das Ganze aber galt das durch die Ausübung der göttlichen Ge­bote selbst in der Zerstreuung noch verbundene Volk, nicht im je­weils gegenwärtigen oder einem schon vergangenen historischen Moment, sondern als das Eine bis ans Ende der Zeiten. Die Idee des Fortlebens meint zuförderst nicht das Jenseits, sondern das vom neuzeitlichen Nationalismus kraß verzerrte Verbundensein mit der Nation, das in der Bibel seine Vorgeschichte hat. Indem der Einzelne gemäß der Thora sein Leben einrichtet, im Gehorsam gegen das Gesetz Tage, Monate und Jahre verbringt, wird er trotz individueller Differenzen mit den Andern so sehr eins, daß nach dem eigenen Tod er in den Seinen weiterexistiert, in ihrer Aus­übung der Tradition, der Liebe zur Familie und zum Stamm, in der Erwartung, daß es einmal in der Welt noch gut wird. Dafür zu zeu­gen und einzustehen hat der Begriff der Zugehörigkeit zum auser­wählten Volk, die Gesinnung seiner Märtyrer bestimmt. Der Ge­stalt Jesu im Christentum nicht unähnlich, stand das Judentum als Ganzes für die Erlösung ein. Seine Lehre vom messianischen Reich mit der des Evangeliums einer der Gesellschaft gegenüber autonomen Einzelseele zu vereinigen, so daß die Bestimmung des Sub­jekts zugleich die Verwirklichung des Rechten auf der Erde meint, scheint mir der Theologie, ja der Kultur des Westens heute aufge­geben.

Wie immer die Verse historisch zu interpretieren seien, für viele, die sie gesungen haben, verkündeten sie, entgegen der Ratio, einen Sinn der Geschichte, der dem Bestehenden zuwiderläuft und doch von Wahn und Unwahrheit so weit entfernt ist, wie nur je die Wissen­schaft. »Klassische Beispiele der echten Erhabenheit« nennt Hegel[1] die Psalmen, »allen Zeiten als ein Muster hingestellt, in welchem das, was der Mensch in seiner religiösen Vorstellung von Gott vor sich hat, glänzend, mit kräftigster Erhebung der Seele ausgedrückt ist. Nichts in der Welt darf auf Selbständigkeit Anspruch machen, denn Alles ist und besteht nur durch Gottes Macht und ist nur da, um zum Preise dieser Macht zu dienen.« Nach Hegels Worten ist »die Kraft der Erhebung des Gemüts zu bewundern, die alles fallen läßt, um die alleinige Macht Gottes zu verkündigen«. Dem, was in bürgerlicher Ära einmal Vernunft geheißen hatte, ist solches Ver­trauen nicht ferner als Moral und Menschlichkeit. Noch Immanuel Kant hat den Begriff der Pflicht, moralische Gebote als Momente praktischer Vernunft betrachtet; sie seien allen Menschen eingebo­ren. Wer die Forderung, den Nächsten nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln, aus der Kant, da sie dem Men­schen innewohnte, die Idee des autonomen Einzelnen wie des ge­rechten Gottes postuliert, als notwendige und wahre gelten läßt, kann das im Psalm bekundete Vertrauen nicht als Willkür abtun. Der heute tief bedrohten Zivilisation war solche unbeirrbare Ge­wißheit einst nicht weniger zu eigen als der Aufklärung des acht­zehnten Jahrhunderts die Anerkennung jenes ohne Gottesglauben höchst problematischen Imperativs. Anders als die der Ratio zuge­schriebenen kategorischen Prinzipienweckt der Gedanke einer Zu­flucht, wie er im Psalm sich ausspricht, nicht bloß Gehorsam, son­dern die Liebe zu dem, was anders ist als die Welt und dem Leben und dem Leiden in ihr einen Sinn verleiht. Trotz allem. »Mit seinen Fittichen deckt er dich, unter seinen Flügeln darfst du dich bergen, Schild und Mauer ist seine Treue.«

Den krassen Gegensatz der biblischen Lehre, christlicher wie jüdi­scher, den Gegensatz zwischen der Güte Gottes und dem Unrecht, der Niedertracht, dem Grauen in der Realität, hat moderne Theolo­gie, man denke an den unvergeßlichen Paul Tillich, zu mildern ver­sucht. Göttliche Hilfe, Erlösung sei nicht wörtlich, sondern sym­bolisch aufzufassen. Von der logischen Problematik des Begriffs Symbol in solchen Zusammenhängen ganz abgesehen, scheint es mir entscheidend, daß die Psalmen ein Bedürfnis, eine Hingabe an das Gute bezeugen, die selbst wahrlich nicht symbolisch ist, und eben sie, die in den Texten gestaltet ist, hat seit je an der Entfaltung des kindlichen Erlebens mitgewirkt. Der Erwachsene aber, der die eigene Kindheit, wenn auch als überwundene, nicht in sich bewahrt, ist kein wahrer Erwachsener. Er hat resigniert. Anders könnte er im Gedanken nicht unbedingt verharren, daß es bei der Welt des Schreckens sein Bewenden habe. Eher flüchtet er zur Uto­pie des Psalms, nach der das eigene Urteil über Recht und Unrecht nicht das letzte ist. Dort spricht der Herr: »Denn nach mir begehrt er, so befreie ich ihn.« Nach dem, was in der Gegenwart geschehen ist, die Worte »Ich befreie ihn« zu sagen, ist nur dann kein schlechter Widerspruch, wenn, wie die Juden glauben, am Ende der Messias ersteht und die Gerechten aller Völker nach Zion führt, wenn der Einzelne mit solcher Verheißung sich eins fühlt, ihr zu dienen ver­sucht und ihr vertraut. Wenn ein Vater sein Kind in dem Gedanken erzieht und eine Mutter in der Erwartung es ansieht, es werde jenem unendlichen Glück dienen, ja vielleicht es erleben dürfen, auch wenn sie selbst einmal gestorben sind, erfährt das Kind die Liebe und vermag sie wieder auszustrahlen, die im emphatischen Sinn den Menschen zum Menschen macht.

Quelle: Karl Heinz Schröter (Hrsg.), Mein Psalm, Berlin: Lettner, 1968, 86-94, wiederabgedruckt in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften 7, Frankfurt/M.: S. Fischer, 1989, 209-212.


[1] Vorlesungen über die Ästhetik, Erster Band, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 12, Stuttgart: Frommanns, 1927, S. 499.

Hier der Text als pdf.

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