Von Gerhard von Rad
Vorbemerkungen
Die alttestamentlichen Erzählungen von Mose sind zum allergeringsten Teil Berichte seiner Zeitgenossen, sondern sie entstammen der Feder späterer Generationen, in deren Geist und Glauben sich das Bild dieses großen Mannes gespiegelt hat. Wir haben also von ihm keine Biographie, nicht einmal eine „exakte Geschichtsschreibung“ kündet von ihm. Aber weil die von ihm der Gemeinde vermittelte Gottesoffenbarung untrennbar mit seinem Namen verknüpft ist und weil diese Gottesoffenbarung für die spätesten Zeiten maßgebend geblieben ist, darum hat man sich auch zu allen Zeiten mit Mose beschäftigt, und die alten Überlieferungen, die von ihm meldeten, sorglich gepflegt und weitergegeben. Nun kann schon ein oberflächliches Lesen feststellen, daß die Gestalt von Mose und seinem Amt nicht durchweg einheitlich dargestellt ist; und das ist ja auch gar nicht verwunderlich, denn die Bilder, die sich die Späteren von Mose gemacht haben, mußten sich je nach dem Geist und der Art der jeweiligen Zeit voneinander unterscheiden. Andere Zeiten haben anderes an ihm und seiner Botschaft hervorgehoben. Die einen haben das Strenge und Furchtbare festgehalten, den anderen hat sich sein verborgenes Leiden und sein stellvertretender Dienst eingeprägt; und doch muß man bei den einen wie bei den anderen annehmen, daß sie etwas Wahres und Richtiges an Mose gesehen haben.
Allerdings damit müssen wir auf alle Fälle rechnen, daß die Späteren auch Fragen und Nöte und Lösungen, die sie in der Nachfolge Moses im Glauben erfahren haben, mit in das Bild des Mose eingewoben haben. Die Überlieferungen von Mose sind ja nicht in Archiven durch die Jahrhunderte bewahrt worden, sondern sie sind lebendig von Mund zu Mund und von Seele zu Seele durch die Zeiten gegangen. Und ein Bild, das so von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurde, das konnte dabei nicht unverändert bleiben; es ist von der jeweiligen Glaubenserfahrung der Gemeinde aus gezeichnet und dabei mag es auch völliger geworden sein, eben weil es zugleich von den Erkenntnissen und Erlebnissen her bestimmt ist, die die Späteren an Mose gemacht haben. So kommt es, daß in den Büchern des Alten Testaments [4] eine so riesenhafte Gestalt von Mose ersteht, die in ihren Umrissen alles beim Menschen Mögliche hinter sich läßt und die vor allem seelisch ins Kolossalische ausgeweitet ist. Daß aber trotzdem überall ein Bild von einer ergreifenden menschlichen Wahrheit und Echtheit gezeichnet ist, das ist ein großes Geheimnis.
Indessen das Wichtigste ist damit noch gar nicht genannt. Keine der Erzählungen, die irgend von Mose handeln, sind um seinetwillen abgefaßt. Bei aller Anteilnahme an diesem Mann, der ein Empfänger göttlicher Offenbarung war, — Mose selbst, als Mensch, ist doch nicht die Hauptperson all dieser Geschichten, sondern Gott. Gottes Worte und Gottes Taten, wie sie sich in der ältesten Geschichte ereignet hatten, sollten dargestellt werden. Man kann sie alle daraufhin prüfen, die Geschichten von Gottes Heilstaten, von seiner tragenden Geduld, aber auch die von seinen Gerichten und Strafen, sie stellen nicht einen Menschen in den Mittelpunkt — und wäre es der größte! —, sondern sie wollen Gott die Ehre geben, seinem Gericht und seinem Heil, das er hat offenbar werden lassen. Mit anderen Worten, auch die Geschichten von Mose sind Zeugnisse von Gott. Die Menschen sind in ihnen nicht verherrlicht, sondern sie sind realistisch in ihrer ganzen Menschlichkeit belassen. Und daß bei denen, über denen der lebendige Gott offenbar geworden ist, tiefe Schatten sichtbar werden, daß da das Böse unerbittlich aufgedeckt werden mußte, das sollte uns nicht wundern und dürfte uns noch weniger dazu verführen, auf diese Menschen zu deuten.
Weil nun Mose als Mensch in diesen Erzählungen gar nicht die Hauptperson ist, so dürfen wir ihn auch hier nicht dazu machen. Wir wollen in einem Abschnitt von dem „Mann Mose“ handeln, dann aber einige Grundzüge der Offenbarung nachzeichnen, die an seinen Namen geknüpft ist[1].
Der Mann Mose
Einige Male wird der, von dem wir hier handeln, ganz einfach der „Mann Mose“ genannt[2]. Merkwürdig schlicht ist doch diese Bezeichnung für den, der fast alle erdenklichen geistlichen und politischen Würden auf seinem Haupt vereinigt hat! War er nicht Priester und Führer und Prophet und Gesetzgeber und Feldherr seines Volkes? Aber es will scheinen, als habe jene schlichte Bezeichnung neben den großen Amtstiteln auch ihre Bedeutung und [5] ihr eigenes Gewicht. Mose war ein Mann, ein Mensch; und das immer im Gedächtnis zu behalten, ist bei einem, den der Ruf Gottes so weit aus dem allgemein menschlichen Bereich herausgehoben hat, bei einem, der so weit hinaus an die Grenze alles Menschlichen gestellt ward, gewiß sehr wichtig. Er war kein Heiliger, kein Asket, der sich allen menschlicher Empfindungen entäußert hat; er war auch nicht das, was man unter einem Heros zu verstehen pflegt, und erst recht war er kein Halbgott. Die Überlieferung von ihm ist nicht zum Mythus geworden und hat ihn nicht in die göttliche Sphäre versetzt. Man kann die fast schlafwandlerische Sicherheit nicht genug bewundern, in der bei aller Größe der Gestalt des Mose doch die Grenze zwischen ihm und Gott messerscharf gezogen ist. Er hatte nicht göttliche Art und hat deshalb weder bei Zeitgenossen noch bei den Nachfahren göttliche Verehrung genossen; er war der „Mann Mose“. Ja, es hat fast den Anschein, als habe die Überlieferung geradezu mit Beflissenheit die menschlichen Züge im Bild dieses großen Mannes unterstrichen. Freilich, was sie von ihm meldet, es ist alles groß an ihm, sowohl seine Hingabe wie sein Zorn, seine Liebe, sein Opfer und die Anwandlungen tiefer Verzweiflung. Kleines und Kleinliches ist ihm durchaus fremd gewesen. Ein Zug seines Wesens ist besonders charakteristisch: Immer wieder ist ein wilder Jähzorn in ihm aufgelodert. So hat er den Ägypter erschlagen, der seinen Volksgenossen mißhandelt hat. Es ist freilich bedeutsam, daß dieser ungezügelte Ausbruch seiner Leidenschaft nicht der Auftakt zur Befreiungstat geworden ist; das war vielmehr der Gewaltakt eines Mannes, der noch nicht von Gott gerufen war. So konnte er es nicht fortführen; so war es kein guter menschlicher Anfang; Mose hat daraufhin fliehen müssen. Aber auch später, als Gott ihn mit seinem Amt betraut hatte, ist dieser Jähzorn immer wieder aufgestiegen. Als Mose vom Berg herniederstieg und den Frevel des goldenen Kalbes wahrnahm, da hat er die Tafeln Gottes im Zorn zur Erde geworfen und zertrümmert. Einem so götzendienerischen Volk wollte er die Offenbarung der göttlichen Gebote nicht bringen. Aber er hat es später doch gemußt und hat es auch getan. Einmal freilich — so wird 4. Mose 11,10ff. berichtet — ist es zwischen ihm und seinem Gott zu einer geradezu lästerlichen Szene gekommen. Mose ist am Ende seiner Kraft, der Riese bricht unter der Last seines Amtes zusammen und hadert mit Gott, ja, er wirft ihm den Sack vor die Füße:
Warum bekümmerst du deinen Knecht, … daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst. Habe ich nun all das Volk empfangen oder geboren, daß du zu mir sagen magst: trag es in deinen Armen wie eine Amme ein Kind trägt… ich vermag alles dies Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und willst du also mit mir tun, so erwürge mich lieber…, daß ich nicht mein Unglück so sehen müsse. (4. Mose 11,11-15.) [6]
Und Gott hat Erbarmen mit der Verzweiflung seines Dieners. Siebzig Älteste sollen ans Zelt herantreten, die werden Mose in der Führung des Volkes helfen. Aber dazu bedürfen auch sie des göttlichen Geistes; deshalb nimmt Gott einen Teil von dem Geiste des Mose und verteilt ihn auf die siebzig Männer. Da geschieht etwas Unerwartetes: Kaum war der Geist des Mose über die Männer gekommen, da verfielen sie in eine Verzückung und Ekstase, die gar nicht enden wollte (4. Mose 11,24f.). So riesenhaft war also der Geistbesitz des Mose gewesen, daß ein ganz kleiner Bruchteil davon andere Menschen völlig aus ihrem seelischen Gleichgewicht werfen konnte. Durch diese kleine Zutat aus dem Geiste des Mose wurde ihr ganzes Inneres Überlastet. Wie groß muß Mose gewesen sein, daß er diesen ganzen Geist- besitz ruhig und ohne von ihm aus allen Ordnungen geworfen zu werden, tragen konnte!
Hier sehen wir nun auch ganz deutlich, was Mose eigentlich war. Er war der „Mann Mose“, weiter nichts; aber Gott hatte ihn berufen, sich ihm offenbart und ihn sonderlich mit Gottesgeist begabt. So ist er der „Mann Gottes“ geworden. „Mann Gottes“ (5. Mose 33,1; Jos. 14,6), oder noch deutlicher, „Knecht Gottes“ (Jos. 1,1f.), das heißt, daß er sich selber nicht mehr gehörte. Wer so hieß, der konnte nicht mehr in eigener Vollmacht seine Worte reden und seine Wege gehen, ein anderer war’s, der ihn gürtete. Und so hat ihn auch sein Volk verstanden. Es hat natürlich auch gewußt, daß Mose seines Fleisches und Blutes war; und doch hat es sich nicht in ihm verherrlicht, es hat nicht, als es das Bild Moses gezeichnet hat (wie das doch so nahegelegen hätte!), sich selbst und sein Wesen in Mose verklärt. Er war wohl seines Blutes, aber Gott hat ihm von seinem Heiligen Geist gegeben, er hat ihn erleuchtet, und kraft dieser Erleuchtung, dieser Geistgabe war er auf eine einmalige Weise auf die Seite Gottes gezogen, dadurch war er dem Volk doch auch weit entrückt.
Wundern wir uns noch darüber, daß dieser Mann nicht populär sein konnte? Mit einer erschütternden Beharrlichkeit wird das Werk und der Dienst dieses Mannes von Seiten des Volkes mit Murren, Widerspenstigkeit, ja offener Auflehnung erwidert[3]. Einmal haben sie in Kleinmut alles Vertrauen weggeworfen und nach Ägypten zurückzukehren begehrt („gab es in Ägypten keine Gräber?“, 2. Mose 14,11; 4. Mose 14,4). Dann wieder haben sie — wie in der Korah-Geschichte — die Einzigartigkeit seiner Berufung und seines Amtes bestritten und sich selbst die gleichen Rechte und die gleiche Unmittelbarkeit vor Gott angemaßt (4. Mose 16). Es ist aber bedeutsam, daß Mose da, wo das Recht seines Amtes angetastet war, sich nicht selbst dafür verkämpft hat, sondern Gott seine Rechtfertigung anheimgegeben hat (4. Mose 12.16). [7] Er hat auch seinen Geistbesitz nicht um seine Vorrangstellung besorgt festhalten wollen. Als die siebzig Ältesten in begeisterte Erregung gefallen waren, und Josua in ihn drang, diesem Gebaren zu wehren, da hat Mose gesagt: „Bist du der Eiferer für mich? Wollte Gott, daß all das Volk weissagt, und der Herr seinen Geist über sie gäbe!“ (4. Mose 11,29).
Aber die Pfingstgabe des Heiligen Geistes war zu Moses Zeiten noch ferne, und deshalb mußte Mose in einer unausdenkbaren Einsamkeit zwischen Gott und den Menschen stehen; einsam war er im Erfolg und einsam war er in den Zeiten, in denen man ihn wissen ließ, daß er den Menschen eine Last sei. Aber wie konnte das anders sein bei einem Manne, dem das Ungeheure aufgetragen war, lebenslang an dem äußersten Rand des Abgrundes zwischen den Menschen und dem lebendigen Gott zu stehen, ja dessen Amt es war, diese gefährliche Grenze immer wieder zu überschreiten. So zeigt ihn uns die Sinai-Geschichte in einem unvergeßlichen Bild, den Berg hinansteigend und in die Wolke eingehend, immer näher Gott entgegengehend:
Da nun Mose auf den Berg kam, bedeckte eine Wolke den Berg und die Herrlichkeit des Herrn wohnte auf dem Berge Sinai… Und das Ansehen der Herrlichkeit des Herrn war wie ein verzehrendes Feuer auf der Spitze des Berges vor den Kindern Israel. Und Mose ging mitten in die Wolke und stieg auf den Berg, und blieb auf dem Berg 40 Tage und 40 Nächte. (2. Mose 24,15-18.)
Und als er dann wieder herniedergestiegen ist zu den Menschen drunten, da war er bis in sein Äußeres hinein ein Anderer geworden. Von dem Lichtglanz der Herrlichkeit Gottes, dem er so lange ausgesetzt war, blieb ein Leuchten auf seinem Angesicht liegen, und jener Abglanz des göttlichen Lichtes, jener Widerschein, war so durchdringend, daß die Israeliten ihn nicht aushalten konnten; sie wichen vor ihm zurück und flohen. Daran erkannte Mose erst, daß ein überirdischer Glanz auf seinem Angesichte lag. Er hatte es nicht gewußt; so sehr war er schon in die Lichtwelt Gottes hinübergenommen und dem unheiligen Bereich der Menschen entrückt. Erst als er eine Decke auf sein Angesicht gelegt hatte, konnten die Menschen ihm wieder nahen (2. Mose 34,29-35)[4].
Noch eine Geschichte sei angeführt, die uns die Einsamkeit dieses Mittlerdienstes im Bilde zeigt: Außerhalb des Lagers schlug Mose jedesmal das Zelt auf. Dieses Zelt war die Stelle, an der sich Gott im Wort offenbaren wollte, also der heilige und gefährliche Ort, an dem sich die Begegnung Gottes [8] mit den Menschen ereignete, allerdings nicht eine Begegnung, zu der jeder beliebige geschickt war. Allein Mose war dazu ersehen, ihr standzuhalten und die Botschaft Gottes dann dem Volk zu überbringen. Wenn sich dann Mose zu diesem schweren Weg anschickte und durch das Lager zu dem Zelt hinaus ging, da traten alle unter die Tür ihrer Zelte. Geleiten konnte ihn niemand, aber ihre Blicke gingen ihm nach — er trug ja ihrer aller Anliegen hinaus vor Gott! —; und wenn er dann draußen war, und die Wolke auf das Zelt herniederfuhr, dann sind sie alle im Lager auf ihr Angesicht anbetend niedergefallen. Mit Mose aber redete dann Gott — das vermerkt der Erzähler als ein großes Wunder — „wie einer mit seinem Freunde redet“ (2. Mose 33,7-11).
Je länger sich die Gemeinde des Alten Bundes mit Mose beschäftigte, um so mehr wurde sie auf das Leiden aufmerksam, das diesem Gottesmann auferlegt war; und wo sie sich Mose und seinen Dienst vergegenwärtigte, da wurden die leidentlichen Züge in seinem Bilde mehr und mehr unterstrichen. Das ist natürlich eine Betrachtungsweise, die erst das Ergebnis eines sehr langen Nachdenkens sein konnte: Was muß dieser Mann in einem solchen Amt, einsam zwischen Mensch und Gott stehend, gelitten haben! Daß damit nicht ein völlig neuer Zug dem Bilde des Mose zugefügt wurde, sieht man daran, daß ja auch schon die alten Berichte von einem Leiden des Mose zu reden wußten. Es ist also wohl nur mehr ein gesteigertes Interesse, das die Späteren gerade auf diese Seite seines Amtes sehen und sie besonders herausarbeiten ließ. Im 5. Buch Mose, das wohl nicht aus der alten Zeit Israels stammt, sehen wir Mose den großen Zorn Gottes auffangen; er liegt 40 Tage und 40 Nächte vor Gott, betet und fastet um der Sünde des Volkes willen, und als er von der Sünde des goldenen Kalbes erfuhr, da hat er abermals 40 Tage vor Gott gebetet und weder Brot gegessen noch Wasser getrunken. Hier ist Mose vor allem als der große Fürbitter gesehen, ja mehr noch: er leidet stellvertretend für das Volk[5]. Das wird besonders erkennbar in der Deutung, die hier dem Tod des Mose zuteil wird. Mose hätte auch gerne mit seinem Volk das Land der Verheißung betreten; ja, er hat Gott darum gebeten, auch ihm diese Gnade zu erweisen:
„Herr, Herr, du hast angehoben zu zeigen deinem Knecht deine Herrlichkeit, und deine starke Hand … Laß mich hinübergehen und sehen dieses gute Land, jenseits des Jordans, dies gute Gebirge und den Libanon!
Aber schroff schneidet ihm Gott das Wort ab; er muß hier sterben, einen Sühnetod für den Ungehorsam des Volkes: [9]
Aber der Herr war erzürnt ans mich um euretwillen und erhörte mich nicht, sondern sprach zu mir, laß es genug sein, rede mir davon nicht mehr!“ (5. Mose 3,23-26.)
Und so ist er gestorben, so einsam, wie er sein ganzes Leben gewesen war (5. Mose 34). Über seinem Tod liegt ein Geheimnis, das niemand lüften kann. „Seine Augen waren nicht dunkel geworden und seine Kraft war nicht verfallen.“ Damit deutet der Bericht selbst an, daß dieses Sterben ein anderes war als sonst bei alten Menschen. Daß er, der Hirte und Führer seines Volkes, das verheißene Land nicht betreten durfte, darin möchten wir ein Geschick von unausdenkbarer Härte sehen. Aber die Erzählung von dem Tod des Mose ergeht sich nicht in Klagen oder gar Anklagen. Gewiß, es ist ein Geist erhabener Trauer über diesen Worten ausgebreitet, aber sie atmen doch zugleich einen wunderbaren Frieden und ein Versöhntsein. Denn Gott war bei dem Sterbenden! Nicht unsicher, wie in der Hoffnung, sondern klaren Auges und klaren Geistes hat er die Verheißung erfüllt gesehen: Gott zeigte ihm das ganze Land; nach Westen schweifte der Blick über das ganze Land Juda bis an das Meer; gegen Norden sah er die Berge Galiläas, vor sich sah er die Palmenstadt Jericho und zur Linken dehnte sich das judäische Südland, wo die Patriarchen gezeltet hatten. Der Bericht sagt uns nicht, was Mose in den letzten Augenblicken seines Lebens empfunden hat; alles Persönliche ist zurückgestellt gegenüber der einen Tatsache, daß die ganze göttliche Erfüllung vor den Augen des Sterbenden ausgebreitet lag. — Und dann hat Gott seinen treuen Diener selbst begraben; niemand war zugegen, und deshalb hat auch niemand die Stelle seines Grabes erfahren. So ist auch seinem Volk eine große Versuchung erspart geblieben. Es konnte ihm an seinem Grab keine göttliche Verehrung darbringen, denn zum Heroenkultus bedurfte es nach der Anschauung der Alten der sakralen Weihe des Grabes und der geheimnisvollen Anwesenheit des Totengeistes.
Blicken wir zurück auf das Bild, das die Gemeinde von Mose gezeichnet hat, so ist ja das Schillern dieses Bildes nach der Seite des leidenden und stellvertretend sterbenden Gottesknechtes hin merkwürdig genug. Und wenn es nun wirklich so wäre, daß die Späteren damit das Bild des geschichtlichen Mose nicht zutreffend dargestellt haben? Wenn es wirklich so wäre, daß sie weniger die geschichtliche Wirklichkeit als ein Wunschbild ihres Glaubens gezeichnet haben? Nun, wir würden daran erkennen, daß man in der Zeit der Gottesferne und mancher Trübsal unablässig seiner gedacht, daß man sich ihn und sein Mittleramt vergegenwärtigt hat, nämlich daß es gerade so eine Notwendigkeit für den Bestand der Gemeinde sei. Wir würden dann sagen müssen, daß die Gemeinde des Alten Bundes damit, daß sie dieses Bild von dem leidenden und sühnenden Mose entworfen hat, eigentlich eine heimliche [10] Hoffnung zum Ausdruck gebracht hat. Ist es uns nicht, wenn wir diese Texte des 5. Buches lesen, als sprächen sie: „Einen solchen Hohenpriester sollten (ja, sollten!) wir haben“ (Hebr. 7,26).
Die Berufung
Das Bild von Mose vor seiner Berufung weist keine ungewöhnlichen Züge auf. Die Erzähler stellen ihn nicht als einen besonders frommen Menschen dar; er war einfach ein Hirte, wie unzählige andere auch, nur eben durch seine Flucht in das midianitische Land von den Seinen getrennt. Merkwürdig freilich hat sich dieser unbesonnene Totschlag in den Vorsehungsplan Gottes eingefügt, denn hier in seinem midianitischen Asyl erreicht ihn der Ruf Gottes. Ahnungslos hatte er einmal seine Herde nach dem Berg Horeb zu getrieben, gerade an die Stätte, die sich Gott als Ort seiner großen Offenbarung ausersehen hatte, und da ist ihm Gott im Feuer des brennenden Dornbusches erschienen. Manche haben geglaubt, die Erscheinung des brennenden Dornbusches selbst bedürfe einer Deutung; das ist aber nicht richtig[6]. Der Erzähler hat dahinter schwerlich besonders tiefsinnige Gedanken verborgen. So war es aus den ältesten Zeiten überliefert und so hatte es eben damals Gott gefallen, im Sichtbaren zu erscheinen. Viel wichtiger ist unserem Erzähler das sehr merkwürdige Zwiegespräch, das sich nun entspann:
Und der Herr sprach: „Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten, und habe ihr Geschrei gehört… und bin herniedergefahren, daß ich sie errette von der Ägypter Hand und sie ausführe aus diesem Land in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt… so gehe nun hin, ich will dich zu Pharao senden, daß du mein Volk, die Kinder Israel aus Ägypten führest.“ Mose sprach zu Gott: „Wer bin ich, daß ich zu Pharao gehe und führe die Kinder Israel aus Ägypten?“ Er sprach: „Ich will mit dir sein …“ Mose sprach zu Gott: „Siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mir sagen werden, wie heißt sein Name? was soll ich ihnen sagen?“ Gott sprach zu Mose: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ (2. Mose 3,7-14.)
Um dieses letzte rätselhafte Wort im Munde Gottes zu verstehen, müssen wir erst den Sinn der Frage begreifen, die Mose im Namen seiner Leute an Gott richtet. Was meinen sie damit, wenn sie nach dem Namen Gottes fragen? Das ist klar, sie wollen nicht einfach den Namen als Wort, sondern [11] mit dem Namen etwas von dem Wesen und der Art Gottes erfahren. Ein namenloser Gott ist soviel wie ein unbekannter Gott. Den Alten war es selbstverständlich, daß der Mensch von allen Seiten von überpersönlichen Mächten umgeben war, die sich seiner Verfügungsgewalt entzogen. Was aber stand hinter diesen Mächten, das war die Frage. Erfuhr der Mensch in ihnen eine feindliche Gottheit oder eine, die ihm wohlwollte? Dies zu erfahren, war zu allen Zeiten von höchstem Interesse, und deshalb fragt Mose sofort nach dem Namen Gottes, der sich ihm offenbart; denn der Name ist ja nichts Äußerliches, sondern er enthält nach der Anschauung der Alten etwas vom Wesen seines Trägers. Hinter dieser ganzen Anschauung steht freilich die feste Überzeugung, daß der Mensch von sich aus keine zureichende Kenntnis Gottes hat, daß er ganz und gar darauf angewiesen ist, daß Gott sich ihm in einer besonderen Offenbarung erst zu erkennen gibt. Eine persönliche Verehrung kann der Mensch einem unbekannten Gott nicht darbringen; erst einen bekannten, einen offenbaren Gott kann er wirklich anbeten, und dazu bedarf er eben der Kenntnis seines Namens. — Nun weiß aber jeder, der die Religionen kennt, daß hinter dieser Frage nach dem Namen noch etwas anderes steht. Nicht allein um Gottes willen dringt der Mensch darauf, daß er ihm sich offenbare — etwa um ihn anzubeten und zu verehren, — sondern er tut das viel mehr noch um seiner selbst willen: er braucht Gott, er will ihn anrufen, ja, er will, weil er Gott so nötig braucht, seiner zugleich immer auch habhaft werden. Er will einen Gott, von dem er auch wirklich etwas hat, er will ihn sich zu Diensten halten. Unter Umständen kann er das Göttliche so in seine Verfügung bekommen, daß er ganz eigenmächtig damit verfährt; man sagt dann: er treibt Zauberei. Fassen wir alles bisher Gesagte zusammen, so müssen wir feststellen: In der Frage des Mose nach dem Namen Gottes kommt in gleicher Weise die Not wie die Dreistigkeit der Menschen Gott gegenüber zum Ausdruck.
Und nun — so fragen wir gespannt —, was antwortet Gott auf diese dringlichste aller religiösen Fragen? „Ich werde sein, der ich sein werde!“ Der hebräische Wortlaut zeigt uns, daß dieses Rätselwort den Jahwenamen umschreiben und erklären will. Aber ist das denn überhaupt eine Erklärung und nicht vielmehr die Verweigerung einer Antwort? In der Tat, es wird der erste Eindruck immer der sein: Gott entzieht sich der Zudringlichkeit der Menschen. So, wie es die Menschen gerne möchten, läßt er sich nicht in Beschlag nehmen; er wahrt seine Freiheit und sein Geheimnis. Und doch hätten wir das Gotteswort nur halb ausgelegt, wenn wir in ihm nur eine Zurückweisung der Frage sehen wollten. Und geradezu mißverstehen würden wir es, wenn wir aus dem Wort eine philosophische Spekulation über das Wesen Gottes, etwa über seine „Absolutheit“, herauslesen wollten. Das [12] hebräische Wort, das wir mit „sein“ übersetzt haben, bedeutet mehr „vorhanden sein“, auch „geschehen“; es ist also viel mehr ein wirksames, ein tätiges als ein ruhendes Sein, und deshalb geht es hier gerade nicht um Gottes Absolutheit, sondern um seine dem Menschen zugekehrte Seite. Es ist ja ein Wort des Gottes, der sich zu den Menschen herabneigt und ihnen seine Hilfsbereitschaft mitteilt. Man würde es vielleicht besser „ich werde dasein, als der ich dasein werde“ übersetzen; andere haben geglaubt, es mit „ich werde mich erweisen, als der ich mich erweisen werde“ wiedergeben zu können. Wenn Gott das jenen Menschen im Elend sagen läßt, daß er sich nach seinem freien Ratschluß tätig erweisen werde, so liegt darin doch auch etwas Tröstliches, eine Zusage von Gottes Beständigkeit, ja, man könnte vielleicht sogar sagen, von Gottes Treue. Es liegt also ein Doppeltes in dem göttlichen Rätselwort: Gott neigt sich herab, er offenbart sich den Menschen als der Daseiende, der beständige und wirksame Gott und zugleich offenbart er seine ganze Freiheit. Er wird immer der Herr bleiben; er gibt sich nicht in die Macht der Menschen und wird ihren Zwecken nicht dienstbar. Er ist der Gott, der auch immer wieder das zerbricht, was die Menschen von ihm denken und wollen. Aber wir dürfen die beiden Aussagen nicht zerreißen, eines nicht ohne das andere: Gottes Freiheit ist es, die ihn dasein läßt; aber als der Daseiende, als der Wirksame ist er unantastbar frei.
Es gibt zwei Erzählungen im Alten Testament, die das, was wir hier ein wenig unanschaulich darlegen mußten, aufs beste und einfachste erläutern. Die eine steht im 13. Kapitel des Richterbuches. Der Frau des Manoach war Gott in der Gestalt des „Engels des Herrn“ erschienen und hatte ihr die Geburt eines Knaben — des Simson — angekündigt. Darüber, daß Gott, der Herr, dem Weibe erschienen war, war sich Manoach nicht im Klaren. Fest stand ihm nur, daß irgendein himmlisches Wesen sie heimgesucht habe, und deshalb ist es ihm leid, daß die Frau nicht geschickter war und die Gottheit nicht gleich zu einer nützlichen Beziehung an sich gebunden hat. So betet denn Manoach, daß sich die Erscheinung wiederholen möge. Tatsächlich erscheint der Engel noch einmal, aber wieder der Frau allein! Diesmal aber gelingt es dem Manoach, der atemlos herbeigeeilt ist, ihn noch zu treffen, und nun entspinnt sich folgendes Gespräch:
„Bist du der Mann, der mit dem Weibe geredet hat?“ Er sprach: „Ja … Manoach sprach zum Engel des Herrn: „Laß mich doch halten, wir wollen dir ein Ziegenböcklein zurichten.“
Ist das nicht bezeichnend? „Laß dich doch halten!“ Rührend einfältig ist das ausgesprochen, was im Grunde aller Menschen heißes Begehren ist, Gott für sich zu haben und ihn an sich zu binden. Der Engel weist die Zudringlichkeit zurück; aber Manoach ergibt sich noch lange nicht: [13]
Und Manoach sprach zum Engel des Herrn: „Wie heißest du, daß wir dich preisen, wenn nun eintrifft, was du geredet hast?“
Wieder spüren wir die heimliche Lüsternheit, die sich hier freilich unter einer frommen Maske verbirgt. Manoach will dieses göttlichen Wesens habhaft werden, darum fragt er nach seinem Namen. Weiß er den Namen, so glaubt er, dieses Gottes mächtig zu sein; dann kann er ihn zitieren, ja vielleicht auch zaubern. Aber Gott verweist ihm diese Frage.
Aber der Engel des Herrn fragte ihn: „Warum fragst du nach meinem Namen, der doch wundersam ist?“ (Ri. 13,11-18.)
Manoach läßt immer noch nicht ab, er bringt schnell ein Opfer dar, aber der Engel verschwindet in der Flamme des Altars und läßt den tödlich erschrockenen Manoach zurück.
Diese kleine Erzählung ist sehr wichtig. Hier weiß man etwas von jenem hemmungslosen Trieb im Menschen, Gott für sich einzufangen; man weiß von jener unheimlichen religiösen Lüsternheit, Gott in die menschliche Verfügungsgewalt zu bekommen. Aber man weiß auch davon, daß das Götzendienst ist. Der Mensch darf so dem lebendigen Gott nicht begegnen, weil er damit seine heilige Freiheit antastet, und deshalb entzieht sich auch Gott dieser fromm-dreisten Gebärde. In dieser Erzählung erweist Gott die unantastbare Freiheit seines Namens.
Die zweite Erzählung — sie steht 1. Mose 32,22-32 — zeigt uns etwas anderes. Jakob befindet sich auf der Heimkehr in das Land seiner Väter. Schwer drückt ihn die Schuld seinem Bruder gegenüber. Da, in einer Nacht, als er eben seine Familie und seine Habe über den Fluß Jabbok gebracht hat, „da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach“. Die Erzählung läßt keinen Zweifel darüber, daß in diesem nächtlichen Gespenst Gott, der Herr, an Jakob handelte. Jakob hatte nur nach vorwärts auf die Auseinandersetzung mit Esau gestarrt, aber nun muß er erkennen, daß ihm eine Auseinandersetzung viel schwererer Art bevorsteht, nämlich die mit Gott selbst. Aber dieser nächtliche Kampf, so grauenvoll er war und so wild das Entsetzen Jakobs gewesen sein mag, — das Gelüst Manoachs war auch in Jakob! Halbtot vor Anstrengung und Angst fragt doch auch er:
„Sage doch, wie heißest du?“
So zeigt uns diese Geschichte, daß es vielleicht keine Not gibt, die den Menschen so klein und demütig machen könnte, daß er einmal von dieser Art dreisten Zugreifens nach Gott geheilt würde. Aber auch dem Jakob wird diese Frage verwiesen:
Er aber sprach: „Warum fragst du, wie ich heiße?“ Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob hieß die Stätte Pniel, „denn ich habe Gott von Angesicht gesehen und meine Seele ist genesen“. (1. Mose 32,30f.) [14]
Was sind das für Erzählungen! Dieses Abweisen der Frage als ungehörig, und — „er segnete ihn daselbst!“ Hier erweist Gott seine wirksame Gegenwärtigkeit und seine Treue: „Ich werde dasein, als der ich dasein werde.“ Bei diesem eindringlichen Fragen nach dem Namen — wir haben es jetzt in drei Erzählungen angetroffen — müssen wir daran denken, daß die Gemeinde des Alten Bundes tatsächlich einen Namen Gottes kannte, den Jahwenamen, und daß ihr dieser Name als der eigentliche Garant für die ihr geschenkte Heilsoffenbarung Gottes galt. Dieser Name war wahrhaftig etwas anderes als sonst ein Name, den man einmal erfährt und dann behält. Nein, in diesem Namen war das Geschenk des ganzen göttlichen Gnadenwillens umschlossen. Deshalb ist — etwa in den Psalmen — das häufige Appellieren an den Namen Gottes alles andere als eine belanglose liturgische Floskel.
Er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. (Psalm 23,3.)
Das heißt, recht ausgelegt: Ein so verwegenes Vertrauen könnte ich von mir aus mir nicht nehmen. Aber Gott hat der Gemeinde in seinem Namen seinen Heilswillen geoffenbart; damit ist er für die Menschen aus seiner Verborgenheit und Unnahbarkeit herausgetreten, und der Name, den wir kennen und anrufen dürfen, der ist das Unterpfand und die Bürgschaft dafür.
Wir sehen also: Der Name Gottes und die Offenbarung seines Heilswillens gehören für den Glauben des Alten Testaments unauflöslich zusammen, und es ist eine der schönsten Mose-Geschichten, die uns dies nocheinmal anschaulich macht: 2. Mose 33,18-23. Gott redet mit Mose über den Wegzug des Volkes vom Sinai hinaus in die Wüste. War es nun ein Bangen vor dem bevorstehenden dunklen Weg? Jedenfalls es bricht mit einem Male eine Bitte von ungeheurer Kühnheit aus dem Herzen des Mose:
„Laß mich deine Herrlichkeit schauen!“
Aber Gott muß diese Bitte seinem Knecht abschlagen; Mose kann Gottes Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der Gott schaut. Aber Gott will etwas anderes tun.
Und er sprach: „Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte vorübergehen lassen und will den Namen des Herrn vor dir ausrufen, nämlich, daß ich gnädig bin, wem ich gnädig bin und mich erbarme, wessen ich mich erbarme.“ (2. Mose 33,19.)
Und dann, wenn der Herr so vorübergezogen ist und seine Hand schützend über Mose gehalten hat, dann kann Mose Gott hintennach schauen. Das heißt zunächst: man kann nicht, wenn Gott sich zum Menschen herabläßt, betrachtend dabei stehen und ihn in der Unmittelbarkeit seines Handelns schauen; aber seinen Wundern hintennach sehen, das kann der Mensch. So hat Gott einen [15] Tiefschlaf über den ersten Menschen fallen lassen, als er sich zur Erschaffung des Weibes anschickte (1. Mose 2,21), und ebenso mußte Abraham in Bangen und Betäubung entsinken, als Gott zum Bundesschluß kam (1. Mose 15,12). Hier weiß man von dem Abstand zwischen Mensch und Gott und davon, daß der Abgrund der göttlichen Geheimnisse den Menschen einfach zerstören würde. Deshalb kann Mose Gottes Herrlichkeit nicht schauen; aber damit entzieht sich Gott seinem Diener doch nicht. Das, was er ihm gewährt, ist die Nennung seines Namens. Aber der Name ist ja die dem Menschen zugekehrte, heilsame Seite Gottes oder, wie es hier ja ganz deutlich gesagt ist, die Zusicherung, daß Gott gnädig ist, wem er gnädig ist. Was ist das anderes als: „Ich werde dasein, als der ich dasein werde“, das Wort von der Freiheit und der Treue Gottes? Man muß freilich bei der Bitte des Mose und der Antwort Gottes auch an das Wort denken, das der Apostel Paulus in einer nicht ganz unähnlichen Lage empfangen hat: „Laß dir an meiner Gnade genügen!“ (2. Kor. 12,9).
Wir haben uns jetzt von vielerlei Texten des Alten Testaments zeigen lassen, was es für eine Bewandtnis um den Namen Gottes hat. Nun verstehen wir vielleicht, welche ungeheure Bedeutung das Gebot hat:
„Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen!“ (2. Mose 20,7.)
Was meint dieses Gebot? Hier wird grundsätzlich und radikal gewehrt jenem urmenschlichen Verlangen, die Freiheit Gottes anzutasten, d. h. gerade die Freiheit des sich zu den Menschen herabneigenden Gottes. Wir sahen ja vorhin schon in der Manoach — und ebenso in der Jakob — Geschichte jene Lüsternheit des Menschen, Gott in seine Verfügungsgewalt zu bekommen, seiner soweit mächtig zu werden, um sich ihm nicht ganz in seine Hand geben zu müssen. Die Formen, deren sich der Mensch dabei bedient, sind letztlich nicht das Wichtige daran. In jenen alten Zeiten war die Versuchung, sich mit Hilfe des Zaubers der übersinnlichen Welt zu versichern, besonders groß, wie ja auch später noch zuzeiten in der christlichen Kirche. Das ist vielleicht die gröbste Form des Mißbrauches Gottes und seiner Gnadenoffenbarung. Aber es gibt auch feinere Formen, denn die Versuchlichkeit des Menschen nach dieser Seite hin ist zu allen Zeiten gleich groß. Das liebt ja der Mensch, wenn er Gott vor seinen Wagen spannen kann und sich seiner zur Ausbreitung seines menschlichen Wesens bedienen kann. Aber das galt in der Gemeinde des Alten Bundes seit den Tagen des Mose als eine schwere Versündigung an der Freiheit Gottes. „Bin ich denn nur ein Gott aus der Nähe und nicht auch ein Gott aus der Ferne, spricht der Herr!“ (Jer.23,23).
So lag ein merkwürdiges Geheimnis um den alttestamentlichen Gottesnamen: Man kannte ihn und nannte ihn und stand doch vor ihm wie vor [16] einem Abgrund: Ein Name, und von ihm eine Gottesoffenbarung umschlossen bis an den Rand geladen mit Gnade und Freiheit zu vergeben, und dabei doch zugleich den Menschen heimlich reizend und das Empörerische in ihm aufweckend! Wundern wir uns, daß man schließlich darauf verfiel, diesen Namen überhaupt aus dem Mund der Menschen zu nehmen und seinen Gebrauch grundsätzlich zu verbieten? Aber das war ja keine Lösung, sondern nur eine Versiegelung seines Geheimnisses. Und als dann auch die Bücher des Alten Testaments gesammelt und von der eisernen Klammer des Kanons umschlossen waren, da lag das Erbe und der Ertrag der ganzen alttestamentlichen Heilsgeschichte abgeschlossen und versiegelt in einem Buch. Und in seinem Innersten lag, gleichsam als die Seele und der heimliche Sinn jenes Buches, das Geheimnis des heiligsten Gottesnamens! Wer wird das Siegel brechen und das Geheimnis aufschließen?
Und nun denken wir an die Stunde, da man Jesus in der Synagoge zu Nazareth die Schrift des Alten Bundes reichte. Als er den Text vorgelesen hatte, waren aller Blicke auf ihn gerichtet und dann begann er: „Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Augen“ (Luk. 4,16-21). Und so hat er allenthalben die Jünger gelehrt, die Schrift, „die von ihm gesagt war“ (Luk. 24,27), zu lesen: „Suchet in der Schrift, denn sie ist’s, die von mir zeuget!“ (Joh. 5,39). Wahrlich, nur er hatte die Vollmacht, das Alte Testament aufzuschließen und zu entsiegeln. War in ihm nicht Gottes Heil, aber auch die Freiheit des göttlichen Waltens endgültig offenbar geworden? Hat in Jesus Christus Gott nicht endgültig das zerbrochen, was die Menschen von ihm gedacht und gewollt haben? Und war dieser Jesus Christus den Menschen nicht auch — genau wie jener alttestamentliche Gottesname — zur Versuchung geworden, sich seiner zu bemächtigen? Sie haben ja wirklich in ihm die Freiheit Gottes angetastet; zuerst, indem sie ihn sich zur Verfügung halten und zum König machen wollten (Joh. 6,15), und dann, indem sie ihn ans Kreuz geschlagen haben. So tun sich dem Gläubigen tiefe heilsgeschichtliche Zusammenhänge auf zwischen Jesus Christus und dem alttestamentlichen Gottesnamen; ja, es erscheint dem rückschauenden Blick so, als sei jener nur ein Platzhalter für den kommenden Herrn gewesen.
Das erste und zweite Gebot
Es ist ein ziemlich sicheres Ergebnis der Forschung, daß die Zehn Gebote in der späteren Zeit in der Liturgie des großen Herbst- und Laubhüttenfestes ihre besondere Stelle hatten. In diesem großen Fest begann die Gemeinde mit Gott wieder ein Neues, und in den Zehn Geboten, die auf dem Höhepunkt des Festes durch Priestermund verkündet wurden, nahm Gott die [17] Gemeinde wieder neu in Beschlag; durch seine Gebote ließ er sein Hoheitsrecht über ihr ausrufen. So kann man wirklich diese Zehn Gebote als „die Stiftungs- und Lebensurkunde des beginnenden Gottesreiches“ bezeichnen (Volz). Von dem ersten Gebot müssen wir besonders handeln, weil es das Hauptgebot ist; ja, es ist, wie schon Luther gesagt hat, „der Quellborn, so durch die andern (Gebote) alle gehet, und wiederum alle sich zurückziehen und hangen in diesem, so daß Ende und Anfang alles ineinander geknüpft und gebunden ist“. Auf dieses Gebot sind die anderen wie auf einen Mittelpunkt alle heimlich bezogen; ja, man kann sagen, daß die fast unzähligen Gebote und Rechtssätze dieses eine, jedes wieder nach einer anderen Seite hin auslegen und entfalten.
„Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“ (2. Mose 20,2.)
Grundlegend für das rechte Verständnis des ganzen Gebotes ist das Nebensätzchen „der dich aus Ägyptenland geführt hat“. Es ist also der Gott der Gnade, der hier redet. Die Befreiung aus Ägypten ist profangeschichtlich ein Ereignis von höchster Belanglosigkeit. Nach Ägypten abgedrängte und dort zu Frondiensten gezwungene Halbnomadenstämme erleben ihre Befreiung. Aber in diesem Ereignis haben die alttestamentlichen Frommen bis in die spätesten Zeiten herab die Begründung der Gemeinde gesehen; hier ist der Heilswille Gottes offenbar geworden, hier hat Gott sich das erste Mal „verherrlicht“, d. h. sein gnädiges Walten in der Geschichte vor aller Augen offenbar werden lassen. Kehren wir zurück zu dem Nebensatz in dem ersten Gebot, so müssen wir zunächst feststellen: der Gott, der so redet, ist nicht irgendein Gott, sondern er ist der, der gekommen ist, die Seinen zu befreien. Er hat sie aus dem Knechtshaus geführt, um sie in die Freiheit seines Gehorsams zu rufen. Es könnte so scheinen, als vermöchte das Wörtlein „dein Gott“ in diesem hohen Gebot noch gar nicht werbend und lockend in das Herz des Menschen zu dringen; aber es umschließt doch schon alles Heil, bis hin zu dem Trost dessen, der verheißen hat zu trösten, „wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,13).
Zu dieser Freiheit gehört vor allem, daß Israel sich vom Dienste aller anderen Götter löse. Man hat wohl mit Recht gesagt, daß Mose dabei weniger an die Götter der großen Religionen — an Marduk, Ischtar, Re oder Osiris — gedacht habe, deren Bekanntschaft das Volk ja zum Teil erst in späteren Zeiten gemacht hat. Das erste Gebot hatte ursprünglich wohl alle jene nahen Mächte im Auge (Totengeister oder Dämonen), von denen der antike Mensch so viele Einwirkungen und Ereignisse seines täglichen Lebens herleitete. Diese Feststellung könnte die Bedeutung dieses Gebotes für uns nur erhöhen; denn wirklich gefährlich und versucherisch sind ja für den Menschen in der Regel [18] nicht die Götter anderer Religionen, sondern jene anonymen Zwischenmächte, denen man so gern neben Gott eine Zuständigkeit bei der Lenkung der Geschicke zuerkennen und deshalb göttliche Verehrung darbringen möchte. Das hat Luther klar gesehen: Es ist im ersten Gebot die Vertrauensfrage gestellt. „Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten.“ „Worauf du nu (sage ich) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ Und dieses Vertrauen ist da gebrochen, wo es der Mensch insgeheim auch mit anderen Mächten hält und ihnen in seinem Herzen vielleicht sogar mehr Zuständigkeit und Kraft zu helfen einräumt als dem lebendigen Gott.
Nach einer Seite hin hat der alttestamentliche Glaube diesen Kampf mit besonderer Erbitterung geführt: gegen den Glauben an die Mächte der unteren Sphäre: Dämonen und Totengeister, gegen Wahrsagerei, Beschwörungen und jegliche sonstigen okkulten Praktiken. Daß es z.B. gelungen ist, dem Toten wie dem Grab jegliche Heiligkeit, jegliche göttliche Art abzusprechen, muß man in der Geschichte der Religionen geradezu als etwas Einzigartiges bezeichnen. Die Versuchung, die Geister der Abgeschiedenen für göttliche Wesen zu halten und ihnen demgemäß Totenopfer darzubringen, um sie an sich zu binden und sich ihrer zu versichern, war für die Alten sehr groß. Die alttestamentliche Religion hat darin aber etwas Sündiges gesehen. Sie hat die Grenze zwischen Gott und jeglichem Geschaffenen fest und sicher durchgezogen und auch nach dem Tod keine Verwischung dieser Grenze und keine Aufhebung des Unterschiedes zwischen Mensch und Gott geduldet. Geholfen hat sie sich, indem sie den Toten und das Grab in sakraler Hinsicht disqualifizierte, d. h. für „unrein“ erklärte[7]. Aber der Wunsch, mit dem Mittel kultischer Verehrung ein Verhältnis mit den Toten aufrechtzuerhalten, ist wohl ein Urtrieb des Menschen; er ist auch der verweltlichten Moderne nicht fremd; und sei es in der abgeschwächten Form, daß die Menschen in ihren Herzen Altäre für große und geliebte Tote aufrichten.
Noch umfassender sind die Abgrenzungen, die in 5.Mose 18,9-12 durchgeführt werden:
Wenn du in das Land kommst, das dir der Herr, Sein Gott, geben wird, so sollst du nicht die Greuel dieser Völker lernen, daß nicht jemand unter die gefunden werde, der seinen Sohn oder Tochter durchs Feuer gehen lasse oder ein Wahrsager oder Wolkendeuter oder Beschwörer oder Zauberer oder ein Bannsprecher oder einer, der einen Totengeist beschwört, der einen Wahrsagegeist hat oder die Toten befragt. Denn wer solches tut, der ist dem Herrn ein Greuel.
Wir können nur staunen über die Sicherheit, mit der hier ein klarer Trennungsstrich gezogen ist. Mit einer Handbewegung wird hier Zauber, [19] Beschwörung, Wahrsagerei, mit einem Wort, der ganze weite und verführerische Bereich des Okkulten, aus der Religion hinausgewiesen. Die dunklen Regionen des Irdischen mit all ihren rätselhaften und abgründigen Mächtigkeiten, die das Leben umlagern, werden hier zwar nicht verneint und geleugnet, aber es wird rundweg bestritten, daß der Mensch durch ihre Vermittlung eine Verbindung mit Gott aufnehmen und seinen Willen enträtseln könne. Jene an die Erde, d. h. ans Geschaffene gebundenen Kräfte und Mächte sind nicht der Bereich, in dem Gott und sein Wort vernehmbar wird. Es hat Gott gefallen, sich auf einem anderen, direkteren Weg dem Menschen zu offenbaren: indem klaren Wort des erleuchteten Propheten. Hier sollen wir ihn suchen. Und so ist es ein Wort wunderbarer Herabneigung an den in seiner Welt ratlos gewordenen Menschen, das im Folgenden dem Mose in den Mund gelegt ist.
Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, dir erwecken aus dir und deinen Brüdern, Sem sollt ihr gehorchen. (5. Mose 18,15.)
An einer Stelle der großen Abschiedsrede des Mose findet sich ein Wort, an dem wir in diesem Zusammenhang nicht vorübergehen dürfen. Man möchte es fast mehr als eine Sentenz bezeichnen, so gedrängt und zugespitzt ist es nach Form und Inhalt:
Das Verborgene ist des Herrn unseres Gottes, was aber offenbar ist, das ist unser und unserer Kinder ewiglich. (5. Mose 29,29.)
Auch dieses Wort redet von den Verborgenheiten, die unser Leben umlagern; und auch dieses Wort lenkt den Blick des Menschen, der je und je sich von ihnen in einen Bann schlagen läßt, von dieser Nachtseite der Welt ab. Aber darin geht es über das oben besprochene Gebot hinaus, daß es mit einer Glaubenszuversicht ohnegleichen dieses ganze Gebiet des Undurchdringlichen und Ungelösten in die Hände Gottes legt. „Das Geheimnis ist des Herrn!“ Das heißt zunächst gewiß: es ist nicht des Menschen, daß er es lüstern durchdringe und seiner mächtig werde; es ist ihm nicht verheißen, den Schlüssel für die Hintergründe und Abgründe seines Lebens zu finden. Dann aber ist gesagt: Das Geheimnis ist nicht sinnlos und dämonisch willkürlich, es ist nicht des Teufels, sondern Gottes. Und wie könnten wir auch einen Tag leben ohne diesen Trost, wenn wir der Trübsale und Rätsel gedenken, die sich um uns auftürmen. Wir sagten, das Geheimnis ist nicht unser; aber das geoffenbarte Heilswort Gottes und seine Gebote, die sind unser, die sind uns von Gott selbst zugesprochen in Ohr und Herz als das, was unser Eigenstes sein soll!
Noch an einem anderen Ort dieser Abschiedsrede sehen wir das Bemühen, die Offenbarung Gottes vor den Menschen hinzulegen als das, was ihm ganz zugehört, und das ihm unter keinen Umständen problematisch werden darf:
Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen, noch zu ferne, noch im Himmel, daß du möchtest sagen: Wer will uns in den [20] Himmel fahren, und es uns holen. Laß wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, daß du möchtest sagen: wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort sehr nahe bei dir in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust. (5. Mose 30,11-14.)
Das wäre die schlimmste Verkehrung, wenn man das uns von Gott zugesprochene Wort als etwas Fernes und Verborgenes halten würde. Das ist ja das Schicksal des Menschen, daß er ständig im Dienst ferner Gebote steht. Ist nicht jegliches Ideal, dem der Mensch nacheifert, ohne es je zu erreichen, ein fernes Gebot? Gottes Heil und sein Gebot sind nicht vom Menschen herunterzuzwingen; es bedarf nicht einer unerhörten Leistung, weder einer Astrologie noch sonstiger Erkenntnisse höherer Welten, um es in den Gesichtskreis der Menschen zu bringen. Nicht der Mensch muß es suchen, sondern es hat den Menschen aufgesucht, da wo er zu finden ist. Immer möchte der Mensch meinen, das Wort Gottes sei ihm zu hoch, er müsse sich verkrampfen und übersteigern, um es zu hören; aber es ist doch seinem Munde und Herzen so nahe.
Nun müssen wir aber diesen Gedanken, dem wir schon fast zu lange nachgegangen sind, fallen lassen und wieder zu unserem ersten Gebot und seinem Ausschließlichkeitsanspruch zurückkehren. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch ist eine Äußerung von dem, was das Alte Testament den „Eifer Gottes“ nennt. Damit stehen wir vor einem Gegenstand der alttestamentlichen Offenbarung, der heute mit besonderer Entrüstung abgelehnt wird. Wir können uns diesen Angriffen gegenüber nicht darauf zurückziehen, daß das Wort von dem Eifer Gottes nur gelegentlich am Alten Testament anklinge und deshalb gar kein zentrales Wesensmerkmal des alttestamentlichen Gottesglaubens sei. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Zu allen Zeiten und in allen Schichten und Überlieferungen des Alten Testaments hat dieses Glaubenselement eine große, ja alles bestimmende Rolle gespielt. Schon diese Feststellung verwehrt die Annahme, daß wir es dabei mit einem Rest einer noch ungeläuterten Gottesvorstellung zu tun haben. Man hat in dem Wort von dem „eifrigen Gott“ einen „Hinweis auf die zur höchsten Intension gesteigerte Personhaftigkeit Gottes“ gesehen (Eichrodt). Das ist richtig, denn die alttestamentliche Offenbarung zeigt einen Gott, der in keiner Weise eine neutrale Macht, etwa eine Naturkraft, sondern vielmehr ganz und gar Person und Wille ist, also ein Ich, das im Menschen ein Du anredet. Weiter führt uns die Tatsache, daß das Wort Eifer nach hebräischem Sprachgebrauch so viel ist wie Eifersucht. Und von da aus erschließt sich uns der eigentliche Sinn: Eifersüchtig ist Gott — der Prophet Hosea hat es gewagt, zu sagen: wie ein Liebender, wie ein Bräutigam—, daß er beim Menschen der Einzige ist; er wacht darüber mit Eifer-[21]sucht, daß er allein das Herz des Menschen besitzt. Er ist also nicht gesonnen, seinen Anspruch auf Liebe und Verehrung und Anbetung mit irgendeiner Macht der Welt zu teilen. Im 5. Buch Mose 18,13 steht ein Gebot, das diesen Ausschließlichkeitsanspruch aufs bündigste formuliert. — Es lautet wörtlich übersetzt:
„sei ganz (d. h. ungeteilt) mit dem Herrn, deinem Gotte!“
In der späteren Geschichtsschreibung ist das ja einer der wichtigsten Maßstäbe, der an die Könige angelegt wird, nämlich, ob sie „ganz“ und „ungeteilt“ mit Gott waren (1. Kön. 8,61; 11,4; 15,3.14).
Es ist klar, der Mensch, der dieses Gebot im Gewissen hört, befindet sich nicht in Übereinstimmung mit ihm. Es ist nicht so, daß er es schon von sich aus kennt und befolgt; vielmehr wird jeder, der es hört, von ihm vor eine Entscheidung gestellt, wie sie grundsätzlicher gar nicht gedacht werden kann. Auch im Alten Bund war es immer wieder nötig, den Menschen diese Frage von Gott her vorzulegen. Es war die Aufgabe der großen Gottesmänner und Propheten, der schwerfälligen Masse des Volkes in den Weg zu treten und ihr eine Entscheidung abzuringen. So hat es schon Josua auf dem Landtag zu Sichern getan.
„So fürchtet nun den Herrn und dienet ihm ganz und treu und laßt fahren die Götter, denen eure Väter gedient haben. Gefällt es euch aber nicht, daß ihr dem Herrn dienet, so wählt euch heute, wem ihr dienen wollt. Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen.“ (Jos. 24,14f.)
Jahrhunderte später sehen wir den Propheten Elia auf dem Berge Karmel in einer ähnlichen Lage. Wir würden es verkennen, wollten wir annehmen, das Volk habe seinem Gott völlig den Abschied gegeben. Sie hielten es wohl noch mit ihm, beteten auch noch zu ihm; aber ihr Herz war nicht „ganz“ mit ihm, es war geteilt, denn sie hielten es auch mit der Naturgottheit Baal. Dabei haben sie sich gewiß ganz wohl befunden; so ein wenig Glauben an den Himmelsgott und daneben auch ein wenig Glaube an die Natur, — aber da hat sich Elia wie ein Berg dem Volk in den Weg gelegt:
„Wie lange hinket ihr auf beide Seiten; ist der Herr Gott, so wandelt ihm nach, ist’s aber Baal, so wandelt ihm nach.“ (1. Kön. 18,21.)
Aber der Gott, an den der Mensch „sein Herz hanget und sich verlässet“, muß ja nicht immer eine Macht aus der übersinnlichen Welt sein. Es waren die großen Propheten, die mit einem durchdringenden Scharfblick alle diejenigen irdischen Mächte erkannt haben, die dem Volk zu Götzen geworden sind. So haben sie einen für uns moderne Menschen befremdlichen Kampf geführt gegen die Bündnispolitik, gegen Rüstungen und gegen das Kriegsroß, denn all das waren Sicherungen, durch die man des Vertrauens auf [22] Gott und seine Hilfe enthoben zu sein glaubte. „Glauben“ heißt bei Jesaja ganz still bleiben, nur ja nicht mit Eigenmächtigkeiten dem Gott, der sich aufgemacht hat zu helfen, in den Arm fallen[8]. Wenn doch nur einmal das Volk sich ganz vertrauensvoll in die Hände Gottes legen wollte! So tadelt Jesaja einmal die Jerusalemer, die sich nach dem Einfall der Assyrer um die Befestigung ihrer Stadt gekümmert hatten:
„Du aber schautest an jenem Tag nach dem Rüstzeug im Waldhaus und nach den Mauerriffen der Stadt Davids saht ihr — denn ihrer waren viele, — und ihr faßtet Sie Wasser des unteren Teiches und ihr prüftet die Häuser Jerusalems und bracht sie ab. Sie Mauer zu befestigen, aber ihr schautet nicht auf den, der es tat, und nach dem, der es von lang her bereitet hat, sahet ihr nicht.“ (Jes. 22,9-11.)
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In diesen Forderungen der Propheten kommt die Vertrauensfrage auf Messersschneide zu stehen. Wir können die schwere Frage beiseite lassen, ob sie damit ihren Zeitgenossen vielleicht Unmögliches zugemutet haben. Wir nehmen diese Forderungen ja auch nicht als Rezepte für den heutigen Staatsmann, aber für die Kirche und jegliche Gemeindeleitung haben sie schrankenlose Gültigkeit.
Das zweite Gebot lautet im Alten Testament:
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, noch des, das im Wasser unter der Erde ist.“ (2. Mose 20,4.)
Weithin war man der Meinung, dies Gebot wolle etwas über das Wesen Gottes selbst aussagen, nämlich, daß Gott geistig sei und deshalb nicht in Götzenbildern wohne, die stofflich sind. Aber wenn man auch diesem Gebot mit solcher Auslegung eine hohe Ehre anzutun meinte, so war doch die Richtung, in die dieses Wort gesprochen ist, ganz verkannt. Das zweite Gebot maßt sich keineswegs an, eine spekulative, philosophische Aussage über das Wesen Gottes zu machen. Es geht hier nicht darum, wie Gott ist, sondern wie er sich offenbart. Daß Gott nicht in den Bildern selbst wohnt, womöglich geradezu mit ihnen identisch ist, das haben ja viele Heiden auch gewußt. Aber alle Menschen üben darin, was sie nun für die Offenbarung Gottes halten, eine Eigenmächtigkeit, bei der sie sich gar nicht bewußt werden, wie sehr sie damit die Freiheit Gottes antasten. Sie dekretieren einfach je nach ihrem Geschmack und ihrer seelisch-kulturellen Lage, daß Gott sich in der Natur offenbare, etwa in dem Mysterium der Zeugung bei Mensch und Tier, oder daß seine Stimme in der Geschichte vernehmbar sei. Der moderne Mensch [23] ist geneigt, etwa in der Kunst eine Offenbarung Gottes zu sehen[9]. Und eben das heißt im Sinne des Alten Testaments sich ein Bild von Gott machen; denn damit hat sich der Mensch — wir wiederholen, ohne sich dessen recht bewußt zu werden — Gottes bemächtigt. Die Versuchlichkeit des Menschen, Gott derart in seine Welt hereinzuziehen und damit doch etwas Geschaffenes als seinen Gott anzubeten, ist zu allen Zeiten gleich. Ob sie sich nun darin äußert, daß der Mensch sich ein stoffliches Götzenbild aufstellt und in diesem Bild irgendwelchen Mysterien seines Lebensbereiches göttliche Verehrung beweist, oder ob er als ein geistiger Mensch darauf verzichtet, den Gegenstand seiner Anbetung in einem sakralen Bilde darzustellen, ist ein ziemlich belangloser Unterschied. Natürlich bezeugt und verherrlicht die ganze Schöpfung Gott; „die Himmel erzählen die Ehre Gottes und das Firmament verkündigt das Werk seiner Hände!“ — aber der Mensch vermag dieses Zeugnis nicht mehr rein zu hören; er vereinerleit sofort Gott und das Geschaffene, und damit fällt er einer Verdinglichung Gottes, einer Anbetung irgendeines Geschaffenen anheim. Das ist die große Sünde, der das zweite Gebot wehren will, und zwar in denkbar radikaler Weise. Es ist das antike, dreistöckige Weltbild, an das Mose noch gebunden ist: Himmel — Erde — Chaosgewässer unter der Erde. Diese drei Welträume, also der Bereich alles Geschaffenen, werden hier gleichsam abgeschritten, und es wird gesagt, daß in ihm nichts sei, kein Geschöpf und keine Gestalt, die Gott angemessen veranschaulichen könne. Kein Wesen dieser drei Welträume, kein Element und keine Formung darf als eine unmittelbare Erscheinung Gottes mißverstanden und angebetet werden.
All das, was wir uns jetzt klar gemacht haben, zeigt die Geschichte vom goldenen Kalb aufs anschaulichste im Bilde (2. Mose 32). Mose weilt auf dem Berg bei Gott, dem Herrn; da wird das Volk ungeduldig. Was ist es um diese Ungeduld? Es ist etwas wie ein religiöser Hunger, der sie befällt; sie fühlen eine Leere und wähnen sich ohne Gott. Deshalb bestürmen sie den dafür zuständigen Mann, den Priester Ahron:
„Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist.“ (V. 1.)
Wie ist das vielsagend! Das ist das Volk, nur einen Augenblick auf sich gestellt! Nur ganz vorübergehend aus der strengen Zucht des göttlichen Wortes [24] entlassen, ruft es ungeduldig nach einem Bilde Gottes. Wir sehen daraus, wie tief als ein Urtrieb im Menschen das Begehren liegt, Gott in einem irdischen Bild anzubeten. Ja, man kann sagen, daß es für ihn überhaupt keine andere Wahl gibt; wenn er nicht von dem Wort des lebendigen Gottes gefangen ist, so fällt er zwangsläufig in eine Anbetung des Geschaffenen. In einer Welt, in der er nichts anbeten kann, in einer Welt ohne einen Götzen hält er es gar nicht aus. Und wir sehen, daß er durchaus bereit ist, sich seinen Kultus etwas kosten zu lassen, daß er auch wirkliche Opfer dafür zu bringen in der Lage ist (V. 3). Und ganz selbstverständlich wendet sich das Volk an den Priester; wozu ist er denn sonst da, wenn nicht dazu, um dieses allgemein menschliche Begehren zu befriedigen?!
Aber, so könnte man fragen, ist denn das Volk Israel überhaupt von seinem Gott abgefallen? Sie verehren doch nach wie vor den Gott, „der uns aus Ägypten geführt hat“ (V. 4)? Das ist nun in der Tat der Punkt, an dem vielleicht das Wichtigste der ganzen Geschichte deutlich wird. Gewiß, Ahron und das ganze Volk würden entrüstet bestritten haben, ihren Gott verlassen zu haben. Sie meinten durchaus den alten Gott, der sich ihnen in großen Heilstaten geoffenbart hat, anzubeten, und daß dieser ihr Gott in dem goldenen Stierbild, das sie eben angefertigt hatten, wohne, das haben sie gewiß auch nicht geglaubt. Worin bestand aber dann ihre Sünde? Das Stierbild spielte in den Religionen des vorderen Orients eine große Rolle. In ihm verehrte man — wir würden heute sagen — das Mysterium des Lebens, jene unerschöpfliche Zeugungskraft, die bei Mensch und Tier das Leben erhält und es sieghaft über das Sterben der Einzelnen hinüberträgt. Es war eben doch nicht Gott, sondern etwas Irdisches, vor dem sie sich niederwarfen. Gewiß, die Fruchtbarkeit ist eine sehr geheimnisvolle Mächtigkeit; sie ist eine Kraft, aufsteigend aus Tiefen der Natur, die wir nicht auszuloten vermögen. Aber Schöpfer ist sie nicht, sondern Geschöpf. Wir kennen ja alle den Einspruch derer, die Gott nicht „so eng“ verstehen wollen. Offenbart er sich nicht auch in allem Wunderbaren und Geheimnisvollen um uns her? Aber die Bibel sagt uns, daß der Mensch, wenn er nicht auf das Wort des lebendigen Gottes hört, rettungslos in eine Anbetung des Geschaffenen verfällt; er verehrt Gott im Bilde irgendeiner irdischen Macht, die nicht Gott ist, sondern der entherrlichten Schöpfung angehört. Dafür, daß diese Kräfte und Mysterien, die der Mensch für Offenbarungen Gottes hält, in Wirklichkeit der gefallenen Welt angehören, gibt uns unsere Geschichte vom goldenen Kalb ein untrügliches Zeichen: die Ausgelassenheit und Zuchtlosigkeit, die das Volk plötzlich erfaßt (V. 6.17f. 25). Ein unordentlicher Lärm und wildes Geschrei dringt bis in die Stille des Berges zu Mose herauf. Und so muß es ja sein, es muß etwas gefährlich Zügelloses und Aufgelöstes in dieser An[25]betung sein; denn es sind ja die ungeformten, „dämonischen“ Mächtigkeiten, denen sich der Mensch ergibt. Eine besonders schwere Schuld bei solchem Abfall in Bilderdienst lädt der Priester auf sich. Mose fragt Ahron:
„Was hat dir das Volk getan, daß du eine so große Sünde über sie gebracht hast?“
(V. 21.)
Hätte er, der Theologe, sich nicht als erster diesem Begehren in den Weg stellen sollen? Seine Entschuldigung klingt einfältig und fast schulknabenhaft:
„Mein Herr lasse seinen Zorn nicht ergrimmen, du weißt, daß dies Volk böse ist. Sie sprachen zu mir: mache uns Götter, die vor uns hergehen… Ich sprach zu ihnen: Wer Gold hat, der reiße es ab und gebe es mir, und ich warf’s ins Feuer, da kam dies Kalb heraus.“ (V. 22-24.)
Und doch enthält diese Antwort etwas sehr Wahres: Nachträglich weiß er selber nicht mehr, wie das alles eigentlich so kommen konnte; das ging ja so schnell und unversehens, und mit einem Male waren sie im vollendeten Bilderdienst!
Aber nicht immer ist es die Gemeinde im Ganzen, die von der Versuchung, Gott im Bilde von Irdischem anzubeten, angefochten ist. Wenn der öffentliche Gottesdienst ihr widersteht, so tritt sie doch ständig an jeden Einzelnen heran, und dann kann es dazu kommen, daß ein Mensch sich zwar durchaus der allgemeinen Anbetung der Gemeinde einreiht, aber für seine persönlichen religiösen Bedürfnisse hat er einen besonderen Altar mit einem Götzenbildnis.
„Verflucht sei, wer einen Götzen oder ein gegossenes Bild macht, einen Greuel des Herrn, ein Werk von den Händen der Werkmeister und stellt es auf im Verborgenen!“ (5. Mose 27,15.)
Das Alte Testament weiß doch in den Dingen des Glaubens um alles! Auch um die Sonderbarkeit einer so geteilten Anbetung! Das ist wohl nicht selten vorgekommen, daß einer neben den großen Gemeindegottesdiensten verborgen in seinem Haus einen privaten Kultus vor irgendeinem Götzenbild übte, sich also außer dem Gott, dem die Gemeinde öffentlich diente, noch irgendeiner anderen geheimnisvollen Macht verpflichtet wußte, weil er ihr eine zusätzliche Segnung zu verdanken glaubte. Auch dieses Gebot ist für den Christen keineswegs überholt und gegenstandslos. Wohl sind wir nicht mehr versucht, vor Guß- und Schnitzbildern in der Verborgenheit unserer Häuser niederzufallen. Die Altäre werden in den Herzen errichtet, und der Glaube an Jesus Christus hindert viele nicht, daneben Gott noch im Bilde etwa eines Menschen oder eines Kunstwerkes anzubeten. Ja, dieses Verbot des heimlichen Altars hat wohl eine besondere Aufgabe an den Christen unter den Gebildeten!
Blicken wir noch einmal zurück auf den Inhalt dieser beiden Gebote, [26] so kann sich uns etwas von dem Walten der göttlichen Vorsehung enthüllen: Nur in einem Volk, das von diesen Geboten über ein Jahrtausend lang erzogen war, konnte die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus als ein reines Wunder von Gott her genommen werden. Nur die Evangelisten und Apostel der Urgemeinde, hinter denen die jahrhundertelange Zucht dieser beiden Gebote stand, konnten die göttliche Vollmacht, die Jesus beansprucht hat, recht verstehen und aufnehmen, weil sie das Göttliche vom Menschlichen rein zu scheiden wußten. In dem Bereich anderer Religionen wäre es leicht und unanstößig gewesen, im Sinne der Mythen Christo göttliche Art zuzuerkennen. Denn die von den Menschen erdichteten Mythen sind bekanntlich mit der Vergöttlichung von Menschen schnell bei der Hand. Aber so hätte ja der Mensch das, was er eigenmächtig sich zu nehmen gewohnt war, sich von Gott gar nicht mehr geben lassen können.
Der Rechtswille Gottes
Sind die Zehn Gebote ihrer Bedeutung nach auch besonders hervorgehoben, so sind sie doch nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der Fülle der alttestamentlichen Gebote, in denen sich der ordnende Rechtswille Gottes offenbart. Wir treten damit an die Gebiete des Alten Testaments heran, in denen sich oft auch der treue Bibelleser nicht zurechtfindet. Wir müssen deshalb einiges zum äußeren Verständnis Notwendiges vorausschicken.
Die vielen einzelnen Gebote und Gesetze sind in verschiedenen Sammlungen — meist ohne deutliche Disposition oder Gliederung — zusammengeschlossen. Die älteste dieser Sammlungen ist das sogenannte Bundesbuch 2. Mose 21-23. Später redigiert sind die Gebote in 5. Mose 12-26 und im sogenannten Heiligkeitsgesetz 3. Mose 17-26. Indessen, man darf nicht glauben, daß die später kodifizierten Gesetze deshalb alle jünger sein müßten. Die Sammlung der Rechtsnormen ist eine Sache für sich und muß von der Frage nach dem Alter der einzelnen Stoffe reinlich getrennt werden. Wir müssen nun freilich damit Ernst machen, daß die Alten unsere Vorstellung von Verfasserschaft und geistigem Eigentum gar nicht gekannt haben, um so weniger, als es sich bei diesen Geboten und Satzungen ja nicht um Erzeugnisse einer persönlichen Genialität, sondern um göttliche Offenbarungen handelte. Nicht darnach haben sie gefragt, ob Mose diese Gebote alle selbst verkündet und aufgeschrieben habe, sondern vielmehr darnach, ob diese Gebote der sich auf Mose zurückführenden Offenbarungstradition zugehörten. Mose ist also in diesem Sinn weniger der Name einer Persönlichkeit als ein Sammelbegriff für Überlieferungen und Institutionen, die sich von Mose und seinem Offenbarungsempfang herleiteten. Was in diesen Überlieferungen [27] weitergegeben, was in diesen Institutionen (Rechtsleben, Kultus) verkündet wurde, das war „Mose“. Solche Traditionen sind stabil und variabel zugleich. Sie sind nie abgeschlossen, sie wachsen und sind schöpferisch, und doch bleiben sie dem Gesetz, nach dem sie angetreten, treu; sie sind konservativ und würden sich nichts einverleiben, das nicht aus dem Geiste Moses stammte.
Die Rechtsprechung fand im alten Israel im Tore statt. Im 4. Kapitel des Buches Ruth ist sehr anschaulich beschrieben, wie weniger Umstände es bedurfte, bis die Rechtsgemeinde zusammengetreten war. Man ging ins Stadttor, den einzigen öffentlichen Platz des Ortes, rief die Ältesten zusammen und schon konnte die Verhandlung beginnen. Es gab also keinen berufsmäßigen Richterstand; die Träger des Rechtes waren Laien, eben die Ältesten (vgl. auch Jer. 26,10). Verhandelt wurde hier alles, was an Rechtsfällen in einer kleinen Ortschaft zu entscheiden war: Familienrechtliche, pfandrechtliche Angelegenheiten, Haftpflicht, Sklavenrecht, Armenrecht, wegen Eigentumsdelikten und wohl auch wegen Mordes oder Totschlages. Welches aber waren die Normen, nach denen Recht gesprochen wurde? Sie sind uns erhalten in den konditional, im „objektiven Wennstil“ formulierten Gesetzen, die wir z. B. im Bundesbuch in großer Anzahl finden. (Beispiele: 2. Mose 22,1-15.) Das sind nun die Rechtssätze, in denen sich Israel nur wenig von den anderen Völkern des vorderen Orients unterschied, ja, es ist anzunehmen, daß die einwandernden Stämme sich vieles von der Rechtskultur, die sich in den Städten des Landes Kanaan vorfand, zu eigen gemacht haben. Sie waren ja für die völlig veränderten Verhältnisse nach der Seßhaftwerdung noch gar nicht im Besitz eines ausgebildeten Rechts. So erklären sich die mannigfachen Gemeinsamkeiten zwischen diesem altisraelitischen und dem gemeinorientalischen Recht[10]. Dieses in Kanaan vorgefundene altorientalische Recht hat nun Israel keineswegs unbesehen und in Bausch und Bogen übernommen; es hat aus diesem in vielen Jahrhunderten bewährten und durchgereinigten Erfahrungsgut ausgewählt und auch, wie wir noch deutlich sehen, manches gewaltsam seinem Rechtsempfinden, seinem Glauben erst angleichen müssen. Diese Laiengerichtsbarkeit in der Ortsgemeinde war aber nun nicht die letzte Instanz. Es gab natürlich auch hin und wieder Fälle, die zu schwierig waren, als daß sie von den Ältesten im Tor entschieden werden konnten. Auch dafür war Vorsorge getroffen:
„Wenn dir eine Sache vor Gericht zu schwer sein wird (wegen Tötung, wegen Mein und Dein, wegen Mißhandlung, wegen irgendeiner Streitsache in deiner Ortschaft), so sollst du dich aufmachen und hin-[28]aufgehen zu der Stätte, die der Herr, dein Gott, erwählen wird, und zu den Priestern, den Leviten … und fragen, die sollen dir das Urteil sprechen. … Nach dem Gesetz, das sie dich lehren, und nach dem Recht, das sie dir sagen, sollst du dich halten, daß du davon nicht abweichen, weder zur Rechten noch zur Linken.“ (5. Mose 17,8-11.)
Am Heiligtum also, bei den Priestern, konnte sich das Ortsgericht Rat und Weisung holen, denn die Priester dürfen wir uns nicht ausschließlich mit dem Opferkultus beschäftigt vorstellen, fast wichtiger als der Dienst am Altar war die Pflege und Weitergabe des Gottesrechtes, das ihnen anvertraut war. Sie bewahrten die uralten geoffenbarten Willenskundgebungen Gottes und hüteten damit ein heiliges Wissen, aus dessen Schatz sie an hohen Festtagen der Gemeinde im Namen Gottes verbindliche Weisung fürs Leben verkündigten. Wir haben oben schon kurz davon gesprochen; das waren etwa die Zehn Gebote. Aber auch im Bundesbuch finden wir derartige Sätze. Eine solche Reihe ergibt sich (bei geringer Umstellung) aus 2. Mose 21,12-17:
„Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben.
Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll des Todes sterben.
Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben.
Wer einen Menschen stiehlt, es sei, daß er ihn verkauft, oder daß man ihn bei ihm findet, der soll des Todes sterben.“
Eine dritte Gebotsreihe findet sich 5. Mose 27,15-26. Wir werden später gesondert davon handeln (s. S. 34). Der Unterschied dieser Satzungen von dem Recht der Laiengerichte springt sofort in die Augen. Sie sind nicht konditional und umständlich breit formuliert, sondern apodiktisch und von höchster Knappheit und Wucht. Das Unbedingte dieser Forderungen kommt außerdem bei den Zehn Geboten besonders noch in der persönlichen Anrede (Ich – Du) zum Ausdruck. Mit einem Wort, das ist unmittelbar geoffenbartes Gottesrecht, und in diesen Geboten haben wir das Urgestein der dem Mose zuteil gewordenen Willensoffenbarung Gottes vor uns.
Somit haben wir im alten Israel „zwei bis in die Wurzel verschiedenen Rechte“ (Alt), deren theologisches Verhältnis zueinander zu bestimmen gar nicht leicht ist. Das konditionale Laienrecht, in dessen Gebrauch Israel erst nach der Landnahme hineinwuchs, könnte man versucht sein einen „Volksnomos“ zu nennen, denn es war ja von Haus aus ein aus dem Gewissen und der vielfachen Erfahrung der orientalischen Völker kommendes Rechtswissen. Aber wir können nur feststellen, daß das Alte Testament einen solchen Unterschied in dem Offenbarungsanspruch nicht macht. Israel hat auch in diesem ehedem profanen Laienrecht die unmittelbare Stimme seines Gottes gehört; es konnte nicht anders und mußte auch ihm die Würde einer direkten Gottesoffenbarung zuerkennen. So sind also bei der Redaktion diese Satzun-[29]gen mit dem priesterlich-mosaischen Gottesrecht zuhaufgenommen und theologisch durchaus auf eine Linie gestellt worden. Das ist eine Tatsache, und wir haben dieses Zeugnis zu respektieren.
Wir wollen nun einiges vom Inhalt dieser Willensoffenbarungen Gottes kennenlernen. Dazu müssen wir uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, daß über der Fülle aller der Gebote, Satzungen und Ordnungen das erste Gebot steht (s. S. 17). Es wäre aber daneben noch ein Hauptgebot zu nennen, so umfassend und summarisch, daß es wie eine Zusammenfassung vieler Einzelgebote verstanden werden kann, nämlich:
„Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr euer Gott!“ (3. Mose 19,2.)
Die den Bibelleser zunächst verwirrende Fülle und Vielfältigkeit der Gebote erklärt sich daraus, daß Gottes Rechtswille in alle Lebensgebiete hineingetragen werden mußte. Es sollte keinen Bereich des öffentlichen wie des privaten Lebens geben, über dem nicht Gottes Hoheitsrecht ausgerufen war. Das alttestamentliche „Gesetz“ ist im Grunde nichts anderes als die Entfaltung dieses alleinigen Hoheitsrechtes Gottes über dem Menschen. Überall da, wo der Mensch sich und sein Wesen ausbreitet, da wird dieser Anspruch Gottes als vordringliches Anliegen angemeldet. Wir stehen also vor der Tatsache, daß hier Gott in alle Lebensgebiete des Menschen hineinredet.
Die Grundlage alles menschlichen Gemeinschaftslebens ist das Recht. Wir sahen schon, daß das alte Israel bewährte Rechtsnormen hatte, nach denen „im Tor“ Recht gesprochen wurde. Aber es gibt noch eine Reihe von Geboten, die die Richter noch viel persönlicher an den Willen Gottes binden:
„Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten. Biete dem, der ungerechte Sache hat, nicht die Hand, um ein falscher Zeuge für ihn zu sein. Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen und nicht also antworten vor Gericht, daß du der Menge nach vom Rechten weichest. Den Vornehmen sollst du in seinem Rechtshandel nicht begünstigen. Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen in seiner Sache. Von falscher Anklage halte dich fern und hilf nicht dazu, einen Unschuldigen, der im Recht ist, umzubringen, denn ich lasse den Gottlosen nicht recht haben. Du sollst nicht Bestechungsgeschenke nehmen; denn Geschenke machen die Sehenden blind und verkehren die Sache der Gerechten. Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken, denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, dieweil auch ihr seid Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“
(2. Mose 23,1-8.)
Wir sehen, hier verliert sich nichts im Allgemeinen; diese Gebote treffen und zwar gerade die Menschen, die in den Dingen der Rechtssprechung zuständig sind. Man hat deshalb diese Gruppe von Geboten treffend einen „Richterspiegel“ genannt (Alt). Das so streng Verpflichtende liegt in dem ganz persönlichen Charakter: Da ist ein Ich, das redet („ich lasse den Gottlosen nicht [30] Recht haben!“) und ein Du ist von diesem Ich aufs unmittelbarste angesprochen. Das macht diese Sätze so unausweichlich. Das Rechtswesen ist hier als eine Sache angesehen, an der Gott höchsten persönlichen Anteil nimmt. Gott redet in diese Sache hinein, er meldet einen Anspruch an, der in einer ganz konkreten Lage Gehorsam fordert.
An diesem Richterspiegel fällt uns besonders die Fürsorge auf, die den Armen und Fremdlingen, also den unteren Ständen, zugewendet wird. Tatsächlich ist das ein Zug, der durch die gesamte alttestamentliche Rechtstradition geht, und in dieser Hinsicht entfalten die Gebote eine Fürsorge für die Armen von einer Eindringlichkeit ohnegleichen. Hören wir einmal Bestimmungen des Pfandrechtes:
„Wenn du von deinem Nächsten ein Kleid zum Pfande nimmst, sollst du es ihm wiedergeben, ehe die Sonne untergeht; denn sein Kleid ist seine einzige Decke seiner Haut, darin er schläft. Wird er aber zu mir schreien, so werde ich ihn erhören; denn ich bin gnädig.“ (2. Mose 22,25.)
„Wenn du deinem Nächsten irgendeine Schuld borgst, so sollst du nicht in sein Haus gehen und ihm ein Pfand nehmen, sondern du sollst außen stehen, und er, dem du borgst, soll sein Pfand zu dir herausbringen.“ (5. Mose 24,10f.)
Oder das Zinsverbot:
„Wenn du Geld leihst einem aus meinem Volke, der arm ist bei dir, sollst du ihn nicht zu Schaden bringen und keinen Wucher an ihm treiben.“ (2. Mose 22,24.)
Immer wieder kehren diese Bestimmungen zu den Armen zurück und suchen auf jede Weise ihre Lage zu mildern und sie vor Ausbeutung zu schützen:
„Du sollst dem Dürftigen und Armen seinen Lohn nicht vorenthalten, er sei von deinen Brüdern oder den Fremdlingen, die in deinem Land und in deinen Toren sind, sondern sollst ihm seinen Lohn des Tages geben, daß die Sonne nicht darüber untergehe (denn er ist dürftig und erhält seine Seele damit), auf daß er nicht wider dich den Herrn anrufe, und es dir Sünde sei.“ (5. Mose 24,14f.)
Wer diese Gebote hört, der spürt, daß sie den ganzen Menschen beanspruchen. Niemand kann sagen, hier würde nur eine äußere Gehorsamsleistung gefordert, während Jesus erst die Gehorsamsfrage in die Gesinnung verlegt habe. Eine solche Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament ist falsch. Man denke doch nur an Gebote wie die folgenden:
„Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, auf daß du nicht seinethalben Schuld tragen müssest; du sollst nicht rachgierig sein, noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr.“
(3. Mose 19,17f.) [31]
Aufs erste fühlen wir uns dieser unbedingten sozialen Gesetzgebung ungemein verbunden, sie mutet uns ja fast modern an. Ist in ihr nicht schon alles das enthalten, was den großen sozialen Bestrebungen der letzten hundert Jahre auch vorgeschwebt hat? Trotzdem kommt jetzt alles darauf an, daß wir den entscheidenden Unterschied sehen: Die gesamten neueren, schon mit der Aufklärung erwachten sozialen Bestrebungen gehen vom Menschen aus, etwa von seinem Anrecht auf Glück, oder von der Würde des Menschen, oder von dem unendlichen Wert der einzelnen Seele, die nicht verkümmern darf, oder wie die Motive sonst geheißen haben mögen. Von alledem ist aber in den alttestamentlichen Geboten durchaus nicht die Rede; es geht nicht um irgendwelche Forderungen, die vom Menschen her erhoben werden, sondern ganz einfach um den Willen Gottes. Nicht weil der Mensch so wertvoll ist und so viele berechtigten Ansprüche an das Leben hat, sondern weil Gott es nicht will, soll das Recht nicht gebrochen und der Arme nicht unterdrückt werden. Und dieser Rechtswille bindet den Menschen auswegslos; der Mensch ist nicht gefragt, ob er dieses Verhältnis von sich aus bejahen und eingehen will. Er hört die Gebote und ist schon im Zustand einer Verpflichtung, aus dem er, auch wenn er es wollte, nicht mehr heraustreten kann. Vielleicht empfindet das mancher heute als eine Vergewaltigung und möchte sich gegen eine solche Beschlagnahme auflehnen. Das Alte Testament geht aber von der Grundvoraussetzung aus, daß der Mensch Gott gehört[11] und daß es seine vornehmste Aufgabe ist, Gott zu dienen und zu gehorchen.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch von dem Gebot der Feiertagsheiligung sprechen. Das Merkwürdige ist ja daran, daß wir den Sabbat nicht als den Tag eines besonderen Gottesdienstes verstehen dürfen; von irgendwelchen kultischen Begehungen, die dem Sabbat erst seine besondere Bedeutung geben, erfahren wir nichts. Nein, der Sabbat ist ein Ruhetag, allein um der Ruhe willen. Aber das ist nun keine Ruhe, die sich der Mensch selbst gönnt, je nach dem Maß der jeweilig bewältigten Arbeit, sondern eine Pause, die von außen her, von Gott her, dem Menschen verbindlich wird. Daß Gott einfach durch eine Enthaltung von Arbeit geehrt werden könne, will dem modernen Menschen vielleicht seltsam erscheinen. Aber die Arbeit erschien den Alten nicht als etwas Heiliges an sich, sondern vielmehr als etwas, das den Menschen doch immer auch Gott entfremdet. Und so wird gerade durch diese dem Menschen von außen her diktierte Ruhe das Alleinrecht, das die Arbeit auf den Menschen geltend machen möchte, bestritten. Man hat deshalb den Sabbat nicht unzutreffend ein Ruheopfer genannt. Aber man könnte ihn auch als den Normaltag bezeichnen, an dem der Mensch sich aus der Wirrnis seiner Tagesarbeit löst und sich ausstreckt nach einer Ordnung, [32] auf die hin diese Welt von Gott schon bei der Schöpfung angelegt war. Gott hat ja nach der Schöpfung selbst geruht und er hat diese Ruhe geheiligt. „Die Gottesruhe des siebenten Schöpfungstages, der keinen Abend hat, schwebt über dem ganzen Weltlauf“ (Öhler); das Leben des Menschen aber verliert sich in mancherlei Knechtschaft, wo es diese Ruhe nicht mehr wahrnimmt. Es ist ja auch ein Sehnen nach ihr in den von der Arbeit gedrückten Menschen; das weiß Israel von der Zeit her, als es selbst Knecht war im Lande Ägypten (5. Mose 5,14f.).
Einen ganz ähnlichen Gedanken finden wir in der Einrichtung des Sabbatjahres:
Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, so soll das Land einen Sabbat dem Herrn feiern. Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre deinen Weinberg beschneiden; aber im siebenten Jahr soll das Land seinen großen Sabbat dem Herrn feiern, darin du dein Feld nicht besäen noch deinen Weinberg beschneiden sollst. (3. Mose 25,2-4.)
Es handelt sich hier also um eine heilige Brache, die jeweils nach Ablauf von sechs Jahren ausgerufen werden mußte. Wir sprachen oben schon von dem Neujahrs- und Laubhüttenfest, das als ein Fest der Bundeserneuerung begangen wurde. An ihm nahm Gott die Gemeinde mit seinen Geboten wieder neu in Beschlag, er ließ sein Eigentumsrecht über dem Menschen neu ausrufen. Mit dem Fest der Bundeserneuerung verband sich aber an jedem siebenten Laubhüttenfest noch ein besonderer Brauch, eben die Ausrufung eines Sabbatjahres. Man hat die Einrichtung schon früh sozial gedeutet: Was in diesem Jahr der Boden an Ertrag brachte, sollte den Armen gehören (2. Mose 23,10f.). Das war aber wohl mehr eine Ergänzungsbestimmung über die Verwendung des in diesem Jahr Gereiften; der Zweck dieser Brache selbst war kein humanitärer, so wenig wie der des Sabbats selbst ursprünglich ein humanitärer war. Wir erfahren ihn aus einem Gebot, das zu den fundamentalsten aller Gebote des Alten Testaments gehört:
„Grund und Boden darf nicht endgültig verkauft werden, denn mein ist das Land und ihr seid Gäste und Fremdlinge bei mir.“ (3. Mose 25,23.)
Gott ist der Eigentümer des Landes! Er ist es, der es den Menschen zur Nutznießung vergibt. Das der Gemeinde immer wieder neu ins Bewußtsein zu hämmern, war der Sinn des Sabbatjahres. Der Mensch nimmt ja den Boden in Besitz; alle die heimlichen Kräfte der Scholle, die Schätze der Erde ergreift er und vergißt Gott, der ihm das alles gab. Vielmehr hält er es für seine Domäne, auf der er herumwirtschaften kann, ganz nach seinem Gutdünken. Er kann das Land kaufen, er kann es verkaufen, er kann es verpachten, lang- oder kurzfristig, wie es eben die Verhältnisse fordern. Aber dieser Eigen-[33]mächtigkeit, die der Mensch dem Boden gegenüber an den Tag legt, stellt Gott sein Eigentumsrecht gegenüber. Es unterliegt heute keinem Zweifel, daß dieses Gebot gerade in der alten Zeit Israels auch wirklich durchgeführt wurde. Die wirtschaftlichen Verhältnisse, die sich im Lauf der Jahre durch Verarmung und Verschuldung der einen und durch Bereicherung der anderen zu verschieben und zu verwirren pflegen, sollten nicht verewigt werden: „Grund und Boden darf nicht endgültig verkauft werden“; immer nach Ablauf von sechs Jahren mußte der Mensch einmal innehalten und seine Hand, mit der er das Land in Beschlag genommen hatte, zurückziehen, um damit auch äußerlich sichtbar ein Bekenntnis zu dem alleinigen Eigentumsrecht Gottes abzulegen. Darnach wurde in einer feierlichen kultischen Begehung von neuem das Los über das Land geworfen.
In der alten, patriarchalischen und vornehmlich bäuerlichen Kulturstufe war das Gebot des Sabbatjahres durchführbar. Aber auch für das alte Israel kam der Wandel in seinem Wirtschaftsleben, den jedes Volk im Lauf seiner Geschichte durchläuft. Die bäuerliche Naturalwirtschaft wurde allmählich abgelöst von einer vorherrschenden Geldwirtschaft; das kulturelle Leben konzentrierte sich in Städten; neben den freien Bauern auf seiner Scholle trat der handeltreibende Städter. Wie war es aber nun bei derart veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen mit der Einrichtung des Sabbatjahres? Wie konnte es auf den ins Stadium der Geldwirtschaft übergetretenen Städter überhaupt noch Anwendung finden? Auf diese Frage antwortet eine Fassung des Gebotes vom Sabbatjahr, die offensichtlich einer späteren Zeit entstammt:
„Alle sieben Jahre sollst du ein Erlaßjahr halten. Also soll’s aber zugehen mit dem Erlaßjahr: Wenn einer seinem Nächsten etwas borgte, der soll’s ihm erlassen und soll’s nicht einmahnen von seinem Nächsten oder von seinem Bruder; denn es heißt das Erlaßjahr des Herrn.“ (5. Mose 15,1f.)
Diese Neufassung des Gebotes vom Sabbatjahr ist ein schönes Beispiel für die Beweglichkeit und Elastizität dieser Gesetze. War die kulturell-wirtschaftliche Voraussetzung eines Gebotes dahingefallen, so wurde es der jeweils veränderten Lage angepaßt und so in die neuen Verhältnisse hineingesprochen. Hinfallen konnte ein Gebot Gottes nicht; es war nicht an bestimmte Kulturformen gebunden, sondern, einmal geoffenbart, stand es in unverbrüchlicher Gültigkeit über dem Menschen und seinen wandelbaren Lebensverhältnissen. Indessen ist es bei seiner Anwendung auf andere Verhältnisse doch nicht ganz dasselbe geblieben. Es ist in ihm weniger ein Hoheitsrecht Gottes verkündet, sondern ein Gebot der Bruderliebe. Groß und verpflichtend aber wirkt es vor allem durch seine radikale Verinnerlichung. Der, der in diesem Gebot zu den Menschen redet, fordert das ganze Herz und prüft die verborgensten Regungen. [34]
Hüte dich, daß nicht in deinem Herzen eine böse Tücke sei, daß du sprechest, es naht herzu das siebente Jahr, das Erlaßjahr, — und sehest deinen armen Bruder unfreundlich an und gebest ihm nicht; so wird er über dich zum Herrn rufen und es wird dir Sünde sein. Sondern du sollst ihm geben und dein Herz nicht verdrießen lassen, daß du ihm gibst, denn um solches willen wird dich der Herr, dein Gott, segnen in allen deinen Werken und in allem, was du vornimmst. (V. 9f.)
Wir sprachen oben schon davon, daß der Rechtswille Gottes in den Geboten das Ganze des menschlichen Lebens in Beschlag nehmen will. Es soll keinen Bereich des menschlichen Lebens geben — und sei er noch so verborgen —, über dem Gottes Hoheitsrecht nicht ausgerufen ist. Wer dieses Eindringen des göttlichen Willens in alle Winkel des menschlichen Lebens gesehen hat, diese Gehorsamsforderung, gerade da, wo der Mensch glaubt, mit sich allein zu sein, der hat etwas vom Wesentlichsten der alttestamentlichen Gebote verstanden. Es gibt im 5. Buch Mose eine Reihe von Geboten, an der diese Beanspruchung des Menschen bis in die verborgensten Verästelungen seines Lebens besonders eindrucksvoll ist.
Verflucht sei, wer einen Götzen oder ein gegossenes Bild macht, ein Greuel des Herrn und stellt es auf im Verborgenen. Und alles Volk soll antworten und sagen: Amen!
Verflucht sei, wer seinen Vater und seine Mutter unehrt. Und alles Volk soll sagen: Amen!
Verflucht sei, wer seines Nächsten Grenze verrückt! Und alles Volk soll sagen: Amen!
Verflucht sei, wer einen Blinden irremacht auf dem Wege! Und alles Volk soll sagen: Amen!
Verflucht sei, wer das Recht der Witwe und des Waisen beugt. Und alles Volk soll sagen: Amen!
Verflucht sei, wer bei seines Vaters Weibe liegt, … wer bei irgendeinem Vieh liegt, … wer bei seiner Schwester liegt, wer bei seiner Schwiegermutter liegt! Und alles Volk soll sagen: Amen!
Verflucht sei, wer seinen Nächsten erschlägt! Und alles Volk soll sagen: Amen!
Verflucht sei, wer Geschenke nimmt, daß er unschuldiges Blut vergießt!
Und alles Volk soll sagen: Amen! (5. Mose 27,15-25.)
Das Stück hat deutlich liturgisches Gepräge: Die Priester sprechen vor, das Volk antwortet und bekennt sich zu diesen Geboten. Auch diese Gebotsreihe hatte wohl ehedem ihren Ort am Höhepunkt einer Bundesverpflichtungsfeier am Laubhüttenfest. Überlesen wir sie noch einmal, so fällt uns auf, daß die einzelnen Sätze, so verschiedene Forderungen sie auch enthalten, doch eine Gemeinsamkeit haben. Es handelt sich nämlich bei ihnen fast durchweg um Verfehlungen, die Menschen im Verborgenen begehen. Ein Götze, heimlich angebetet — wir sprachen schon davon — wer erfährt das? Ein nächtlich verrückter Grenzstein, Unehrerbietigkeit den Eltern gegenüber, die Gemeinheit, [35] daß einer einen Blinden irre führt, — wer sieht das, welches Gericht ahndet solche Vergehungen? Und dann das weite Gebiet des Geschlechtlichen! Was kommt denn von alle den geschlechtlichen Vergehungen wirklich vor den irdischen Richter? Das ist das Großartige, daß die alttestamentliche Gemeinde die göttlichen Gebote auch für die Gebiete anerkennt, wo der Mensch nicht mehr unter der Aufsicht der Gemeinschaft im Lichte der Öffentlichkeit handelt. Es gibt ja manche Lebensbereiche, für die ist der Arm der irdischen Gerichtsbarkeit zu kurz, oder vielleicht auch gar nicht mehr zuständig. Aber auch über ihnen wacht Gott, und die Gemeinde muß diese Richtergewalt auch über so Verborgenes anerkennen. Die besonders strenge Sprache dieser Gebotsreihe will dem Irrtum wehren, als sei der Mensch in solchen Lagen vor dem Richterauge Gottes weniger offenbar.
Blicken wir zurück auf die von uns angeführten und kurz erklärten Gebote, so sind es wohl zunächst zwei Eindrücke, die sich uns unmittelbar aufgedrängt haben: Dieses Ernstnehmen der Erde! Aus diesen Geboten spricht ein Diesseitswille Gottes, dem nicht ausgewichen werden kann. Gott redet mitten hinein in alle menschlichen Bereiche, und hier, auf dieser Erde, will er den Gehorsam ohne Aufschub und Verklausulierung. Das andere, worüber wir staunen, ist der Wille zur Gemeinschaft. Gott will unter den Menschen eine Gemeinschaft, die auf dem Fundament seiner Gebote steht, und die von seinem Willen geordnet ist. Denn die Erde und der Mensch gehören Gott. So klingt der Anfang des 24. Psalms wie eine umfassende Schlußfolgerung aus der Offenbarung der Gebote:
„Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnt.“
Das ist’s, was die Gebote wollen: Sie führen den Menschen in den Gehorsam Gottes zurück. Ihm ist er zugehörig, ihm soll er erbötig sein vor allem anderen, ihm soll er verbunden sein in Dank und Anbetung. Ja, es wird der alttestamentlichen Gemeinde eingeschärft, daß sie diesem Gott die höchste und reinste Liebe schulde:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen.“ (5. Mose 6,5.)
Das ist nach Jesu Wort, Mk. 12,29, „das vornehmste Gebot“. „Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,18).
Wir wollen jetzt, nachdem wir ungefähr dargetan haben, was der Wille Gottes in den Geboten ist, eine andere Frage stellen: Wie hat die Gemeinde des Alten Bundes diese Willensoffenbarung Gottes empfangen? Wie hat sie, als die von ihr nächstbetroffene, darüber gedacht? Die Antwort auf diese [36] wichtige Frage lautet überraschend eindeutig, und sie ist geeignet, die Vorstellung vieler Christen von dem alttestamentliche« „Gesetz“ über den Haufen zu werfen. Es ist nämlich eine Stimme des Staunens und des Dankes über das Wunder dieser Willensoffenbarung, die wir da hören. „Er hat uns wissen lassen sein herrlich Recht und sein Gericht“, das ist der Grundton, auf den die vielen Zeugnisse abgestimmt sind, die auf die Offenbarung der Gebote antworten. Man sah in ihnen eine Offenbarung von Gottes Gnadenwillen; die Gebote waren die untrüglichste Bürgschaft, daß Gott die Gemeinde wollte, er hatte ihr ja die Ordnungen gegeben; wozu denn, wenn nicht dazu, daß sie vor seinem Angesicht leben könne. Wir finden im ganzen Alten Testament nicht ein Wort, das die Gebote als eine Last bezeichnet, die das Leben zur Mühsal macht. Dagegen lassen uns die Psalmen 119 und 19,8ff. etwas wissen von dem inbrünstigen Dank und der Seligkeit, mit der die alttestamentliche Gemeinde die Gebote aus der Hand Gottes empfangen hat. In diesen beiden Psalmen stoßen wir immer wieder auf einen Gedanken: In der Willensoffenbarung Gottes ist dem Menschen das Leben, wahres Leben vor Gott angeboten. Denn eine Gemeinschaft, die Gott zu ordnen und nach seinem Willen aufzubauen sich angeboten hat, was kann das anderes sein als eine Gemeinschaft wahren Lebens? Und die große Abschiedsrede des Mose im 5. Buch des Mose spitzt sich an ihrem Ende immer mehr auf diesen einen Gedanken zu:
„Dies Wort (Gottes) an euch ist kein leeres Wort, sondern es ist euer Leben.“
(5. Mose 32,47.)
Leben — dazu müßten wir eigentlich weiter ausholen — Leben ist nach dem Zeugnis der Bibel freilich etwas anderes, als wir es immer ansehen wollen. Nicht einfach eine geheimnisvolle, innerweltliche Mächtigkeit; etwas, das der Mensch „hat“ und das an ihm selbst heilig sei und seine eigene Gesetzlichkeit habe. Leben ist nicht ein „Mysterium“, eine sakrale Mächtigkeit an sich, sondern eine Gabe aus der Hand Gottes. Gott gehört das Leben und der Mensch hat Leben — und das ist nun eigentlich sehr merkwürdig! — nur im Einklang mit Gottes Willen. Im Ungehorsam gelebtes Leben ist vor Gott verwirktes Leben. Hören wir einmal, wie Mose eben in seiner Abschiedsrede vom Leben spricht:
„Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse; der ich dir heute gebiete, daß du den Herrn deinen Gott liebest und wandelst in seinen Wegen … Wendest du aber dein Herz und gehorchst nicht, sondern lässest dich verführen, daß du andere Götter anbetest, und ihnen dienest, so verkündige ich euch heute, daß ihr umkommen und nicht lange in dem Lande bleiben werdet, dahin du einziehest über den Jordan, es einzunehmen. Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, [37] Segen und Fluch vorgelegt, daß du das Leben erwählest, und du und dein Same leben möget.“ (5. Mose 30,15-19.)
Wie merkwürdig ist da vom Leben und vom Tod geredet! Gar nicht so, als ob die Hörer schon beides „hätten“, als sei ihnen beides schicksalhaft beigegeben, und als seien die Menschen, die sich nun so ungefähr auf halbem Wege zwischen dem Antritt des Lebens und seinem Ende befänden. Sondern sie sind angeredet als Menschen, die im Hören des Wortes Gottes erst eigentlich hineingetreten sind in die Entscheidung über Leben und Tod! — Und damit könnten wir unser Kapitel eigentlich schließen, denn das ist das Wort des Alten Testaments von den Geboten: Daß in ihnen dem Menschen das Leben angeboten ist und daß sie eine Offenbarung des göttlichen Gnadenwillens sind.
Es wäre nun freilich nötig, daß wir den ganzen 119. Psalm sorgsam lesen. Wir würden dann freilich noch dringlicher auf die Frage gestoßen, die uns gewiß schon vorhin bewegt hat: Wie war es denn mit der Erfüllbarkeit dieser Gebote? Sollten denn diese Menschen gar nichts gesehen haben von dem weiten Abstand zwischen unserem Gehorsam und der hohen Forderung Gottes an den Menschen? Wo ist denn die Stimme des Gewissens in ihrer Brust, die sie verklagen mußte, wenn sie auf ihre stückliche Gehorsamsleistung sahen? Die Frage wird — wie wir sagten — gerade am 119. Psalm dringlich. Konnte denn der Beter ehrlicherweise sagen: „Ich habe Lust zu deinen Geboten“ (V. 143), „ich halte von ganzem Herzen deine Befehle“ (V. 69), „das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viel tausendmal Stücke Gold“ (V. 72), „es ist meines Herzens Wonne“ (V. 111). Durfte er von sich sagen, er „hange“ an Gottes Zeugnissen (V. 31), und dann das Wort von dem „großen Frieden“, den die haben, die „Gottes Gesetz lieben“ (V. 165), — war denn dieser Friede bei ihm wirklich eingekehrt und nicht viel mehr Beunruhigung und Verzagen? Nun, diese Frage müssen wir im Grund an sehr viele Zeugnisse der Psalmensänger richten. Wie riesenhaft weit greifen z. B. die Aussagen am Anfang des 103. Psalms aus; sie greifen hinaus aufs Letzte und Allerletzte („der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben von der Grube erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit“). Und Über die Besiegung des Todes durch das Heil Gottes kann wohl nicht totaler und endgültiger gesprochen werden als im 118. Psalm: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen“ (Ps. 118,17). Wir werden alle diese Zeugnisse und auch die unseres 119. Psalms nicht anders verstehen können als daß sie auf eine Erfüllung hin gesprochen sind, die tatsächlich noch jenseits dieser Beter lag. Sie reden also weniger von ihrer persönlichen Erfahrung als von einer Gewißheit, die ihnen durch das Angebot der göttlichen Verheißung geschenkt war. Auch in der [38] Offenbarung der Gebote war eine Verheißung vorhanden, nämlich die Verheißung eines Menschen, der diesem Willen Gottes ganz gehorsam sein wird. Dieser Wille Gottes an den Menschen konnte nicht hinfallen, sondern in dieser totalen Beschlagnahme des Menschen durch Gott lag zugleich die Bürgschaft der Erfüllung. Von diesem Bild des Gott gehorsamen Menschen reden die Zeugnisse des 119. Psalms, das nehmen sie für sich in Anspruch, sie stellen sich selbst im Bilde dieses Gehorsams dar; wir Christen müssen sagen, sie reden von dem Gehorsam Jesu Christi.
Von dem Unvermögen und von dem Versagen des Menschen gegenüber der Willensoffenbarung Gottes hat die Gemeinde des Alten Bundes sehr wohl gewußt. Es gibt kaum ein Kapitel in den Büchern der Propheten, in dem nicht schneidende Anklagen gegen den Ungehorsam und Starrsinn der Menschen erhoben werden. Die Propheten waren ja Männer, denen das Schreckliche aufgetragen war, lebenslang an dem Abgrund zwischen Gott und den Menschen zu stehen. Aber diesen Männern, die in ihrer Zeit Gottes totales Gericht über den Menschen sehen und verkündigen mußten, ist zugleich die Erleuchtung geschenkt worden, daß die Zeit nicht ferne sei, wo Gott sich selbst aufmachen werde, um die Kluft zu überbrücken und um die große Not zwischen sich und den Menschen zu heilen. Sie haben geweissagt, daß Gott einen neuen Menschen schaffen werde:
„Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben, und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen, und euch ein fleischernes Herz geben; ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und darnach tun.“ (Hes. 36,26f.)
Achten wir wohl darauf, hier ist wieder von den Geboten die Rede. Aber nun wird davon gesprochen, daß Gott durch das Wunder einer Wiedergeburt von oben das Herz des Menschen zu den Geboten willig machen und dem geoffenbarten Gotteswillen zukehren werde. Noch deutlicher hat von diesem Wunder Jeremia geweissagt:
„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen … Das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben; und sie sollen mein Volk sein, so will ich ihr Gott sein; und wird keiner den anderen, noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: erkenne den Herrn, sondern sie sollen mich alle kennen, beide groß und klein, spricht der Herr. Denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünden nimmermehr gedenken.“ (Jer.31,31-34.)
Man hat diese berühmte Stelle oft mißverstanden. Es steht nichts davon da, daß mit dem Neuen Bund die Gottesoffenbarung des Alten hinfalle. Wie [39] könnten die Gebote hinfallen oder Gott seine Willensoffenbarung zurücknehmen! Aber das Verhältnis des Menschen zu den Geboten wird im Neuen Bund ein anderes sein. Man wird ihm die Gebote nicht mehr von außen zusprechen müssen, sie werden ihn nicht mehr als ein fremder Wille treffen und ins Gericht führen, sondern er wird sie als seinen eigenen Willen im Herzen tragen.
Jesus Christus hat in der Nacht, da er verraten war, diese Jeremia-Stelle seinen Jüngern vor Augen gestellt und von dem Neuen Bund gesprochen, der in seinem Blut geschlossen wird. Er war der, der Gottes Willen ganz in seinem Willen und Herzen getragen hat, und in ihm und seinem vollkommenen Gehorsam ist uns der Neue Bund, die neue Gemeinschaft mit Gott, geschenkt. Er ist, wie Paulus sagt, der Erstgeborene vieler Brüder (Röm. 8,29). Weil aber unser neues Christus-Leben in dieser Weltzeit noch „mit Christo verborgen ist in Gott“ (Kol. 3,3), weil wir noch in einem Leibes- und Willensleben stehen, das noch in die Knechtschaft der Sünde verkauft ist, darum haben die Gebote des Alten Testaments auch für uns noch eine bewahrende und wegweisende Bedeutung. Aber die uns durch Christus geschenkte Gemeinschaft mit Gott können sie uns nicht nehmen; zum Gesetz, das uns verdammt, können sie nicht mehr werden.
Der Weg von der Verheißung zur Erfüllung
Die Mose-Geschichten sind im Alten Testament nur ein Teil eines großen in sich geschlossenen Buches, das mit dem ersten Buch Mose beginnt und im Buche Josua (mit der Landnahme des Volkes Israel) endet. Die „Bücher“, die der Bibelleser kennt und oft fälschlich für gegeneinander abgegrenzte Bücher hält — 2. 3. 4. 5. Buch Mose, Josua — sind nicht mehr wie einzelne Hauptabschnitte jenes großen Buches, das man in der Wissenschaft den Hexateuch nennt. Es war in der Praxis nötig geworden, die riesenhafte Stoffmasse jenes Werkes von der Weltschöpfung bis zur Landnahme nachträglich einigermaßen zu gliedern. Natürlich muß der Leser der Mose-Geschichten um dieses Buch, d.h. um den großen übergreifenden Zusammenhang, wissen; denn wo dürften wir sonst ein Stück aus einem Buch herausgreifen, ohne das Ganze zu berücksichtigen?
Der Inhalt dieses Buches mutet uns freilich sonderbar genug an: Von der Weltschöpfung bis zur Landnahme! Was für ein monumentaler Anfang und am Ende, was für ein unansehnliches Ziel: Landnahme des Volkes Israel?! Und ein solcher Weg zu diesem Ziel! Was für ein Aufwand an Führungen, Wundern und Gerichten; und seitens der Menschen was für ein Aufwand an Begeisterung und Niedergeschlagenheit, an Gehorsam und [40] Auflehnung für dieses Ziel! Und doch, eben das will dargestellt sein, nämlich wie Gott in einer Welt, die sich von ihm getrennt hat, heimlich einen Weg des Heiles und des Segens anbahnt. An dem wichtigen Angelpunkt des ganzen Werkes, d. h. bei dem Übergang der universalen Urgeschichte in die partikulare Heilsgeschichte, steht ja das programmatische Wort an Abraham: „Ich will dich segnen und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden!“ (1. Mose 12,3). Hier am Anfang der alttestamentlichen Heilsgeschichte wird schon ein Wort von ihrem Ende gesagt: Es wird die Überbrückung der Kluft zwischen Gott und den Menschen insgesamt als das Fernziel des mit Abraham begonnenen Weges geweissagt; also eine Einschränkung des göttlichen Heilsplanes ins Universale ist angedeutet, ein Heil, das am Ende weit über die Grenzen Israels hinaus eine Bedeutung für die Menschheit haben wird. Und das soll mit der Landnahme gezeigt sein: wie Gott in dieser verworrenen Erde auf ein Land seine Hand legt, so, wie wir Menschen an einem unordentlichen Tisch ein paar Dinge beiseite schieben, wenn wir etwas Ernsthaftes daran treiben wollen. Welche Entäußerung Gottes und welches heimliche Wunder!
Daß Gott sich ein Land ausgesucht haben soll, um seine Hand darauf zu legen, verwundert uns. Aber darin bahnt sich ja der ganze Diesseitswille Gottes an, und wir müssen daran denken, daß auch bei dem geistigsten und universalsten aller alttestamentlichen Propheten, nämlich bei dem 2. Jesaja, das ganze Gewicht der Weissagung wieder niederfällt auf das Land. Rückkehr der Gemeinde in das verheißene Land! (Jes. 49,14-21; 52,7-12; 54). Hier auf dieser Erde verwirklicht sich Gottes Heil. Es geht also nicht zuerst um Gedankliches, also etwa um eine religiöse Erneuerung des Menschen. Nicht das ist das erste, daß diesen Menschen ein neues Gottesverhältnis zugesprochen wird. Das alles geht doch Hand in Hand mit jenem anderen, der Landverheißung. Gott wollte also seinen Anspruch und seine Verheißung hinunterlegen in das unterste Fundament aller menschlichen Existenz, und das ist doch die Erde. Damit erst sind alle die tiefen Konflikte gegeben zwischen dem Menschen und eben diesem göttlichen Anspruch; damit ist das Werk Gottes an dem Menschen wirklich in den Raum eingetreten, in dem sich bekanntlich hart die Sachen stoßen. Mit der Wahl dieses Landes ist im letzten auch der Ort Golgatha mit gesetzt und gewiß nicht nur im geographischen Sinn!
Dies ganze Buch (von 1. Mose bis Josua) ist nun inhaltlich nach dem Schema Verheißung — Erfüllung aufgerissen. Die Väterzeit ist die Zeit der Verheißung, die Landnahme unter Josua ist die Erfüllung. Der Weg von Ägypten durch die Wüste nach Kanaan ist also der Weg der Gemeinde von der Verheißung zur Erfüllung, und in all den verschiedenen Erzählungen dieser Wanderung ist etwas dargestellt, das für den Weg des Menschen von der Verheißung zur Erfüllung typisch ist. Ja, es sind Vorkommnisse und Si-[41]tuationen aufgezeigt, die sich nur auf diesem Weg und nirgends sonst ereignen könnten, denn es sind Situationen, in die diese Menschen als von Gottes Gnade berufene und geführte Menschen gekommen sind. Wir sagten, daß in allen diesen Geschichten etwas enthalten sei, das typisch ist für den Weg der Menschen von der Verheißung zu der Erfüllung. Wir hätten auch sagen können, daß sich in ihnen schon etwas abschattet von dem Weg zur Erfüllung, auf dem sich die Gemeinde Jesu Christi auf dieser Erde befindet. Es sind Nöte und Durchhilfen gezeichnet, die sich immer wieder, auch bei uns, ereignen werden, solange wir noch im Glauben und noch nicht im Schauen leben.
Schon den Propheten erschien die Zeit, die Israel in der Wüste verbrachte, als die Zeit, in der das Verhältnis der Gemeinde zu Gott am reinsten und ursprünglichsten sichtbar wurde. In der Wüste lag Israel noch nicht in der verführerischen Umschlingung der Landeskultur; es konnte noch nicht zu anderen Völkern laufen, um sich bei ihnen mit Bündnissen zu sichern; da war es mit aller seiner Not wirklich ganz auf Gott geworfen, es war „im ungebahnten, finsteren Lande“ (Jer. 2,6) allein auf seine Führung angewiesen. Nichts war da, das sich zwischen die Gemeinde und ihren Herrn drängen konnte. Angefangen beim täglichen Brot, mußte sie sich allen Bedarf von Gott gewähren lassen. Das ist der Grund, weshalb diese Erzählungen die Not und die Verheißungen der Gemeinde in fast urbildlicher Gestalt zeigen. Paulus sagt von einer dieser Geschichten (2. Kor. 10,11): „Solches alles widerfuhr jenen zum Vorbild (als Exempel). Es ist aber geschrieben uns zur Warnung.“
Bei der Mannageschichte, besonders in ihrem zweiten Teil (ab V. 16), ist es z. B. mit Händen zu greifen, daß der Erzähler nicht einfach eine seltsame Begebenheit aus der ältesten Zeit Israels berichten will. Die Erzählung will zwar dem Ereignis den Charakter eines einmaligen Wunders in der Wüstenzeit nicht nehmen, aber die ganze Art der Schilderung zeigt doch, daß in diesem Wunder etwas offenbar wurde, was für das Verhältnis der Gemeinde zu Gott von grundsätzlicher Bedeutung ist. Über das Einmalige hinaus weitet sich die Erzählung zu typischer Gültigkeit aus. Nachdem das Manna gefallen war, ziehen die Männer aus zum Sammeln; darnach aber fand es sich, daß jeder genau den für ihn und seine Familie nötigen Bedarf gesammelt hatte. Sie hatten einfach darauflosgesammelt, „einer viel, der andere wenig“, und doch ergab sich am Ende weder ein Mangel noch ein Überschuß. Hier will doch der tröstliche Gedanke ausgesprochen sein, daß Gott jedem das Seine gibt; gerade das, was er in seiner besonderen Lage braucht, wird ihm Gott gewähren. Bedeutsam ist auch der andere Zug in der Geschichte: Das Manna ließ sich nicht aufbewahren. Einige hatten versucht, es aufzuspeichern, da ist es ihnen verdorben. Man kann eben über das, was Gott uns geben will, [42] nicht eigenmächtig verfügen, man muß es sich geben lassen Tag für Tag. Von Gott kann man wirklich nur von der Hand in den Mund leben. Noch geistlicher als hier ist an einer Stelle des 5. Buches Mose das Mannawunder verstanden:
„Gedenke alles des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat diese 40 Jahre in der Wüste … Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Manna, das du und deine Väter nie gekannt hattet; auf daß er dir kundtäte, daß der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des Herrn geht.“ (5. Mose 8,2f.)
Nach dieser Stelle war das Manna gar keine Speise für den Leib, sondern es sollte die Menschen lehren, daß alle leibliche Speise für den Menschen nicht ausreicht; wirklich leben kann er nur, wenn Gott ihm sein Wort gibt.
Einen tiefen Einschnitt in den jetzigen Erzählungszusammenhang von der Wüstenwanderung bildet die Kundschaftergeschichte (4. Mose 13f.). Sie gibt die Antwort auf die Frage, warum die Gemeinde das Verheißungsland nicht auf dem nächsten Weg (von Süden nach Norden wandernd) in Besitz genommen hat, und warum die ganze Generation der Erwachsenen nach langem Umherwandern in der Wüste hat sterben müssen, ohne die Erfüllung gesehen zu haben. Die Kunde, die die ausgesandten Männer bringen, ist zwiespältig. Das Land ist sehr schön (13,27; 14,7), aber wie soll Israel es einnehmen; die Schwierigkeiten sind ja unüberwindlich. So waren sie schlechte Zeugen von der göttlichen Verheißungsgabe. Sie machten dem Lande „ein bös Geschrei“ (13,32; 14,37), und im Nu war das Volk von ihrem Kleinglauben angesteckt. Es kommt ein Erschrecken über die Größe des göttlichen Planes über sie; nun sehen sie, worauf sie sich eingelassen haben, und sie fahren zurück, weil sie Gott nicht zu vertrauen vermögen. Sie sehen das menschlich Unmögliche und verzagen ganz; ja, sie wollen sich Anführer wählen, die sie wieder nach Ägypten zurückbringen sollen (14,4). So sind sie dabei, nicht weniger als alles das preiszugeben und zu verraten, was Gott unter ihnen bisher an Heilstaten hat geschehen lassen und noch weiter zu wirken verheißen hat. Nur Josua und Kaleb strafen diesen Unglauben:
„Wenn der Herr uns gnädig ist, so wird er uns in das Land bringen und es uns geben, ein Land, darin Milch und Honig fließt. Fallet nur nicht ab vom Herrn … Der Herr ist mit uns.“ (4. Mose 14,8.)
Als aber das Volk diese Männer, die allein Gott die Ehre gegeben haben, steinigen will, da erscheint Gott zum Strafgericht (14,10f.), denn das Volk hat Gott gelästert. Wunderbar ist Gottes Antwort auf das Gebet des Mose. Auch ein so abgrundtiefer Unglaube einer ganzen Generation kann Gottes Heilswerk nicht zunichte machen. Das Versagen dieser Gemeinde kann Gott nicht irre machen in seinem Plan, dereinst doch der ganzen Welt sein Heil offenbar werden zu lassen. [43]
„Aber, so wahr als ich lebe, so soll alle Welt der Herrlichkeit des Herrn voll werden.“ (4. Mose 14,21.)
Aber diese Generation darf das Verheißungsland nicht betreten. Und nun fügt es sich seltsam: Aus der Sorge um das Wohl ihrer Kinder heraus haben sie gemeint, dem Ruf Gottes ungehorsam werden und umkehren zu müssen nach Ägypten (14,3), und nun werden sie umkommen, aber ihre Kinder werden die Erben der Verheißung sein (14,31)! Auf diese Kunde hin erwacht der Trotz im Volk, und was sie Gott nicht zugetraut haben, das nehmen sie nun selbst in die Hand. Sie wollen das Land eigenmächtig erobern. Mose warnt sie vergeblich: „Der Herr wird nicht mit euch sein!“
„Aber sie waren störrig, hinaufzuziehen auf die Höhe des Gebirges; aber die Lade Les Bundes des Herrn und Mose kamen nicht aus dem Lager. Da kamen die Amalekiter und Kanaaniter, die auf dem Gebirge wohnten, herab, und schlugen und zersprengten sie bis gen Horma.“ (4. Mose 14,44ff.)
Ausführlicher wollen wir zum Schluß von der Bileam-Geschichte handeln (4. Mose 22-24). Das Volk Israel ist nun in „den Gefilden Moab, jenseits des Jordans, gegenüber Jericho“ angekommen; in dieser Lage, also unmittelbar vor dem Eintritt in die Erfüllung, droht ihm eine Gefahr, größer wohl als alle, denen es bisher ausgesetzt war. Die Erzählung beginnt, indem sie in starken Ausdrücken die Furcht und das Grauen Balaks, des Königs von Moab, vor den Heranrückenden schildert. Balak will sich ihrer, die er als barbarische Unruhestifter empfindet, erwehren. Er tut aber nicht das scheinbar Nächstliegende: Er greift nicht selbst zu den Waffen, er setzt nicht seine äußeren Machtmittel ein, sondern er entsendet Boten zu dem Zauberer Bileam: „Komm und verfluche mir das Volk, denn es ist mir zu mächtig“. Fluch ist nach der Anschauung der Alten mehr als ein böses Wort; wer flucht, der weckt die dämonischen Gewalten, die unseren Lebensbereich umlagern. So ein Wecken und Mobilisieren der dunklen Kräfte aus der Tiefe ist dem Menschen deshalb möglich, weil in diesen Gewalten selbst eine lüsterne Bereitschaft zum Zerstören ist; und manche Menschen haben eine unheimliche Vollmacht und Befehlsgewalt über diese Mächte. So einer war Bileam und er war deshalb in weitem Umkreis als Zauberer bekannt. Mit seiner Hilfe hofft Balak die Gemeinde an der innersten Wurzel ihrer Existenz zu treffen. Auch derlei ist in der Welt für Bezahlung zu haben. Bezeichnend ist freilich doch das Vielleicht in V. 6. Auch das ist für ihn nur eine Möglichkeit; eine letzte Ungewißheit über den Erfolg dieser Unternehmung bleibt bestehen. Und dieser Unsicherheit stellt nun die Erzählung etwas ganz Sicheres und Gewisses auf Seiten Gottes gegenüber.
Wenn wir nun hören, daß Bileam nach der Ankunft der Gesandtschaft Gott befragt habe, und daß Gott ihm erst verboten und dann gestattet habe, [44] dem Ruf Folge zu leisten, so müssen wir uns klar sein, daß Bileam von sich aus natürlich keine Kenntnis des lebendigen Gottes hat; er wendet sich an seine Götzen, aber was vermögen diese? Da nun aber doch der lebendige Gott — ohne daß die Heiden das wissen — alles wirkt und lenkt, so weist der Erzähler auf ihn hin. Er war es, mit dem es Bileam im Letzten zu tun hatte. Außerdem müssen wir eine literarische Unstimmigkeit in Kauf nehmen. Der Abschnitt von der Begegnung Bileams mit dem Engel des Herrn (V. 22ff.) kann nicht einfach die Fortsetzung des Vorigen sein. Er beginnt noch einmal damit, daß Bileam gewarnt wird. Die — übrigens besonders fein geschilderte — Szene mit der Eselin spinnt die so seltsame Begegnung Gottes mit dem Zauberer noch weiter aus, als das in V. 9-21 geschehen war. Mit V. 35 sind wir wieder da, wo wir in V. 20 schon waren. Bileam zieht mit dem Fürsten Balaks fort.
Aber nun die Hauptsache! Bileam hat endlich den Engel des Herrn gesehen; er tut nun das, was jeder Leser erwartet: er erbietet sich, umzukehren (V. 34). Aber — und das ist das Überraschende! — das soll er gar nicht. Diese wichtige Stelle könnte man im Aufbau der Erzählung das „erregende Moment“ nennen. Jeder Leser war mit Besorgnis dem Gang der Dinge gefolgt, denn Bileams Absicht war eine furchtbare: die Verfluchung der Gemeinde. Wäre Bileam hier wieder heimgeschickt worden, so wäre unsere Geschichte eine sehr einfache erbauliche Erzählung davon, wie Gott wieder einmal Unheil von der Gemeinde abgewandt hatte. Aber nun läßt Gott den Zauberer ziehen; er verlegt ihm nicht den Weg, er schlägt ihn nicht in seinem Zorn, nur die Worte will er lenken, die Bileam sprechen wird. Hier spricht die Geschichte einen wichtigen Bestandteil des alttestamentlichen Glaubens aus: Gott lenkt die Geschichte und die Geschicke nicht so, daß er den Menschen fortgesetzt bei ihren Anschlägen in den Arm fällt. Nein, er läßt sie handeln; sie handeln scheinbar ganz nach ihren Plänen, und doch müssen sie gerade darin Gottes Werkzeug und ihm zu Willen sein.
Bileam kommt nach Moab und geht gleich ans Werk. Balak führt ihn auf einen Berg, von wo aus er das Volk im Tal zelten sieht, aber nur das äußerste Ende; mehr kommt nicht in sein Gesichtsfeld (22,41)! Für den modernen Leser mag an dieser Stelle wohl das psychologische Problem wichtig werden: Wie stand denn Bileam selbst nach der Begegnung mit Gott zu seinem Vorhaben? Indessen das ganze Interesse der Erzählung ist auf das, was Bileam sagen wird, gerichtet. Bileam an sich ist gar nicht mehr so wichtig; seine Figur bleibt in einem gewissen Dämmerlicht, und das soll gerade so sein. Wie im Folgenden die Gestalt des hochberühmten Sehers geradezu zu einer Marionette in der Hand Gottes wird, werden wir gleich sehen. Aber darüber läßt die Erzählung keinen Zweifel: Bileam trifft alle Anstalten zu [45] fluchen. Er läßt sich zu diesem Zweck auf eine Höhe führen, sieben Altäre werden errichtet, es wird geopfert, er wechselt nach der Weise solcher magischer Riten geheimnisvoll den Ort seines Sprechens. Mit voller Absicht werden diese zauberischen Praktiken geschildert. Um so schroffer tritt dann der Widerspruch hervor, in dem seine Segensworte zu diesem Hokuspokus stehen. Dem Erzähler liegt daran, diesen Widerspruch herauszuarbeiten; hier liegt ja der Sinn der ganzen Geschichte: Bileam ist im Grunde ganz willenlos, er handelt schemenhaft, Absicht und Erfolg seines Tuns brechen völlig auseinander; er wirkt geradezu als Karikatur. Er handelt — von sich aus sogar sehr ernsthaft—, aber nunmehr, nachdem er sich gegen die Gemeinde Gottes gestellt hat, verfügt er (ganz gegen seinen alten Ruhm als Zauberer!) nicht mehr über die Wirkung seiner Worte, ja nicht einmal über seine Worte verfügt er noch.
Nach dem eben Gesagten, kann man sich vorstellen, mit welcher Spannung der alte Leser die Sprüche Bileams erwartet hat. Und gleich im ersten Spruch eröffnet sich das große Wunder: Trotz aller seiner Zauberpraktiken kann Bileam gar nicht fluchen:
„Wie soll ich fluchen, dem Gott nicht flucht? Wie soll ich schelten, den der Herr nicht schilt?“ (4. Mos. 23,8.)
Damit ist die Bileam-Geschichte auf ihre Höhe gekommen. Die geheimnisvolle Innenseite jenes seltsamen Geschehens kehrt sich nach außen, und ein prophetisches Wort beleuchtet den dem Menschen nicht erkennbaren göttlichen Willen, der in und hinter den menschlichen Anschlägen wirkt. An dem Segen Gottes hat die leidenschaftlichste Verfluchung ihre Grenze. — Wundervoll ist, wie Bileam von seiner Bergeshöhe das ahnungslos im Talgrund zeltende Volk sieht:
„Ja, von der Höhe der Felsen sehe ich es wohl, und von den Hügeln schaue ich’s. Siehe, ein Volk, abgesondert wohnt es und rechnet sich nicht zu den Heiden.
So hat sich die alttestamentliche Gemeinde je und je selbst gesehen. In seinem Erzvater herausgerufen aus der Gemeinschaft der Völker, war es beschenkt mit einer sonderlichen Gotteserkenntnis und mit der Verheißung, einmal Vermittler eines universalen Heiles für die Völker zu werden (1. Mose 12,3). So glaubte dieses Volk von Gott selbst in eine eigentümliche Isolierung geführt zu sein und gerade seine großen Gottesmänner waren leidenschaftlich auf die Abgrenzung seines Glaubensbesitzes von allem Heidentum bedacht. Am Ende dieses Spruches muß Bileam merkwürdig unvermittelt an seinen eigenen Tod denken:
Meine Seele müsse sterben des Todes dieser Gerechten, und mein Ende werde wie dieser Ende.“ (4. Mose 23,10.)
Der ahnungslose Frieden des im Tal lagernden Israel ist ein Bild dafür, wie dieser Kampf Gottes gegen die Mächte dämonischen Fluches völlig jen-[46]seits menschlicher Machtfragen liegt. In diesem Krieg geht es nicht um menschliche Siege oder Niederlagen, sondern um Heil oder Unheil im letzten glaubensmäßigen Sinn. So ist auch das Kräftespiel in dieser Szene, die wir vor uns sehen, überaus merkwürdig. Die eigentlichen irdischen Kontrahenten sind ganz untätig. Balak schaut dem Bileam zu und Israel zeltet ahnungslos im Talgrund. Handelnd sind allein die Mächte oberhalb des irdischen Kräftespiels. Hie Bileam, der Macht hat, die dämonischen Gewalten zu mobilisieren (oder besser: der in der Macht der dämonischen Gewalten ist), hie Gott, der Herr. Und wieder sagen wir: Das eben will der Erzähler zeigen; die Entscheidung in diesem Kampf fällt nicht bei Menschen, sondern in einer höheren Dimension. Die Reformatoren würden gesagt haben: zwischen Gott und dem Teufel.
In den folgenden Segenssprüchen weitet sich nun der Blick des Sehers immer mehr. Es ist, als wüchse das Charisma des Zauberers, der sich langsam in den Willen Gottes zu ergeben beginnt (24,1). Gott lügt nicht! Ein von ihm gesprochenes Wort kann nie hinfallen (23,19). Nur von dieser so einfachen Grundvoraussetzung her erklärt es sich, wie die Erwartung eines kommenden Heiles und Gerichtes in Israel zu einem so gewaltigen Strom anschwellen konnte. Immer wieder sind Propheten aufgestanden und haben geweissagt; und was in der Gegenwart unerfüllt blieb, das mußte eben als Erwartung durch die Generationen getragen werden, bis es Gott gefiel, sich zu verherrlichen. Hinfallen konnte keine seiner Zusagen. Es gab in Israel eine Art Adventsfest, eine kultische Feier, in der das Kommen Gottes und seines Reiches festlich begangen wurde. Die Gemeinde des Alten Bundes sah, daß in der Welt noch vieles der Königsherrschaft Gottes widerstrebte, und deshalb stand sie in einem heißen Warten auf die endgültige Durchsetzung und Anerkennung Gottes in der ganzen Welt. Am Höhepunkt dieses Festes muß ein gewaltiges Jauchzen über die nun ganz nahe Königsherrschaft Gottes erschollen sein. Und dieser brausende Jubelruf ist es nun, der mit einem Male an das Ohr des fremden Zauberers schlägt, das Gott ihm geöffnet hat. Und nun weiß er es sofort: Wo ein Volk in einer solchen Bereitschaft für Gott steht, gegen dieses Volk hilft kein Zauber und keine Beschwörung (4. Mose 23,21).
Balaks Entsetzen vermag dem Segnen Bileams nicht mehr Einhalt zu gebieten. In seinem dritten Spruche stimmt Bileam einen überschwenglichen Lobpreis auf das verheißene Land an:
„Wie fein sind deine Hütten, Jakob, und deine Wohnungen, Israel! Wie die Täler, die sich ausbreiten, wie die Gärten an den Wassern, wie die Aloebäume, die der Herr pflanzt, wie die Zedern au den Wassern.“ (4. Mose 24, 5f.) [47]
Es ist das Land, das Gott sich dazu erwählt hat, um hier das Fundament für sein kommendes Reich zu legen. — Balaks Geduld ist aber nun zu Ende. Er will Bileam fortjagen. Bileam bricht auch auf; aber schon zum Weggehen gewendet und durchaus ungebeten hebt er noch einmal zu einem Weissagungsspruch an. Nun ist sein Geist bis zu dem fernsten Ziel der alttestamentlichen Heilsgeschichte vorgestoßen. Wie sehr das etwas Letztes ist, an das sein seherischer Geist rührt, das zeigt der umständliche und sonderbare Anfang des Spruches.
„Und er hob an seinen Spruch und sprach: Es sagt Bileam, der Sohn Beors, es sagt der Mann, dem die Augen geschlossen sind, es sagt der Hörer göttlicher Rede, und der die Erkenntnis hat des Höchsten, der die Offenbarung des Allmächtigen sieht, hingesunken, geöffneten Auges.
Es ist, als scheue sich der Prophet auch wieder, dieses Letzte preiszugeben oder wenigstens es von den Hörern allzuleicht verstanden zu wissen. Deshalb läßt er sie die ganze mühselige Konzentration miterleben, die Niederhaltung und Ausschaltung alles geistigen Eigenlebens, deren es bedarf, um zum Gefäß solcher letzten göttlichen Offenbarung zu werden. Sein leibliches Auge ist geschloffen; so nur kann er „die Offenbarung des Allmächtigen“ sehen. „Hingesunken“ — d.h. er kann das nur empfangen in einem Zustand letzter Demütigung vor Gott. Und dann teilt er uns mit, wie sich in einer solchen entsagungsvollen Meditation die Umrisse des Geschauten langsam versichtbaren. Nicht mit einem Mal, sondern allmählich werden die Konturen jenes Fernsten und Geheimnisvollsten erkennbar.
Ich sehe ihn, aber nicht jetzt. Ich schaue ihn, aber nicht nahe. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Szepter aus Israel aufkommen.“ (4. Mose 24,15-17.)
Der Messias! Damit rührt Bileam an jene Erwartung eines errettenden, gottgesandten Herrschers, die im Alten Testament so oft bezeugt ist. Die Gestalt dieses messianischen Königs wird aber von den Propheten nicht einheitlich gezeichnet. Von dem Messias bei Jesaja, der das Gottesrecht auf Erden durchsetzt, und der ein Helfer der Armen ist (Jes. 11,1-5), schillert das Bild bis hin zu jener fast dionysischen Gestalt inmitten eines paradiesischen Segens (1. Mose 49,10ff.). Wir Christen müssen sagen: In jedem dieser Bilder ist etwas von Christus; aber das ist zugleich eingesenkt in zeitgebundene und vergängliche Vorstellungen. Bileam sagt vom Messias „Er zerschmettert die Schläfe Moabs“. Wir sehen daran, das volle Christus-Bild des Neuen Testaments ist noch nicht vor seinen Geist getreten. Moab und Balak, das ist für ihn der Typus der gottfeindlichen Macht, die gegen die Gemeinde, gegen den von Gott erwählten und geschützten Bezirk anläuft. Und diese Mächte, das bezeugt der Spruch, wird der Gesalbte des Herrn [48] am Ende bezwingen. — Nach diesem Höhepunkt fällt die Geschichte steil ab ihrem Ende zu. Balak läßt von Israel ab und Bileam kehrt in seine Heimat zurück (24,25).
Die Bileam-Geschichte ist keine absichtslose Erzählung. Gewiß gehen ihre Stoffe auf uralte Überlieferung zurück; aber was daran Sage und was Geschichte ist, läßt sich kaum mehr ermitteln. In ihrer Jetztgestalt ist sie der Ausdruck eines ganz bestimmten Glaubens, sie hat also eine „Lehre“. Gott steht zu den Seinen; ihr Schutz liegt nicht bei den Menschen und ist nicht abhängig von den irdischen Kräfteverhältnissen. Ja, mehr noch: Selbst die unheimlichsten Anschläge gegen seine Gemeinde müssen ihr zum Heil gereichen; selbst ein Bileam muß — segnen! Die Erzählung macht also etwas anschaubar, das an sich durchaus nur im Wagnis geglaubt werden kann. Sie kehrt die dem Auge des natürlichen Menschen verborgene Innenseite des Geschehens nach außen und macht das Wunder sichtbar, indem sie den Fluch des fluchenwollenden Bileam — man möchte sagen — noch in dessen Hals — zu Segen wandelt. Das ist aber nicht eine Sage in dem Sinne eines von der Phantasie erdichteten Wunschtraumes, sondern das hat die Gemeinde des Alten Bundes in einer langen Geschichte mit Gott erfahren. Auch die christliche Kirche wird rückschauend sagen müssen, daß sie oft von Bileam gesegnet worden ist. So ist diese Geschichte auch eine Veranschaulichung des neutestamentlichen Satzes, daß „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“.
Quelle: Gerhard von Rad, Mose, Wege in die Bibel, Heft 3, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1940.
[1] Der Zweck des Schriftchens ist nicht, die Meinungen und Fragen der Wissenschaft über Mose zu erörtern; es soll vielmehr für den Bibelleser eine Anleitung gegeben werden zum Verständnis einiger Kapitel des Alten Testaments. Daß die behandelten Texte, auch die nur kurz gestreiften, alle vom Leser aufgeschlagen und nachgelesen sein wollen, ist selbstverständlich.
[2] 2. Mose 32,1.23; 4. Mose 12,3.
[3] 2. Mose 5,20f.; 14,11f.; 16,2f.; 17,2f.; 4. Mose 11,1-6; 12,1f.; 13,31; 14,1-4; 16,1-3; 20,1-5; 21,5.
[4] Paulus hat diese Stelle im 2. Korintherbrief 3,12-16 ins Bildliche gewendet. Mose ist für ihn der Inbegriff des Alten Testaments, und so sagt er, daß immer noch, wenn die Juden das Alte Testament lesen, eine Decke auf „Mose“ liegt; sie verstehen es nicht richtig, allein den Christen ist das Alte Testament von Gott aufgetan; die Decke ist von ihm weggezogen.
[5] 5. Mose 9,7-21.25-29; 1,34-37; 4,21f.
[6] Die Feuerlohe, die den Dornbusch doch nicht verbrannt hat, haben ältere Ausleger als Hinweis auf die göttliche Heiligkeit verstanden, die bei ihrer Herablassung den Menschen nicht verzehrt habe. — Es könnte nur sein, daß in dem Wort Dornbusch (sene) ein verborgener Hinweis auf den großen Offenbarungsort, den Sinai (sinaj), gegeben werden sollte.
[7] 4. Mose 19,14-16; 5,2; 9,10. 3. Mose 21,1.
[8] Jes. 7,4; 30,15.
[9] „Wo Leben uns mit Macht entgegentritt, wo wir meinen, Kraft, Weisheit, Glück und Schönheit zu finden, da ist es uns, als wenn eine Tür zu Gott aufginge, als wenn Gott sich da uns zu erkennen gäbe. Und wo ein Mensch uns Leben zu bringen scheint, wie leicht geben wir da das Wort preis, wie leicht kommen wir von Gottes Wort ab und lassen wir uns tragen von dieser Lebensfülle, wie leicht meinen wir, da Gott ergreifen zu können“ (De Quervain, Das Gesetz Gottes. Die erste Tafel, 1935, S. 33).
[10] Die bekannteste dieser Gesetzessammlungen ist der sogenannte Codex Hamurapi, ein auf einen großen Steinblock eingemeißeltes Rechtskorpus des babylonischen Königs Hamurapi (um 1900 v. Chr.), dessen Fund (1901/02) seinerzeit großes Aufsehen erregt hat.
[11] Nostri non sumus, sed Domini (Calvin, Inst. III, 7,1).