Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch
Von Alfred Schütz
Diese Abhandlung möchte mit den Mitteln einer allgemeinen Auslegungstheorie die typische Situation untersuchen, in der sich ein Fremder befindet, der versucht, sein Verhältnis zur Zivilisation und Kultur einer sozialen Gruppe zu bestimmen und sich in ihr neu zurechtzufinden. Für diesen Zweck soll der Begriff »Fremder« einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation bedeuten, der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte. Das hervorragende Beispiel dieser sozialen Situation ist der Immigrant, und mit diesem Beispiel im Blick wurden die folgenden Analysen einfachheitshalber ausgearbeitet. Aber keineswegs ist ihre Gültigkeit auf diesen Spezialfall beschränkt. Wer sich in einem geschlossenen Club um Mitgliedschaft bewirbt, der zukünftige Bräutigam, der in die Familie seines Mädchens aufgenommen werden möchte, der Junge vom Land, der auf die Universität geht, der Städter, der sich in einer ländlichen Gegend niederlässt, der »Freiwillige«, der in die Armee eintritt, eine Familie, wo der Vater arbeitslos war und die jetzt in eine wirtschaftlich expandierende Stadt zieht – hier sind sie alle Fremde, entsprechend der eben gegebenen Definition, obwohl in diesen Fällen die typische »Krisis«, welche der Immigrant durchmacht, leichter verläuft oder auch ganz ausbleibt. Jedoch schließen wir absichtlich von unserer vorliegenden Untersuchung bestimmte Fälle aus, die, wenn wir sie mit hineinnehmen wollten, unsere Definition verändern würden: a) der Besucher oder Gast, der nur einen vorübergehenden Kontakt mit der Gruppe sucht; b) Kinder oder Primitive; c) die Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen verschiedener Zivilisationsstufen, wie es z.B. bei den Huron der Fall war, die man nach Europa gebracht hatte – ein Beispiel, das einige Moralisten des 18. Jahrhunderts zu nennen beliebten. Weiterhin ist es nicht der Zweck dieser Abhandlung, über die Prozesse der sozialen Assimilation und sozialen Anpassung zu handeln, die in einer übergroßen und zum Teil ausgezeichneten Literatur[1] beschrieben werden, sondern über die Situation der Annäherung (approaching),die jeder möglichen sozialen Anpassung vorhergeht und deren Voraussetzungen enthält.
Als geeigneten Ausgangspunkt wollen wir untersuchen, wie sich die Zivilisationsmuster des Gruppenlebens dem common sense eines Menschen darstellen, der sein Alltagsleben mit seinen Mitmenschen in dieser Gruppe lebt. Wenn wir uns der gebräuchlichen Terminologie anschließen, verwenden wir den Ausdruck »Zivilisationsmuster des Gruppenlebens«, um alle besonderen Wertungen, Institutionen sowie Orientierungs- und Führungssysteme zu bezeichnen (z.B. Volksweisen, Sitten, Gesetze, Gewohnheiten, Bräuche, gesellschaftliches Benehmen, Mode), welche nach der herrschenden Meinung der Soziologen unserer Zeit jede soziale Gruppe zu jedem Augenblick ihrer Geschichte charakterisieren, wenn nicht gar konstituieren. Ein solches Zivilisationsmuster, aber auch jedes Phänomen der sozialen Welt, bietet dem Soziologen und dem Menschen, der in ihr handelt und denkt,[2] einen je verschiedenen Anblick. Der Soziologe (als Soziologe, nicht als Mensch unter Mitmenschen, der er natürlich in seinem Privatleben bleibt) ist der uninteressierte wissenschaftliche Betrachter der sozialen Welt. Er ist insofern uninteressiert, als er absichtlich nicht am System der Pläne, Mittel-Zweck-Beziehungen, Motive und Chancen, Hoffnungen und Befürchtungen teilnimmt, welche der Handelnde in der sozialen Welt benützt, um seine Erfahrungen und Erlebnisse in ihr auszuleben; als Wissenschaftler möchte er beobachten, beschreiben und die soziale Welt so klar wie möglich durch wohlgeordnete Ausdrücke beschreiben, und zwar in Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Idealen der Kohärenz, der Konsistenz und der analytischen Konsequenz. Der Handelnde in der sozialen Welt erlebt sie jedoch primär als ein Feld seiner aktuellen und potentiellen Handlungen und nur sekundär als ein Objekt seines Denkens. Insofern er an Kenntnis seiner sozialen Welt interessiert ist, organisiert er diese Kenntnis nicht in Begriffen eines wissenschaftlichen Systems, sondern in Begriffen der Relevanz für seine Handlungen. Er ordnet die Welt um sich herum (als Zentrum) zu einem beherrschbaren Feld und ist deshalb besonders an jenem Ausschnitt interessiert, der in seiner aktuellen oder potentiellen Reichweite liegt. Von den Elementen dieses Ausschnitts wählt er jene, die ihm als Mittel oder Zwecke für sein »Nutzen und Frommen«[3] dienen können, um seine Zwecke weiter zu verfolgen und um Hindernisse zu überwinden. Sein Interesse an diesen Elementen hat verschiedene Grade, und aus diesem Grund strebt er nicht danach, mit allen von ihnen mit gleicher Sorgfalt bekannt zu werden. Was er wünscht, ist ein graduelles Wissen der relevanten Elemente, wobei der Grad des gewünschten Wissens der Relevanz der Elemente entspricht. Mit anderen Worten, die Welt scheint ihm zu jedem gegebenen Augenblick als in verschiedene Relevanzschichten eingeteilt, deren jede einen anderen Wissensgrad verlangt. Um diese Relevanzschichten zu verdeutlichen, können wir – indem wir uns einen Begriff aus der Kartographie borgen – von »Isohypsen« oder von »hypsographischen Konturen der Relevanz« sprechen; mit dieser Metapher möchten wir deutlich machen, dass wir die Interessenverteilung eines Individuums zu einem gegebenen Augenblick hinsichtlich der Intensität dieser Interessen und ihres Zweckes zeigen können, indem wir Elemente, die für seine Handlungen in gleicher Weise relevant sind, verbinden, genauso wie der Kartograph Punkte gleicher Höhe mit einer Konturlinie verbindet, um die Gestalt eines Gebirges angemessen wiederzugeben. Die graphische Darstellung dieser »Konturen der Relevanz« würde diese nicht als ein ganzes geschlossenes Feld erscheinen lassen, sondern sie würden eher wie zahlreiche auf der Karte verstreute Gebiete aussehen, die alle in Größe und Gestalt verschieden sind. Wenn wir mit William James[4] zwei Arten des Wissens unterscheiden, nämlich » Vertrautheitswissen« und »Bekanntheitswissen«, können wir sagen, dass es im Feld, welches von den Relevanzkonturen bedeckt wird, Zentren expliziten Wissens von dem gibt, worauf man abzielt; diese Zentren werden von einem Hof des Wissens über das umgeben, was als genügendes Wissen erscheint; und dann kommt eine Region, wo es genügt, dass »man sich auf etwas verlässt«; die benachbarten Vorberge sind die Heimat der ungesicherten Behauptungen und Annahmen; zwischen diesen Gebieten liegen jedoch Zonen des vollständigen Nichtwissens.
Wir wollen dieses Bild nicht überbeanspruchen. Sein Hauptzweck war zu zeigen, dass das Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt und denkt, nicht homogen ist; es ist erstens inkohärent, zweitens nur teilweise klar und drittens nicht frei von Widersprüchen.
1. Es ist inkohärent, weil die Interessen des Individuums, welche die Relevanz der für weitere Untersuchung ausgewählten Gegenstände bestimmen, selbst nicht in ein kohärentes System integriert sind. Sie sind nur teilweise zu Plänen verschiedenster Art organisiert, z.B. den Lebensplänen, den Plänen für Arbeit und Muße, den Plänen für jede soziale Rolle. Aber die Hierarchie dieser Pläne ändert sich mit der Situation und mit der Entwicklung der Persönlichkeit; die Interessen schwanken dauernd und verursachen dadurch eine ununterbrochene Umformung der Gestalt und der Dichte der Relevanzlinien. Es ändern sich nicht nur die Gegenstände der Neugierde, sondern auch der Grad des bezweckten Wissens.
2. Der Mensch des Alltagslebens ist nur teilweise – und wir wagen zu sagen: ausnahmsweise – an der Klarheit seines Wissens interessiert, d.h. an der vollen Einsicht in die Verhältnisse zwischen den Elementen seiner Welt und den allgemeinen Prinzipien, die diese Verhältnisse beherrschen. Es genügt ihm, wenn das Telefon funktioniert, und normalerweise fragt er nicht, wie der ganze Apparat im Detail läuft und welche physikalischen Gesetze dieses Funktionieren ermöglichen. Er kauft eine Ware im Laden, er will aber nicht wissen, wie sie gemacht wird, und er zahlt mit Geld, obwohl er nur eine vage Vorstellung von dem hat, was Geld wirklich ist. Er nimmt es als selbstverständlich hin, dass sein Mitmensch seine Gedanken versteht, wenn er sie in deutlicher Sprache ausdrückt, und er wird entsprechend antworten, ohne dass er wissen möchte, wie diese wundersame Geschichte zu erklären wäre. Er sucht überhaupt nicht nach Wahrheit und fragt auch nicht nach Gewissheit. Alles was er braucht, ist eine Information über die Wahrscheinlichkeit und etwas Einsicht in die Chancen oder Risiken, welche die jeweilige Situation für das Ergebnis seiner Handlungen enthält. Dass die U-Bahn morgen wie gewöhnlich fahren wird, hat für ihn fast den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad, wie, dass die Sonne morgen aufgehen wird. Wenn er aufgrund irgendeines besonderen Interesses mehr und expliziteres Wissen über ein Thema benötigt, stellt ihm eine wohlmeinende moderne Zivilisation eine Kette von Informationsschaltern und Nachschlagebibliotheken zur Verfügung.
3. Schließlich ist sein Wissen nicht konsistent. Zur selben Zeit kann er Aussagen als in gleicher Weise gültig betrachten, die in der Tat völlig unvereinbar sind. Als Vater, als Bürger, als Angestellter und als Mitglied einer Kirche kann er die verschiedensten und überhaupt nicht kongruenten Meinungen über Moral, Politik oder wirtschaftliche Angelegenheiten haben. Diese Inkonsequenz entspringt notwendig keinem logischen Trugschluss. Das Wissen des Menschen verteilt sich auf Sachverhalte, deren Ort verschiedene und verschieden relevante Ebenen sind, und man ist sich dessen im allgemeinen nicht bewusst, dass bei dem Übergang von einer Ebene zur anderen bestimmte Modifikationen angebracht sind. Dieses Problem und verschiedene andere wären in einer Logik des Alltagsdenkens zu erforschen, die alle großen Logiker von Leibniz zu Husserl und Dewey postulierten aber niemals ausführten. Bis heute hat die Wissenschaft der Logik sich primär mit der Logik der Wissenschaft befasst.
Dieses so erworbene System des Wissens — so inkohärent, inkonsistent und nur teilweise klar, wie es ist – hat für die Mitglieder der in-group den Schein genügender Kohärenz, Klarheit und Konsistenz, um jedermann eine vernünftige Chance zu geben, zu verstehen und selbst verstanden zu werden. Jedes Mitglied, das in der Gruppe geboren oder erzogen wurde, akzeptiert dieses fixfertige standardisierte Schema kultureller und zivilisatorischer Muster, das ihm seine Vorfahren, Lehrer und Autoritäten als eine unbefragte und unbefragbare Anleitung für alle Situationen übermittelt haben, die normalerweise in der sozialen Welt vorkommen. Das Wissen, das diesen kulturellen und zivilisatorischen Mustern entspricht, hat seine Evidenz in sich selbst – oder es wird aus Mangel an gegenteiliger Evidenz fraglos hingenommen. Es ist ein Wissen von vertrauenswerten Rezepten, um damit die soziale Welt auszulegen und um mit Dingen und Menschen umzugehen, damit die besten Resultate in jeder Situation mit einem Minimum von Anstrengung und bei Vermeidung unerwünschter Konsequenzen erlangt werden können. Das Rezept fungiert einerseits als eine Vorschrift für Handlungen und dient daher als Anweisungsschema: wer immer ein bestimmtes Resultat erreichen will, muss so verfahren, wie es das Rezept, das für diesen speziellen Zweck gilt, angibt. Auf der anderen Seite dient das Rezept als ein Auslegungsschema: wer immer so verfährt, wie es das spezifische Rezept anzeigt, zielt vermutlich auf das entsprechende Resultat. Daher ist es die Funktion der Kultur- und Zivilisationsmuster, ermüdende Untersuchungen auszuschließen, indem es fertige Gebrauchsanweisungen anbietet, um die schwer zu erreichende Wahrheit durch bequeme Wahrheiten zu ersetzen und um das Selbstverständliche mit dem Fragwürdigen zu vertauschen.
Dieses »Denken-wie-üblich«, wie wir es nennen möchten, entspricht Max Schelers relativ natürlicher Weltanschauung[5];es enthält die »natürlich«-Annahmen, die für eine bestimmte soziale Gruppe relevant sind und die Robert S. Lynd – zusammen mit ihren inneren Widersprüchen und Ambivalenzen – als den Mittelstadtgeist[6] meisterhaft beschreibt. Denken-wie-üblich kann so lange bestehen, wie einige Grundannahmen gültig sind, nämlich: 1. dass das Leben und insbesondere das soziale Leben weiterhin immer so sein wird, wie es gewesen ist; d.h. dass dieselben Probleme, welche die gleichen Lösungen verlangen, wiederkehren werden und dass deshalb unsere früheren Erfahrungen genügen werden, um zukünftige Situationen zu meistern; 2. dass wir uns auf das Wissen verlassen können, das uns durch unsere Eltern, Lehrer, Regierungen, Traditionen, Gewohnheiten usw. überliefert wurde, selbst wenn wir nicht deren Ursprung und deren reale Bedeutung kennen; 3. dass in dem normalen Ablauf der Dinge es genügt, etwas über den allgemeinen Typus oder Stil der Ereignisse zu wissen, die uns in unserer Lebenswelt begegnen, um sie zu handhaben und zu kontrollieren; und 4. dass weder die Rezeptsysteme als Auslegungs- und Anweisungsschemen noch die zugrunde liegenden Grundannahmen, die wir gerade erwähnten, unsere private Angelegenheit sind, sondern dass sie auch in gleicher Weise von unseren Mitmenschen akzeptiert und angewandt werden.
Wenn sich nur eine dieser Annahmen nicht mehr bewährt, dann wird das Denken-wie-üblich unwirksam. Dann entsteht eine »Krisis«, die, entsprechend der berühmten Definition von W.I. Thomas, »den Fluss der Gewohnheiten unterbricht und die Bedingungen sowohl des Bewusstseins wie auch der Praxis ändert«; oder, wie wir sagen, sie stürzt die aktuellen Relevanzsysteme mit einem Mal um. Die Zivilisationsmuster fungieren nicht mehr als ein System erprobter und vorhandener Rezepte; es zeigt sich, dass ihre Anwendbarkeit auf eine spezifische historische Situation beschränkt ist.
Und gerade der Fremde, aufgrund seiner persönlichen Krisis, teilt die oben erwähnten Grundannahmen nicht. Er ist wesentlich der Mensch, der fast alles, was den Mitgliedern der Gruppe, der er sich nähert, unfraglich erscheint, in Frage stellt.
Für ihn haben die Zivilisations- und Kulturmuster der Gruppe, welcher er sich annähert, nicht die Autorität eines erprobten Systems von Rezepten, und nur deshalb, und sonst aus keinem anderen Grund, weil er nicht an der lebendigen geschichtlichen Tradition teilnimmt, durch die diese Muster gebildet wurden. Sicherlich hat auch vom Standpunkt des Fremden aus die Kultur der Gruppe, welcher er sich nähert, ihre besondere Geschichte, und diese Geschichte ist ihm sogar zugänglich. Aber sie wurde niemals ein integraler Teil seiner eigenen Biographie, wie es mit der Geschichte seiner Heimatgruppe der Fall war. Nur die Weisen, in denen Väter und Vorväter lebten, werden für jedermann Elemente des eigenen Lebensstils. Gräber und Erinnerungen können weder übertragen noch erobert werden. Der Fremde nähert sich deshalb der anderen Gruppe wie ein Neuankömmling im wahrsten Sinne des Wortes. Bestenfalls ist er willens und fähig, die Gegenwart und die Zukunft mit der Gruppe, welcher er sich nähert, in lebendiger und unmittelbarer Erfahrung zu teilen. Er bleibt jedoch unter allen Umständen von den Erfahrungen ihrer Vergangenheit ausgeschlossen. Vom Standpunkt der Gruppe aus, welcher er sich nähert, ist er ein Mensch ohne Geschichte.
Für den Fremden sind die Zivilisations- und Kulturmuster seiner Heimatgruppe weiterhin das Ergebnis einer ungebrochenen historischen Entwicklung und ein Element seiner persönlichen Biographie, welche aus genau diesem Grund immer noch das unbefragte Bezugsschema seiner »relativ natürlichen Weltanschauung« ist. Ganz von alleine beginnt deshalb der Fremde seine neue Umwelt im Sinn seines Denkens-wie-üblich auszulegen. Im Bezugsschema, das er aus seiner Heimat mitbrachte, findet er jedoch ein fertiges Vorstellungsmuster, das vermutlich in der Gruppe, welcher er sich nähert, gültig bleibt – eine Vorstellung, die sich aber sehr bald notwendigerweise als ungeeignet erweisen wird.[7]
1. Die Vorstellung von den Zivilisations- und Kulturmustern der Gruppe, welcher er sich nähert, die der Fremde im Auslegungsschema seiner Heimatgruppe vorgefunden hat, entsprang aus seiner Einstellung als der eines uninteressierten Beobachters. Der sich annähernde Fremde ist jedoch danach bestrebt, sich selbst vom unbetroffenen Zuschauer zu einem Möchtegernmitglied der Gruppe, welcher er sich nähert, zu wandeln. Die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher er sich nähert, sind dann nicht mehr Gegenstände seines Denkens, sondern ein Segment der Welt, die durch Handlungen beherrscht werden muss. Somit ändert sich ihre Position innerhalb des Relevanzsystems des Fremden entscheidend, und das bedeutet, wie wir gesehen haben, dass man für ihre Auslegung einen anderen Wissenstyp benötigt. Der frühere Zuschauer springt sozusagen vom Parkett auf die Bühne, er wird ein Mitglied des Ensembles, tritt als Partner in die sozialen Beziehungen seiner Mit-Spieler und nimmt von nun an am Spielgeschehen teil.
2. Die neuen Kultur- und Zivilisationsmuster erhalten einen umweltlichen Charakter. Ihre Entferntheit wandelt sich zu Nähe; ihr leerer Raum wird durch lebendige Erfahrungen ausgefüllt; aus ihrem anonymen Inhalt werden definite soziale Situationen; ihre fix-fertigen Typologien fallen auseinander. Mit anderen Worten, die Ebene der umweltlichen Erfahrung von sozialen Gegenständen ist nicht mit der Ebene der bloßen Vermutungen über Gegenstände, denen man sich noch nicht genähert hat, kongruent; wenn man von der letzteren zur ersteren übergeht, wird jedes Konzept, das von der Ausgangsebene her kam, notwendig inadäquat, wenn man es auf die neue Ebene anwendet, ohne dass es zuvor neu formuliert wurde.
3. Das fertige Bild von der fremden Gruppe, das sich innerhalb der Heimatgruppe des Fremden gebildet hat, beweist seine Inadäquatheit für den sich nähernden Fremden aus dem einzigen Grund, dass es nicht mit dem Zweck entworfen wurde, eine Antwort oder Reaktion der Mitglieder der fremden Gruppe hervorzurufen. Das Wissen, welches dieses Bild anbietet, dient nur als ein handliches Auslegungsschema und nicht als eine Anleitung zur Interaktion der beiden Gruppen. Seine Gültigkeit ist primär auf dem Konsensus derjenigen Mitglieder der Heimatgruppe gegründet, die keine direkten sozialen Beziehungen zu den Mitgliedern der fremden Gruppe herstellen wollen. (Die, die das wollen, befinden sich in einer ähnlichen Situation wie der sich annähernde Fremde.) Entsprechend bezieht sich das Auslegungsschema auf die Mitglieder der fremden Gruppe nur als Gegenstände aber darüber hinaus nicht als Adressaten möglicher Handlungen, die das Ergebnis der Auslegungsprozedur bilden, also nicht auf sie als Subjekte von antizipierten Reaktionen gegenüber jenen Handlungen. Daher ist diese Wissensart sozusagen isoliert; sie kann durch die Antworten der Mitglieder der fremden Gruppe weder verifiziert noch falsifiziert werden. Die letzteren betrachten daher dieses Wissen – mit einer Art »Spiegel«-Effekt[8] – sowohl als kommunikationslos wie auch als unverantwortlich und sie beklagen sich über die Vorurteile, die schiefe Sicht und die Missverständnisse, die daraus entstehen. Der sich nähernde Fremde wird sich jedoch der Tatsache bewusst, dass ein wichtiges Element seines »Denkens-wie-üblich«, nämlich seine Vorstellungen von der fremden Gruppe, von deren Zivilisationsmuster und ihrem Lebensstil, sich nicht in seiner lebendigen Erfahrung und in der sozialen Interaktion bewährt.
Die Entdeckung, dass die Dinge in einer neuen Umgebung ganz anders aussehen, als man dies sich noch zu Hause vorgestellt hatte, ist häufig die erste Erschütterung des Vertrauens des Fremden in die Gültigkeit seines habituellen »Denkens-wie-üblich«. Nicht nur das Bild, das der Fremde von den Kultur- und Zivilisationsmustern der Gruppe, welcher er sich nähert, mitbrachte, sondern auch das ganze bisher unbefragte Auslegungsschema, das ihm in seiner Heimatgruppe geläufig war, wird durchgestrichen. Es kann nicht mehr als Orientierungsschema in der neuen sozialen Umgebung gebraucht werden. Für die Mitglieder der Gruppe, welcher er sich nähert, erfüllen deren Zivilisationsmuster die Funktion eines solchen Schemas. Aber der sich nähernde Fremde kann diese nicht einfach so verwenden, wie sie sind, und auch nicht eine allgemeine Transformationsformel für beide Zivilisationsmustersysteme aufstellen, die es ihm sozusagen erlaubt, alle Koordinaten des einen Orientierungsschemas in solche umzuwandeln, die für das andere gültig sind — und dies aus den folgenden Gründen.
1. Jedes Orientierungsschema setzt voraus, dass jeder Benutzer die ihn umgebende Welt so betrachtet, als wäre sie um ihn herum gruppiert und er stünde in ihrem Zentrum. Wer einen Stadtplan erfolgreich benützen will, muss zuallererst seinen Standpunkt in zweierlei Hinsichten bestimmen: seine Lokalisierung auf dem Boden und deren Darstellung auf der Karte. Auf die soziale Welt angewandt bedeutet dies, dass nur Mitglieder der in-group, die einen definierten Status in deren Hierarchie besitzen und sich dessen auch bewusst sind, die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe als ein natürliches und vertrauenswürdiges Orientierungsschema verwenden können. Der Fremde jedoch sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass er keinerlei Status als Mitglied der sozialen Gruppe besitzt, welcher er sich anschließen möchte, und dass er deshalb nicht in der Lage ist, einen Ausgangspunkt für seinen Versuch einzunehmen. Er findet sich als Grenzfall außerhalb des Gebietes, das von dem geläufigen Orientierungsschema der Gruppe gedeckt wird. Es ist ihm deshalb nicht mehr erlaubt, sich selbst als das Zentrum seiner sozialen Umwelt zu betrachten, und diese Tatsache verursacht wiederum eine Änderung in der Kontur seiner Relevanzlinien.
2. Nur für die Mitglieder der in-group sind die Zivilisationsmuster und deren Rezepte eine Einheit von koinzidierenden Auslegungs- und Ausdrucksschemen. Für den Außenseiter jedoch fällt diese Einheit offensichtlich auseinander. Der sich nähernde Fremde muss deren Ausdrücke in solche der Zivilisationsmuster seiner Heimatgruppe »übersetzen«, vorausgesetzt, dass überhaupt innerhalb der letzteren ein auslegungsmäßiges Äquivalent existiert. Wenn es das gibt, kann man die übersetzten Ausdrücke verstehen und erinnern; dann kann man sie rekursiv wieder erkennen; sie sind dann zur Hand, aber noch nicht in der Hand. Aber selbst unter diesen Umständen ist es offensichtlich, dass der Fremde nicht voraussetzen darf, dass seine Auslegung der neuen Kultur- und Zivilisationsmuster mit derjenigen zusammenfällt, die unter den Mitgliedern der in-group gebräuchlich ist. Im Gegenteil, er muss mit fundamentalen Brüchen rechnen, wie man Dinge sieht und Situationen behandelt.
Erst nachdem der Fremde auf diese Weise ein bestimmtes Wissen über die Auslegungsfunktion der neuen Kultur- und Zivilisationsmuster gesammelt hat, kann er es als sein eigenes Ausdrucksschema verwenden. Der Unterschied dieser zwei Wissensstadien ist jedem geläufig, der eine fremde Sprache lernt; und die Lernpsychologie hat sich sehr genau damit befasst. Es ist der Unterschied zwischen dem passiven Verstehen einer Sprache und der aktiven Beherrschung als ein Mittel, um die eigenen Handlungen und Gedanken zu erfassen. Aus Bequemlichkeit wollen wir bei diesem Beispiel bleiben, um etwas von den Grenzen zu erklären, die sich dem Versuch des Fremden entgegenstellen, die fremden Muster als ein eigenes Ausdrucksschema zu erwerben; dabei wissen wir natürlich, dass die folgenden Bemerkungen leicht mit den entsprechenden Veränderungen auf andere Kategorien der Zivilisationsmuster, z.B. auf die Sitten, die Gesetze, die Volksweisen, die Moden usw. angewandt werden können.
Die Sprache als ein Auslegungs- und Ausdrucksschema besteht nicht nur aus linguistischen Symbolen, die in einem Lexikon katalogisiert sind, und nicht nur aus den syntaktischen Regeln, die eine ideale Grammatik aufzählt. Die ersteren können in andere Sprachen übersetzt werden; die letzteren sind dadurch verständlich, dass man sie auf gleichlautende oder abweichende Regeln der unbefragten Muttersprache bezieht.[9] Aber es kommen noch verschiedene andere Faktoren hinzu.
1. Jedes Wort und jeder Satz ist, um wiederum einen Begriff von William James zu borgen, von »Sinnhorizonten« (»fringes«) umgeben, die sie einerseits mit den vergangenen und zukünftigen Elementen des entsprechenden sprachlichen Universums verbinden und die sie andererseits mit einem Hof emotionaler Werte und irrationaler Implikationen, die selbst wiederum unaussprechlich bleiben, umgeben. Die Sinnhorizonte sind der Stoff, aus dem die Poesie gemacht ist; man kann sie in Musik setzen, aber man kann sie nicht übersetzen.
2. In jeder Sprache gibt es Begriffe mit verschiedenen Konnotationen. Auch sie sind im Lexikon vermerkt. Aber abgesehen von diesen standardisierten Konnotationen erwirbt jedes Rede-Element seine besondere sekundäre Bedeutung, die sich vom Kontext oder der sozialen Umgebung ableitet, worin das Wort benützt wird und wo es zusätzlich von der jeweiligen Gelegenheit, in der es vorkommt, tingiert wird.
3. Die Idiome, technischen Ausdrücke, Jargons und Dialekte, deren Verwendung auf besondere soziale Gruppen beschränkt bleibt, gibt es in jeder Sprache; und ihre Bedeutung kann von einem Außenseiter gelernt werden. Aber jede soziale Gruppe, und sei sie noch so klein (wenn nicht gar jedes Individuum), hat außerdem seinen privaten Code, der nur von denen verstanden wird, die an vergangenen gemeinsamen Erfahrungen teil hatten, wo er sich bildete, oder an der damit verbundenen Tradition.
4. Wie Karl Voßler gezeigt hat, spiegelt sich die ganze linguistische Geschichte einer Gruppe in der Weise, wie sie die Dinge ausdrückt.[10] Alle anderen Elemente des Gruppenlebens sind darin versammelt — vor allem deren Literatur. Der gebildete Fremde z.B., der sich einem englisch sprechenden Land nähert, hat große Nachteile, wenn er nicht die Bibel und Shakespeare auf Englisch gelesen hat, selbst wenn er mit Übersetzungen dieser Bücher in seiner Muttersprache aufwuchs.
Alle oben erwähnten Grundzüge gelten nur für die Mitglieder der in-group. Sie beziehen sich alle auf das Ausdrucksschema. Man kann sie nicht auf die gleiche Weise lehren und lernen wie z.B. Vokabeln. Um eine Sprache frei als Ausdrucksschema zu beherrschen, muss man in ihr Liebesbriefe geschrieben haben; man muss in ihr beten und fluchen und die Dinge mit jeder nur möglichen Schattierung ausdrücken können, so wie es der Adressat und die Situation verlangen. Nur Mitglieder der in-group haben das Ausdrucksschema wirklich in der Hand und beherrschen es frei innerhalb ihres »Denkens-wie-üblich«.
Um das Ergebnis auf das Gesamt der Zivilisations- und Kulturmuster des Gruppenlebens anzuwenden, können wir sagen, dass das Mitglied der in-group mit einem einzigen Blick die normalen ihm begegnenden Situationen übersieht und dass es sofort das für die Lösung des Problems schon fertig vorliegende Rezept erfasst. In solchen Situationen lässt sein Handeln alle Anzeichen von Habitualität, Automatismus und Halbbewusstsein erkennen. Dies ist deshalb möglich, weil die Zivilisationsmuster mit ihren Rezepten typische Lösungen für typische Probleme liefern, die jedem typisch Handelnden zugänglich sind. Mit anderen Worten, die Chance, das gewünschte standardisierte Ergebnis durch die Anwendung eines standardisierten Rezeptes zu erlangen, ist eine objektive Chance; sie gilt für jeden, der sich wie jener vom Rezept verlangte anonyme Typ verhält. Deshalb braucht der Handelnde, der einem Rezept folgt, nicht mehr nachzuprüfen, ob diese objektive Chance mit der subjektiven übereinstimmt, d.h. mit einer Chance, die ihm als Individuum aufgrund seiner persönlichen Umstände und Fähigkeiten gegeben ist, welche allerdings selbst unabhängig von der Frage besteht, ob andere Menschen in einer ähnlichen Situation auf die gleiche Weise und mit der gleichen Wahrscheinlichkeit handeln würden oder nicht. Mehr noch, es kann sogar gesagt werden, dass die objektiven Chancen für die Wirksamkeit eines Rezeptes umso größer sind, je weniger Abweichungen vom anonymen typisierten Verhalten geschehen, und dies gilt besonders für Rezepte, die für die soziale Interaktion gemacht wurden. Diese Art von Rezept, wenn es wirksam sein soll, setzt voraus, dass jeder Partner vom anderen erwartet, dass er auf typische Weise handelt oder reagiert, vorausgesetzt, dass der Partner selbst typisch handelt. Wer mit der Eisenbahn fahren will, muss sich auf jene typische Weise verhalten, die der Typus »Bahnbeamter« vernünftigerweise als das typische Verhalten des Typus »Passagier« erwartet und umgekehrt. Keiner von beiden untersucht die subjektiven Chancen. Das Schema, das für jedermanns Gebrauch entworfen wurde, muss nicht erst getestet werden, ob es für das es verwendende Individuum passt.
Für diejenigen, die mit den Kultur- und Zivilisationsmustern aufwuchsen, sind nicht nur die Rezepte und deren mögliche Nützlichkeit, sondern auch die typischen und anonymen Haltungen, die sie selbst erworben haben, eine fraglose »Selbstverständlichkeit«, die ihnen sowohl Sicherheit wie auch Rückversicherung bietet. Mit anderen Worten, diese Haltungen sind gerade durch ihre Anonymität und Typizität nicht in der Relevanzschicht des Handelnden angesiedelt, welche explizites Vertrautheitswissen verlangt, sondern in der Region der bloßen Bekanntheit, wo es genügt, sich einfach auf die Dinge zu verlassen. Dieses Verhältnis zwischen objektiver Chance, Typizität, Anonymität und Relevanz scheint sehr wichtig zu sein.[11]
Für den sich nähernden Fremden garantieren allerdings die Muster der Gruppe, der er sich annähert, keine objektive Erfolgschance, sondern nur eine subjektive Wahrscheinlichkeit, die Schritt für Schritt überprüft werden muss, d.h. dass er sich jedesmal von neuem vergewissern muss, ob auch die vom neuen Schema vorgeschlagenen Lösungen die gewünschte Wirkung für ihn und seine spezielle Position als Außenseiter und Neuankömmling bewirken werden, der das ganze System der Zivilisationsmuster noch nicht in den Griff bekommen hat, sondern vielmehr von deren Inkonsistenz, Inkohärenz und deren mangelnder Klarheit verwirrt wird. Er muss zu allererst seine Situation definieren., um einen Ausdruck von W.I. Thomas zu benützen. Deshalb kann er nicht bei einer ungefähren Bekanntheit mit den neuen Mustern Halt machen und dabei seinem vagen Wissen über dessen allgemeinen Stil und Struktur vertrauen, sondern er braucht ein explizites Wissen von dessen Elementen, indem er nicht nur ihr dass, sondern auch ihr warum untersucht. Deshalb unterscheidet sich notwendig und radikal die Gestalt seiner Relevanzlinien von der eines Mitglieds der in-group hinsichtlich der Situationen, der Rezepte, der Mittel, der Ziele, der sozialen Muster usw. Wenn wir an das oben erwähnte Verhältnis von Relevanz einerseits und Typizität und Anonymität andererseits denken, dann folgt daraus, dass er ein anderes Maß für die Anonymität und Typizität der sozialen Handlungen benützt als die Mitglieder der in-group. Für den Fremden haben die beobachteten Handelnden in der Gruppe, welcher er sich nähert, nicht — wie für deren Mit-Handelnde – eine spezielle vorausgesetzte Anonymität, nämlich nur Leistende typischer Funktionen zu sein, sondern sie sind für ihn Individuen. Andererseits neigt er dazu, rein individuelle Züge als typische anzusehen. Daher konstruiert er eine soziale Welt der Pseudoanonymität, Pseudointimität und Pseudotypizität. Deshalb kann er nicht die von ihm konstruierten Personaltypen in ein kohärentes Bild der Gruppe, welcher er sich nähert, integrieren, und er kann sich nicht darauf verlassen, dass sie seinen Erwartungen entsprechend reagieren. Und noch viel weniger kann der Fremde selbst jene typische und anonyme Haltung einnehmen, die ein Mitglied der in-group mit Recht von seinem Partner in einer typischen Situation verlangt. Daher kommt beim Fremden das mangelnde Gefühl für Distanz, sein Hin- und Herschwanken zwischen Reserve und Intimität, sein Zögern und seine Unsicherheit und sein Misstrauen in alles, was jenen so einfach und unkompliziert erscheint, die sich auf das Funktionieren der unbefragten Rezepte verlassen, denen man einfach folgen muss und die man nicht weiter zu verstehen braucht.
Mit anderen Worten, die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert, sind für ihn kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst und eine, die hart zu meistern ist.
Diese Tatsachen erklären zwei Grundzüge der Einstellung des Fremden gegenüber der Gruppe, der fast alle soziologischen Autoren, welche sich mit diesem Thema beschäftigen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben, nämlich erstens die Objektivität des Fremden und zweitens seine zweifelhafte Loyalität.
1. Die Objektivität des Fremden kann nicht durch seine kritische Einstellung ausreichend erklärt werden. Sicher ist er nicht verpflichtet, den »Stammesidolen« zu opfern, und er hat ein lebendiges Gefühl für die Inkohärenz und Inkonsistenz der Zivilisationsmuster, an die er herangeht. Aber diese Einstellung entspringt viel weniger seiner Neigung, die neue Gruppe mit den Standards zu beurteilen, die er von zu Hause mitbringt, als vielmehr seinem Bedürfnis, ein volles Wissen von den Elementen der Zivilisationsmuster, denen er sich anpassen möchte, zu erwerben und zu diesem Zweck sorgfältig das zu untersuchen, was für die in-group selbstverständlich erscheint. Der tiefere Grund für diese Objektivität liegt jedoch in seiner eigenen bitteren Erfahrung der Grenzen seines »Denkens-wie-üblich«, einer Erfahrung, die ihn lehrte, dass ein Mensch seinen Status, seine leitende Rolle und sogar seine Geschichte verlieren kann und dass der normale Gang des Lebens stets viel weniger gesichert ist, als es scheint. Deshalb bemerkt der Fremde häufig mit einer schmerzlichen Klarsichtigkeit das Heraufkommen einer Krise, welche den ganzen Grund der »relativ natürlichen Weltanschauung« bedroht, während alle Symptome von den Mitgliedern der in-group, die sich auf die Kontinuität ihres üblichen Lebensstils verlassen, unbeachtet blieben.
2. Die zweifelhafte Loyalität des Fremden ist leider sehr viel mehr als ein Vorurteil seitens der fremden Gruppe. Dies ist besonders in den Fällen wahr, wo sich der Fremde als unwillig oder unfähig erweist, die neuen Zivilisationsmuster vollständig an Stelle der der Heimatgruppe zu setzen. Dann bleibt der Fremde das, was Park und Stonequist treffend einen »Randseiter« genannt haben, ein kultureller Bastard an der Grenze von zwei verschiedenen Mustern des Gruppenlebens, der nicht weiß, wohin er gehört. Sehr häufig aber entspringt der Vorwurf der zweifelhaften Loyalität aus dem Erstaunen der Mitglieder der in-group, dass der Fremde nicht die Gesamtheit von deren Kultur- und Zivilisationsmuster als den natürlichen und angemessenen Lebensstil akzeptiert und als die beste aller für jedes Problem möglichen Lösungen. Der Fremde wird undankbar genannt, da er sich weigert anzuerkennen, dass die ihm angeborenen Kultur- und Zivilisationsmuster ihm Obdach und Schutz garantieren. Aber die Leute, die das sagen, verstehen nicht, dass der Fremde im Übergangszustand diese Muster nicht als ein schützendes Obdach betrachtet, sondern als ein Labyrinth, in welchem er allen Sinn für seine Verhältnisse verloren hat.
Wie wir schon sagten, haben wir unser Thema absichtlich auf die besondere Haltung des sich annähernden Fremden beschränkt, die jeder sozialen Anpassung vorausgeht, und wir haben es unterlassen, den Prozess der sozialen Assimilation selbst zu untersuchen. Eine einzige Bemerkung zum letzteren sei aber erlaubt. Fremdheit und Vertrautheit sind nicht auf das soziale Feld beschränkt, sondern sind allgemeine Kategorien unserer Auslegung der Welt. Wenn wir in unserer Erfahrung etwas zuvor Unbekanntes entdecken, das deshalb aus der gebräuchlichen Wissensordnung herausragt, beginnen wir mit einem Prozess der Untersuchung. Zuerst definieren wir die neue Tatsache; wir versuchen ihren Sinn zu erfassen; wir verwandeln dann Schritt für Schritt unser allgemeines Auslegungsschema der Welt auf solche Weise, dass die fremde Tatsache und ihr Sinn mit all den anderen Tatsachen unserer Erfahrung und mit deren Sinnbedeutungen verträglich werden und zusammen gehören können. Wenn wir dabei erfolgreich sind, dann wird die früher fremde Tatsache und das unser Bewusstsein aufreizende Problem in ein neues Element unseres gesicherten Wissens verwandelt werden. Wir haben unseren Erfahrungsvorrat erweitert.
Was man gemeinhin den Prozess der sozialen Anpassung nennt, dem sich der Neuankömmling unterwerfen muss, ist nur ein Spezialfall dieses allgemeinen Prinzips. Die Angleichung des Neuankömmlings an die in-group, die ihm zuerst fremd und unvertraut erschien, ist ein kontinuierlicher Prozess, in welchem er die Kultur- und Zivilisationsmuster der fremden Gruppe untersucht. Dann werden diese Muster und Elemente für den Neuankömmling eine Selbstverständlichkeit, ein unbefragter Lebensstil, Obdach und Schutz. Aber dann ist der Fremde kein Fremder mehr, und seine besonderen Probleme wurden gelöst.
Ursprünglich erschienen unter dem Titel The Stranger: An Essay in Social Psychology, in: The American Journal of Sociology 49 (1944), S. 499-507.
Quelle: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. II: Studien zur soziologischen Theorie, hrsg. v. Arvid Brodersen, Den Haag 1972, S. 53-69.
[1] Statt die einzelnen hervorragenden Beiträge amerikanischer Autoren, wie z.B. W.G. Sumner, W.I. Thomas, Florian Znaniecki, R.E. Park, H.A. Miller, E.V. Stonequist, E.S. Bovardus und Kimball Young, und die deutschen Autoren, besonders Georg Simmel und Robert Michels, zu nennen, verweisen wir auf Margaret Mary Woods wertvolle Monographie, The Stranger: A Study in Social Relationship. New York 1934 und auf die von ihr zitierte Literatur.
[2] Diese Einsicht scheint der wichtigste Beitrag von Max Webers methodologischen Schriften zu den Problemen der Sozialwissenschaften zu sein. Vgl. auch vom Verf. Der sinnhafte Aufbau.
[3] John Dewey, Logic, the Theory of Inquiry. New York 1938, 4. Kapitel.
[4] Vgl. William James, Principles of Psychology, New York 1890, Band I, S. 221-222.
[5] Max Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Leipzig 1926, Neuauflage Bern; vgl. dazu auch Howard Becker und Hellmuth Otto Dahlke, Max Schelers sociology of knowledge, in: Philosophy and Phenomenological Research 2, 1942, S. 310-322, besonders S. 315.
[6] Robert S. Lvnd, Middletown in Transition. New York 1937, 12. Kapitel, und Knowledge for What?, Princeton 1939, S. 58-63.
[7] Als Beispiel, wie sich die amerikanischen Kultur- und Zivilisationsmuster als »unbefragte« Elemente im Auslegungsschema europäischer Intellektueller darstellen, verweisen wir auf Martin Gumperts humorvolle Darstellung in seinem Buch First Papers, New York 1941, S. 8-9. Vgl. auch Jules Romain, Visite chez les Américains. Paris 1930 und Jean Prevost Usonie, Esquisse de la civilisation américaine. Paris 1939, S. 246-266.
[8] Indem wir diesen Ausdruck verwenden, spielen wir auf die wohl bekannte Theorie an, die Charles H. Cooley, Human Nature and Social Order. Neubearbeitung New York 1922, S. 184, vom »reflektierten Selbst« oder dem »Spiegel-Selbst« aufgestellt hat.
[9] Wer eine neue Sprache erlernt, dem enthüllt sich meist zuerst die Grammatik seiner Muttersprache, der er Bislang als dem »Natürlichsten von der Welt», nämlich wie wenn sie ein Rezept wäre, gefolgt ist.
[10] Karl Voßler, Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925, S. 117ff.
[11] Man kann dieses Verhältnis auf ein allgemeines Prinzip der Theorie der Relevanz, zurückführen; dies würde aber den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Der einzige Punkt, auf den wir uns hier einlassen können, ist der, dass alle Hindernisse, auf die der Fremde in seinem Versuch, die Gruppe, der er sich nähert, auszulegen, trifft, aus der Inkongruenz der Konturlinien der wechselseitigen Relevanzsysteme entstehen und daher aus der Verdrehung, der das Relevanzsystem des Fremden in der neuen Umgebung unterliegt. Aber jede soziale Beziehung, insbesondere jede neu aufgenommenen sozialen Kontakte, sogar zwischen Individuen, enthält ähnliche Phänomene, obwohl sie nicht notwendig zu einer Krise führen müssen.