Von Reinhart Koselleck
Zeit (griech. chronos, lat. tempus) ist wie Raum ein Universalbegriff, ohne den keine menschliche Erfahrung und keine Wissenschaft denkbar ist. Je nach Fragestellung unterscheiden sich die Zeitbegriffe mathematisch, physikalisch, chemisch, biologisch, psychologisch, linguistisch, phänomenologisch, theologisch und philosophisch. Sie sind nicht alle widerspruchsfrei zu vermitteln, auch wenn eindrucksvolle Versuche vorliegen (Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 1989, amerik. 1988; Friedrich Cramer, Der Zeitbaum, 1993). Die Geschichtswissenschaft ist auf Zeittheorien angewiesen, zum einen weil der handelnde und leidende Mensch in seine nur temporal zu begreifenden natürlichen Vorbedingungen des Lebens eingelassen bleibt, zum anderen weil alle Zeittheorien und -kategorien selber eine Geschichte haben, ohne deren Kenntnis keine Periode der Vergangenheit begriffen werden kann (G. J. Whitrow, Time in History, 1988; Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, 1990). In Anbetracht der kulturellen Vielfalt je nach Fragestellung historisch auftretender Zeitbestimmungen greifen alle systematischen Zusammenfassungen zu kurz. Dennoch seien zwei Vereinfachungen genannt, die auf Widersprüchen beruhen: die Opposition von innerer und äußerer Zeit sowie die Gegenüberstellung von wiederkehrender und linearer Zeit.
1. Die Zurückführung aller Zeitbegriffe auf die innere Wahrnehmung zeichnet den Menschen als ein zeitbewusstes Wesen aus, das die drei Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in seiner Seele enthalten vorfindet (Augustinus, Confessiones, Buch 11); oder Zeit ist die aller Erfahrung vorausliegende »reine Form der sinnlichen Anschauung« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 31, B 46); oder die »Zeit der Erfahrungswelt« wird rückbezogen auf »die immanente Zeit des Bewußtseinsverlaufs« (Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins [1905], 1928). Derartige Zugriffe verweisen darauf, dass alle Zeitmaße, -berechnungen und auch -deutungen kulturelle und intellektuelle, gleichsam binnen-menschliche Leistungen sind, auch wenn die ermittelten Daten von der Natur oder von der Geschichte vorgegeben sind. Sie werden primär gefunden, nicht erfunden. Zahlreiche, im Lauf der Geschichte subjektiv verschieden wahrgenommene Zeitbestimmungen sind deshalb objektivierbar, d. h. allen Menschen in gleicher Weise zugänglich. Dazu gehören der Sonnen- und Mondumlauf, die planetarischen Konstellationen, die Jahreszeiten, der Tag- und Nachtwechsel (nicht die gleichförmige Stunde, die Minute oder die Sekunde), Ebbe und Flut, die Wetterlagen, universale und naturale Vorgaben, ohne die keine Arbeit, kein Schlaf, keine Ernte und keine Saat denkbar sind. Hinzu kommen die dem Menschen biologisch mitgegebenen zeitlichen Prägungen. Jede Kindheitserfahrung, klein und noch nicht groß zu sein, verweist auf die Generationsabfolge, in die man hineingeboren wird, und die abschichtig zu durchleben jedem auferlegt ist oder vergönnt sein mag. Aber im Hinblick auf die Eltern bleiben die Kinder immer auch Kinder bis zum Tod. Das Sterben beginnt mit dem Leben, und erst wenn man aufgehört hat zu leben, hat man aufgehört zu sterben (Innozenz III.), eine paradoxe Zeiterfahrung, die Martin Heidegger als Zeitigung des Daseins ausgelegt hat, und die inzwischen als ›biologische Uhr‹ naturwissenschaftlich objektiviert worden ist.
Kosmologisch, geophysikalisch oder biologisch bedingte Zeitbestimmungen finden sich, variabel, in allen Kulturen. Die Weltalter- und Lebensalterlehren, die Herstellung von Genealogien, Chronologien und schließlich von Kalendern und Uhren bezeugen die Wechselwirkung zwischen Naturkunde bzw. -wissenschaft und menschlicher Erfahrung. Alle Gesellschaften zehren von institutionalisierten Zeitregelungen: in den religiös oder politisch ritualisierten Festen und Feiern, im Erbrecht, Eherecht und im Wahlrecht, im repetitiven Institut der Emanzipation, bis hin zu Fahrplänen und geregelten Arbeitszeiten. Deshalb gewinnen alle Zeitbestimmungen durch ihre von der Natur teils erheischten, teils ermöglichten Begründungen eo ipso eine kulturelle und gesellschaftliche Dimension (Rudolf Wendorf, Zeit und Kultur, 1980; Norbert Elias, Über die Zeit, 1984). Die Trennung zwischen innerlich erfahrener und äußerlich vorgegebener Zeit, zwischen geometrischer und lebendiger Zeit (Cramer), zwischen subjektiver und realer Zeit (Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, 1972) nötigt dazu, einen gemeinsamen Nenner zu suchen. So geht Paul Ricœur (Zeit und Erzählung, 3 Bde., 1988-91; frz. 1983-85) z. B. von einer analytisch klaren Unterscheidung aus, die die Zeit einer (subjektiven) historischen Erzählung von der erzählten (objektiven) Zeit zu trennen nötigt. Die gemeinsame Basis sucht er in der übergreifenden geschichtlichen Zeit, die, gleichsam anthropologisch, an die Narratio zurückgebunden bleibt. Keine faktisch-geschichtliche ohne historisch-reflektierte Zeit.
2. Ein weiterer innerer Widerspruch jeder Zeitbestimmung gründet in der Opposition wiederkehrender und gerichteter Zeit. Die aristotelische Definition (Metaphysica, Buch Delta II, 219b, 1f.; 220a, 24f.), dass Zeit das (Zahl-)Maß der Bewegung von früher oder später sei, erlaubt es, Zeit selber als gleichförmig, sogar rekurrent zu deuten. Auch die physikalischen Zeitbestimmungen sind rückläufig lesbar, gleichsam veränderungsneutral wie bei Newton und noch bei Einstein. Dann ist Zeit primär der Maßstab für Wandel und Veränderung, aber nicht der Wandel selbst (Kontinuität). Diese gleichsam statische Natur wird seit dem 18. Jh. dynamisiert. Die Naturkunde (historia naturalis) wird selber verzeitlicht, gewinnt Millionen Jahre an Vergangenheit und eine offene Zukunft, in die hinein sich sowohl die Natur wie auch die Geschichte entwickeln. Zeit wird zum Prozess, der – in verschiedenen zeitlichen Dimensionen – sowohl die Natur wie die Geschichte erfasst. Seitdem gewinnt der so genannte Zeitpfeil eine neue Schubkraft, die irreversibel auf Erneuerung, Fortschritt oder Wandel verweist. Zeit ist nicht mehr nur Maßstab der Veränderung, Zeit wird selber zur Kraft der Veränderung – zumindest metaphorisch.
Neue Kriterien gewinnen seitdem an Evidenz: Für Natur und für Geschichte pluralisieren sich die Zeiten, sie werden kosmischen oder sozialen und politischen Systemen zugeordnet, die ihre je eigene Zeit beanspruchen dürfen (Herder, Halbwachs, Gurvitch). Verschiedene Systeme zeitigen zugleich verschiedene Zeiten: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Diese Zeitbestimmungen hängen vom Standpunkt der Beobachter ab – sowohl in der Natur- als auch in der Geschichtswissenschaft; sie lassen sich nicht widerspruchsfrei auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Gemeinsam ist den innovationsträchtigen Zeitbestimmungen aber, dass sie immer von Faktoren der Wiederkehr abhängen, die sich in den Ereignissen rhythmisch verschieden wiederholen, ohne die keine Neuerung denkbar ist (dagegen: Zyklentheorie). Wenn alles, auf der linearen Zeitskala gemessen, nur neu wäre, fiele die Menschheit dauernd in ein Loch. Wenn sich alles nur stetig wiederholte, gäbe es keinen Wandel. Daher lautet die für Natur- und Geisteswissenschaften gemeinsame Herausforderung, Prozesse zu erkennen, die sowohl innovativ sind, als auch auf wiederkehrenden Voraussetzungen ihrer Innovation beruhen. Die Spannung zwischen einmaligen Ereignisreihen und ihren sich wiederholenden Bedingungen erzeugt verschiedene Geschwindigkeiten der Veränderung, in der Natur wie in der Geschichte, die in dieser Hinsicht analog lesbar sind. Für die Geschichtswissenschaft folgt daraus, dass
- alle Geschichte »Zeit-Geschichte« ist, nicht nur die der so genannten ›Zeitgeschichte‹ der jeweiligen Gegenwart;
- sie auf diachrone Tiefenbestimmungen der Chronologie, der Archäologie und der Genealogie angewiesen bleibt;
- alle einmaligen Ereignissequenzen unwiederholbare Zeitpunkte der rechten Entscheidung (kairos) hervortreiben, die – wie in der Liebe – verpasst oder eingelöst werden (vgl. in der Naturgeschichte die »Bifurkationen« von Cramer);
- die sich wiederholenden Voraussetzungen aller Einzelgeschichten kürzer oder länger währen, sich beschleunigen oder verzögern können. (Reinhart Koselleck, Zeitschichten, 2000.)
Für die Neuzeit gilt, dass wissenschaftlich-technische Faktoren eine zusätzliche Beschleunigung herbeigeführt haben, die in der Natur nicht vorgegeben war (Stephen Toulmin / June Goodfield, Entdeckung der Zeit, 1970; engl. 1965). Zunächst Dampfmaschinen, dann elektronisch, chemisch oder atomar erzeugte Akzeleratoren haben das gesamte Leben beschleunigt; in der Produktion, im Verkehr, im Nachrichtenwesen, in den Waffensystemen und in der Wissenschaft, die selbst ihre natürlichen Vorgaben verändert und übersteigt. Gesellschaftliche Zustände und politische Entscheidungen geraten unter Beschleunigungszwänge, deren Folgen zu stabilisieren immer schwerer fällt.
Lit.: Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964. – Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986. – Julius T. Fraser: Time. The Familiar Stranger. Amherst 1987. [Dt.: Die Zeit. Auf den Spuren eines vertrauten und doch fremden Phänomens. München 1988.] – Gerhard Dohrn van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen. München [u. a.] 1992. – Kurt Flasch: Was ist Zeit? Frankfurt a. M. 1993.
Quelle: Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 331-336.