Dietmar Willoweits rechtsgeschichtlicher Lexikonartikel über Herr und Herrschaft aus dem Lexikon des Mittelalters von 1989 ist immer noch instruktiv zur Klärung der Frage: Was ist eigentlich Herrschaft?
Von Dietmar Willoweit
1. Wort- und Begriffsgeschichte
Über die Grundzüge der aufschlußreichen Etymologie herrscht in der Forsch. Einigkeit. Das Wort ‚Herr‘ leitet sich vom ahd. Adjektiv her ab (‚hoch‘, ‚erhaben‘, ‚würdig‘). Dabei liegt der ursprgl. Wortform herro der Komparativ heriro zugrunde. Daraus hatte schon Grimms Wörterbuch gefolgert, ‚Herr‘ meine »zunächst nur den Höhergestellten gegenüber dem Geringeren, den Befehlenden gegenüber dem Knechte«, zumal der Höchste, der Herrscher selbst, ursprgl. Mit dem ahd. truhtin bezeichnet wurde. Dazu paßt die Beobachtung, daß ‚heriro‘ als eine Lehnübersetzung zu ‚senior‘ verstanden werden muß. Ein Herr nimmt dem Wortsinne nach also nur im Verhältnis zu anderen eine relativ höhere Stellung ein, ohne daß über eine ihn möglicherweise selbst betreffende Unterordnung schon irgendetwas ausgesagt wäre. Auch wenn die Vokabel zunehmend, schon im Ahd., auf einen höchsten Herrscher und Gott bezogen werden konnte, blieb sie doch andererseits stets geeignet, übergeordnete gesellschaftl. Positionen zu bezeichnen: den Ehemann und Vater, den Dienstherrn und Gläubiger, den Gefolgs- und Lehnsherrn. Dementsprechend diente das ahd. herscap der Kennzeichnung von Würde und Vornehmheit sowie allg. einer Herrenstellung, welcher sich ein spezif. Gehalt nicht zuweisen ließ.
Im HochMA gewinnt der Begriff schärfere Konturen. Nach den Beobachtungen von K. Kroeschell finden sich seit dem 13.Jh., aber auch erst seit dieser Zeit, »klare Belege für ›herscap‹ als Herrenstellung über Sachen, Eigenleute oder größere Gebiete«. Seitdem läßt sich feststellen, daß die Begriffe H. und Herrschaft vornehml. jenem zugeordnet werden, der Verfügungsgewalt über Sachen und Rechte oder polit. Befugnisse, insbes. im Bereich der Gerichtsbarkeit, innehat. Objekt der Herrenstellung und daher Inhalt von Herrschaft können jedoch weiterhin individuelle Vermögensrechte ebenso sein wie Regalien und Positionen in der Gerichtsbarkeit, die im polit. Gesamtsystem eher als untergeordnet zu bezeichnen sind, wie die von Schultheißen, Schöffen oder Zunftmeistern. Doch wird im SpätMA der Herrschaftsbegriff in wachsendem Umfang auch in einem polit. Sinne generalisiert und schließlich im 15. Jh. mit der Begriffsprägung ‚Landesherrschaft‘ mit der territorialen Dimension von Herrschaft fest verbunden. Diese Entwicklung dürfte wesend. vom Bedeutungswandel des lat. ‚dominium‘ mitbestimmt worden sein; dieses Wort wurde mit dem zunehmenden Einfluß der Rezeption in den Kanzleien vielfach im Sinne des röm. Eigentumsbegriffs verwendet und daher auf Grund und Boden sowie auf die zugehörigen Leute und Rechte bezogen.
2. Herrschaft als wissenschaftliche Kategorie
Der Herrschaftsbegriff wird in der modernen Forsch, intensiv dazu benutzt, um die verschiedenartigen polit. Gewaltverhältnisse und Abhängigkeiten zu charakterisieren. Komposita wie Herrschaftsformen, -gefüge, -entwicklung sind ebenso üblich geworden wie die Verbindung des Herrschaftsbegriffs mit jeder beliebigen Ebene der ständ. und polit. Ordnungen; das Spektrum reicht von der »Adelsherrschaft« bis zur »Reichsherrschaft«. Dieser Sprachgebrauch spiegelt insofern noch die Etymologie des Wortes wider, als er die Relativität der Überordnung erkennen läßt. Er ist jedoch irreführend, da Herrschaft im MA niemals wie ein Abstraktum zur Bezeichnung jedweder polit. Gewalt verwendet wurde, sondern stets an konkrete Befugnisse gebunden blieb. Vollends anachronist. wäre es, wollte man den Herrschaftsbegriff in soziolog. Sinne auf schlechthin jede effektive Machtausübung anwenden, ohne daß deren Legitimation Beachtung fände. Methodisch unangemessen wäre eine so weit ausgreifende, von aller Normativität absehende Verwendung des Wortes Herrschaft deshalb, weil dieses stets auf jeweils konkrete Rechte des Herrschaftsinhabers abstellt und daher »an Recht gebunden blieb« (R. Koselleck). Ist einerseits hinsichtl. der Anachronismusgefahr in der Forsch, ein weitgehender Konsens festzustellen, so ist andererseits große Zurückhaltung gegenüber Begriffsbestimmungen zu beobachten. H. Mitteis definierte Herrschaft als »rechtlich normierte Befehlsmacht«, als einen »legitimierten Anspruch auf fremdes Tun«. Dieser Herrschaftsbegriff bedarf insofern der Modifikation, als er einen für das MA nicht angemessenen stat. Rechtsbegriff voraussetzt, der vorgab, die stets im Fluß befindl. Rechtsentwicklung gleichsam objektiv fixieren zu können. Akzeptiert man dagegen, daß die ma. Verfassungsgesch. »als Wandel eines Gefüges von Ordnungen« zu verstehen ist und »das allgemeine Recht und die subjektive Berechtigung des Einzelnen« oft zusammenfallen (R. Sprandel), Rechtslage und Geltendmachung von Rechten also häufig nicht zu unterscheiden sind, dann ist Herrschaft im Sinne eines heurist. Forschungsbegriffs zu definieren als ein rechtl. begründeter Anspruch auf fremdes Tun, mit welchem Befehls-(Gebots-)befugnisse meist verbunden sein werden. So eingegrenzt, scheint der Herrschaftsbegriff aber auch unverzichtbar, will man nicht zu noch unschärferen Termini – wie etwa ‚Gewalt‘ – oder offenbaren Anachronismen wie ‚Obrigkeit‘ (ein Begriff des 15./16. Jh.) oder ‚Hoheit’ (17./18. Jh.) seine Zuflucht nehmen.
3. Die verfassungsgeschichtliche Struktur und Bedeutung der Herrschaft
Die Begriffsgesch. und die in der Forsch, zu beobachtende Übereinstimmung gestatten den Schluß, daß H. schaft als eine der Entdeckung und Realisierung des Souveränitätsbegriffs zeitl. vorangehende polit. Form verstanden werden muß. In diametralem Gegensatz zum Souveränitätsbegriff Bodins (1576) darf Herrschaft weder als eine höchste Gewalt noch als axiomat. Anknüpfungspunkt für eine deduktive Ableitung beliebiger Kompetenzen mißgedeutet werden. Unterscheidet sich damit ma. Herrschaft wesend, von nz. Staatskonzeptionen – und deren charakterist. Merkmal: der gemeinwohlorientierten Allzuständigkeit –, so ergibt sich zwangsläufig, daß Herrschaft nicht generell abstrakt, sondern nur durch Beschreibung ihrer realen Typen veranschaulicht werden kann. Eine solche, der Sache nach in der Forsch. längst anerkannte Typologie setzt herkömmlicherweise in erster Linie beim Herrschaftsobjekt an. Vollständig wird der Herrschaftsgedanke jedoch erst erfaßt, wenn auch das Herrschaftssubjekt, also die Herrenstellung, Beachtung findet.
Als geläufigste Herrschaftstypen verdienen zunächst solche Rechtspositionen von polit. Gewicht Erwähnung, deren Objekt ein Verfassungssubstrat darstellt. So im Falle der Grundherrschaft, Lehnherrschaft, Stadtherrschaft, Kirchenherrschaft, Landesherrschaft. Herrschaft kann sich aber auch ausschließlich oder doch ganz überwiegend gerade auf die Person des Herrschaftsunterworfenen beziehen, wie etwa im Falle der Leibherrschaft oder der Vormundschaft. Gemeinsame Merkmale aller dieser Herrschaftsformen festzustellen ist schon deshalb schwierig, weil – je nach der im konkreten Fall gegebenen Rechtsstruktur – der einzelne Typus in sich nicht als ein auf alle möglichen Fälle anwendbares Modell beschrieben werden kann. Dennoch lassen sich im Wege der Induktion einige wenige Elemente ermitteln, welche in den meisten Herrschaftsverhältnissen gegeben sein werden und daher als charakterist. Merkmale aller Typen ma. Herrschaft betrachtet werden dürfen. Dazu gehört in erster Linie die Gehorsamspflicht im Falle der Ausübung herrschaftl. Rechte, also etwa die Pflicht zur Fron, zur Lehnsfolge, zum Erscheinen im Gericht, zu Abgabenleistung. Andererseits ist der Herrschaftsinhaber verpflichtet, Schutz zu gewähren. In dieser Wechselbezüglichkeit der gegenseitigen Pflichten im Rahmen eines Herrschaftsverhältnisses spiegelt sich dessen personale Struktur wider. Die Beziehung wird erforderlichenfalls durch einen Zins oder eine andere dem Herrn zu leistende Gabe äußerlich erkennbar gemacht. Ein gemeinsamer Ursprung aller Herrschaft, etwa im germ. Haus, läßt sich nicht nachweisen. Dagegen darf dem Gegenpol »Genossenschaft« insofern weiterhin Bedeutung beigemessen werden, als wichtige soziale Aufgaben, v. a. im Bereich der gerichtl. Konfliktbewältigung, Standesgenossen obliegen. Vornehml. gilt dies für das Urteil, dessen Akzeptanz mit dem Konsens ständ. Gleichstehender Personen besser gewährleistet ist als durch das – nur der Vollstreckung dienende – herrschaftl. Gebot. Herrschaft und Genossenschaft sind daher nicht als einheitl. Prinzip, sondern nur in ihrer funktionalen Unterscheidung zu verstehen.
Als Herrschaftsinhaber kommen in der ma. Gesellschaft vorrangig die Angehörigen des Adels, aber auch die Ministerialen und daneben selbst Bürger in Betracht. Die Herrenstellung ist darüber hinaus sozial- gesch. nicht unbedingt fixiert. »H.« heißt auch ein Kleriker oder ein gelehrter Jurist, ohne daß solche Personen zugleich auch über Herrschaftsrechte gebieten müßten. »Herr« bezeichnet weiterhin, auch im SpätMA und in der frühen NZ, den bloß ständ. höher Gestellten, ohne daß dieser auch schon Träger polit. Rechte sein müßte.
Bereitet es schon Mühe, mangels eines allg. anerkannten abstrakten Herrschaftsbegriffs im MA gemeinsame Herrschaftsmerkmale zu ermitteln, so muß es auch schwerfallen, allg. Tendenzen einer Herrschaftsentwicklung festzustellen. Zu diesen gehört aber nach verbreiteter und gut begründeter Überzeugung der Prozeß der Verdinglichung von Herrschaft, womit die zunehmende Abhängigkeit der zw. Personen bestehenden Rechtsverhältnisse von sachenrechtl. Beziehungen – Grundeigentum, Erbleihe (Emphyteusis) u. a. – gemeint ist. Als eine weitere generelle Tendenz der Herrschaftsentwicklung bedürfte näherer Erforschung die Herausbildung dessen, was am Ende des MA »Untertänigkeit« heißt. Diese zeigt eine Intensivierung der Herrschaft an, die in erster Linie auf der Entstehung verhaltenssteuernder Bestimmungsbefugnisse und Gebote, endlich auch einer einschlägigen Gesetzgebung, beruht. Indem die Herrschaft aber polizeil. ordnend tätig wird, gewinnt sie allmähl. eine neue Qualität, für die im 15. Jh. das Wort ‚Obrigkeit’ geprägt wird. Damit aber bahnt sich eine dem ma. Herrschaftsdenken fremde Konzentration der vornehmsten polit. Rechte an, für die in der NZ der Begriff des Staates steht.
Lit.: DtRechtswb V, 781ff, 854ff. – Grimm, DWB X, 1124ff., 1152ff. – HRG II, 104ff. – W. Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft, 1941 – H. Kämpf, Herrschaft und Stadt im MA, 1956 – R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, 1961 – O. Brunner, Land und Herrschaft, 19655 – K. Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen dt. Recht, 1968 – H. Günther, Freiheit, Herrschaft und Gesch., 1979 – R. Koselleck, Herrschaft (Gesch. Grundbegriffe, hg. O. Brunner u. a., III, 1982), 1ff. – P. Moraw, »Herrschaft im MA« (Gesch. Grundbegriffe, hg. O. Brunner u. a., III, 1982), 5ff. – H. Boldt, Dt. Verfassungsgesch. I, 1984 – H. K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im MA, 1-2, 1985/86 – R. Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im MA, 1988L
Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (1989), Sp. 2176-2179.