Von Heinrich Böll
Ende der zwanziger Jahre, als ich zehn oder elf Jahre alt war, stellte mein Vater einen Gehilfen ein, der eines Mordes wegen im Zuchthaus gesessen hatte und begnadigt worden war. Wir fragten meinen Vater dann manchmal beim Essen oder wenn wir abends beieinander saßen: »Was macht denn dein Mörder? Wen hat er denn heute umgebracht?« Ich habe erst sehr viel später verstanden, warum mein Vater, der keineswegs humorlos war, dann böse wurde und sich diese Scherze verbat. Er sagte etwa: »Ja, dieser Mensch hat einen Mord begangen, aber ich finde es nicht gerecht, daß ihr ihn Mörder nennt. Er hat gebüßt, er hat ein neues Leben angefangen, ich möchte auf keinen Fall riskieren, daß er erfährt, wie ihr hier über ihn scherzt. Weder ist ein Mord auch nur annähernd scherzhaft, noch sind es zehn Jahre Zuchthaus. Im übrigen ist er ein sehr einsamer Mensch.« War der Mörder etwa kein Mörder, und durfte man ihn nicht so nennen? Kann es »falsch Zeugnis« sein, über jemand die Wahrheit zu sagen?
Zu den schrecklichsten Menschen zähle ich die, die immer Wahrheiten sagen, meistens unangenehme, manchmal vernichtende Wahrheiten, die fast immer unumstößliche Fakten sind; es ist dann die nackte, die ungeschminkte Wahrheit – und doch auf eine Weise verlogen, die nicht nachweisbar ist. Diese Menschen sind keine Lügner, sie sind Wahrheitenverbreiter mit richtender Funktion. Sie sagen die Wahrheit und sind doch Verleumder. Ohne erkennbaren Sinn, außerhalb jeden Zusammenhangs, aus heiterem Himmel gesagt, kann ein unumstößlicher Fakt schlimmer wirken als eine Lüge. Menschen dieser Art würden etwa auf einem Empfang zu jemandem gehen und ihm sagen: »Sie wissen doch sicher, daß Ihre Frau Sie mit dem Sowieso betrogen hat«, und eine solche Wahrheit kann eine Ehe vernichten, einen Selbstmord verursachen, eine Katastrophe bewirken.
Die Frage ist, wer ein Recht auf die Wahrheit hat und wer berechtigt ist, sie zu sagen. Das biblische Gebot »Du sollst nicht falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten« gilt für die Aussage vor Gericht und nicht für irgendwelche selbsternannten Sittenrichter. Es ist eine der klügsten Bestimmungen des jüdischen Gesetzes, daß derjenige, der die Anklage erhoben oder die Anzeige erstattet hatte, nach der Überführung des Angeklagten als erster mit der Vollstreckung des Todesurteils beginnen mußte, er mußte »den ersten Stein werfen«. Es spricht für die Menschlichkeit dieser Bestimmung, daß ihretwegen so wenige Todesurteile wirklich ausgeführt wurden. »Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.« Man darf sich also jeden, der für irgendeine Form der Todesstrafe eintritt, als Henker vorstellen.
Ich denke, es gibt kaum einen schwereren Beruf als den eines Richters, mag er nun in einer mietrechtlichen, eherechtlichen oder in einer Strafsache die Wahrheit finden müssen. Natürlich kann man außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit und nicht nur auf Schiedsämtern Konflikte zu lösen versuchen. Man kann Freunde um Rat fragen, um Hilfe bei Entscheidungen bitten, man kann sogar »Vernehmungen« vornehmen, wenn man von den beiden Parteien autorisiert und darum gebeten wird, und eine solche beratende, nie exekutive Funktion kann möglicherweise hilfreich sein. Welcher Mensch, der auch nur annähernd diese Bezeichnung verdient, wird nicht das Dilemma zwischen »falsch Zeugnis« und Diskretion erleben? Menschen sind ja nicht nur schuldig oder unschuldig, sie sind ja nicht nur beides nie ganz, sie haben auch ihre Geheimnisse, komplizierte, heikle, die nicht immer bloß Heimlichkeiten sind. Ein Romanschriftsteller braucht einige hundert Seiten, um einen von außen gesehen manchmal nebensächlichen Konflikt halbwegs zutreffend darzustellen.
Der in jedem Fall überlastete Richter kann sich große Umwege, zeitraubende Differenzierungen in den meisten Fällen nicht leisten; für ihn gibt es, wenn es um die »Wahrheitsfindung« geht, auch keine Diskretion, und es wird die Ehebrecherin zur Ehebrecherin, der Dieb zum Dieb, der Mörder zum Mörder. Unser umfangreich-verzwicktes und verwickeltes Rechts- und Vollstreckungssystem erlaubt nicht, daß der, der die Anzeige erstattet oder die Klage eingereicht hat, »den ersten Stein« werfen muß. Wahrscheinlich wären unsere Gerichte nicht so überbelastet und unsere Gefängnisse nicht überfüllt. Erschnüffelte Wahrheiten, auch wenn sie unumstößliche Fakten sind, gehören in die Labyrinthe der Diskretion, sie sollten gegen niemand verwendet werden, auch nicht gegen den politischen oder geschäftlichen Gegner.
Keins der 10 Gebote halte ich für so aktuell wie das 8. Bei der Wahrheitsfindung, die mögliche Übertretung der anderen Gebote betreffend, kommt ja das falsche oder richtige Zeugnis immer zur Geltung; wer überführt den Ehebrecher, den Dieb, den Mörder? Das Zeugnis; falsch oder richtig.
Die berühmten und berüchtigten, meist sehr unbeliebten »Moralisten«, die man im Alten Testament »Propheten« nannte, haben ja nie eine private, immer eine öffentliche Funktion. Ich erinnere an die Begegnung Jesu, der ja in der jüdischen Tradition als Prophet auftrat und wohl auch galt, mit der Ehebrecherin; wie milde, wie menschlich er mit ihr verfuhr, derselbe, der das »ehebrecherische Geschlecht« (Generation) beschimpfte. Man kann also öffentlich als Moralist gelten, ohne auch nur einen einzigen Menschen zu verdammen oder durch Wahrheiten, die niemanden etwas angehen, zu denunzieren. Wir wollen doch nicht vergessen, daß auch Denunzianten nicht immer Lügner sind: Sie brauchen in vielen Fällen gar nicht zu lügen. Wenn jemand zur Gestapo ging und von seinem Nachbarn behauptete: »Der hat im Luftschutzkeller auf unseren Führer geschimpft«, dann hat er in den meisten Fällen die Wahrheit gesagt, und es war eine Wahrheit mit mörderischen Folgen.
Es gilt wohl für das 8.Gebot, was für alle Gesetze und Gebote gilt: »Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbats willen.« Und schließlich gibt es nicht nur die Alternative: Wahrheit sagen oder Lügen, es gibt auch Verschwiegenheit und Schweigen. Laut drei der vier Evangelien hat Jesus vor Gericht auf die meisten Fragen mit Schweigen geantwortet. Ich weiß nicht, ob dieses Schweigen vor Gericht je ausgiebig kommentiert worden ist. War es Verachtung jeglicher menschlichen Gerichtsbarkeit, war es etwas wie der Hochmut des »ersten Menschen«, des Menschgewordenen – war es Verachtung möglicher-[116]weise der Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache oder Erkenntnis der Sprachdifferenz zwischen Angeklagtem und Gericht? Dieses Schweigen Jesu vor Gericht bleibt geheimnisvoll und aufschlußreich zugleich; es könnte gedeutet werden mit »Was wißt ihr schon«, oder »Es ist zwecklos«; und es könnte gedeutet werden als ein Wissen, das über Zeit und Recht, Verrechtlichung und Gerücht erhaben ist. Und der da schwieg, wußte er, daß es um Leben und Tod ging. Ist dieser Angeklagte, der Jesus hieß, möglicherweise der Angeklagte und Verdächtige schlechthin, des Aufruhrs, des Umsturzes, der Verführung, des Verrats, der Häresie verdächtig? Warum schwieg er? Könnte es sein, daß man die Poesie der überlieferten Texte, – Ansprüche – weder damals verstand noch je verstanden oder gar sehr gut verstanden, aber in einem Katalog von Verrechtlichungen versteckt oder begraben hat? Es war kein falsch Zeugnis, als man ihm vorhielt, er habe gesagt, er könne den Tempel einreißen und in drei Tagen wieder aufbauen, aber konnte er ahnen, daß man das wörtlich, im Sinne von »realistisch« nehmen würde? Mit Mörtel, Kelle und Stein? Ist möglicherweise falsch oder richtig Zeugnis eine Frage der Wörtlichkeitsauslegung, und ist es Zufall, daß es eine Zeitlang zur Tradition einiger Gruppen der deutschen Arbeiterbewegung gehörte, grundsätzlich vor Gericht zu schweigen?
Ich denke zurück an den Mörder, den wir auf Bitten meines Vaters nicht »Mörder« nennen sollten. Vielleicht hätte mein Vater keine Einwände erhoben, wenn wir gelegentlich gesagt hätten: »der Mann, der einmal einen Mord begangen hat«. Man mag diesen Unterschied für allzu spitzfindig halten, und doch – ich denke, daß es eine Art Verewigung bedeutet, wenn man die Tat – den Mord – personalisiert, indem man Täter nach verbüßter Strafe immer noch »Mörder« nennt, und das mag dann für alle Straftaten und Fehltritte gelten.
Offenbar gilt die Wörtlichkeit bestimmter Ausdrücke nicht für alle gleich. Bis auf den heutigen Tag z. B. ist es üblich, zwei sozialdemokratische Politiker, Willy Brandt und Herbert Wehner, mit abfälligem, gelegentlich verleumderischem Unterton »Emigranten« zu nennen. Nun waren sie wirklich Emigranten, und der eine von ihnen, Willy Brandt, kam als norwegischer Major (man sagt gern: »in norwegischer Uniform!«) nach Deutschland zurück. Nun gab es ja nicht nur »linke Emigranten«, es gab auch rechte, konservative, und ich weiß nicht, ob man etwa den verstorbenen Freiherrn von und zu Guttenberg, der auch emigriert war, jemals Emigrant oder »Emigrant« genannt hat. Und es gibt da einen politisch-literarisch-moralischen Sonntagsprediger, der mir hier nicht in seinen Predigten interessant vorkommt, sondern auf Grund der Tatsache, daß er ebenfalls Emigrant war und in amerikanischer Uniform als Befreier (keine Anführungsstriche, denn ich habe Respekt vor dem Schicksal, nicht vor den Sonntagspredigten!) zurückkam; sein Name: Hans Habe. Hat man ihm je vorgeworfen, daß er als Emigrant »in feindlicher Uniform« zurückkehrte? Es wird also ein und dasselbe Wort beim einen abfällig, beim anderen, wenn überhaupt, fast als Ehrentitel verwendet. Bei Willy Brandt und Herbert Wehner wird die Erwähnung eines unumstößlichen, historisch erwiesenen, niemals bestrittenen biographischen Details zum »falsch Zeugnis wider deinen Nächsten«, bei Herrn von Guttenberg und Hans Habe nicht.
Ist die Wörtlichkeit des Wortes Emigrant beim einen von geringer, beim anderen von höherer Qualität, und ist die »Wahrheit« oder die Wahrheit Interessen unterworfen? In diesem Falle ist sie eindeutig innenpolitischen Interessen unterworfen, und es bleibt merkwürdig genug, daß die verleumderische Wirkung beim einen garantiert eintrifft, beim anderen garantiert nicht, und weder der eine noch der andere der nicht Diffamierten nimmt oder nahm die Gelegenheit, sich für den einen oder anderen politischen Gegner die mißbrauchte Wörtlichkeit des Wortes Emigrant zu verbitten. Nun war Herbert Wehner Kommunist, als er emigrierte, und Willy Brandt nach den Aussagen seiner Verleumder war es fast. Ich halte es nicht für auch nur andeutungsweise ehrenrührig, Kommunist oder fast Kommunist zu sein oder Emigrant zu sein oder gewesen zu sein. Nachdem man den konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Widerstand gegen Hitler gewürdigt hat, fängt man ja jetzt erst in der Bundesrepublik an, den kommunistischen […] immer wieder gilt Kommunist als Verleumdung oder Schimpfwort, angewandt auf solche, die sich zum Kommunismus bekennen, und andere, die weit davon entfernt sind, sich selbst so zu definieren. Was wird aus der Wahrheit, wenn ein Wort, das seiner Natur und Herkunft nach nicht schimpflich ist, mit soviel Schimpf beworfen worden ist, daß es fast nicht mehr zu reinigen ist?
Ich erinnere mich, in Einheiten der Deutschen Wehrmacht, die aus extrem nicht katholischen Gefilden stammen, als Katholik und »Katholik« mit äußerstem Mißtrauen, gelegentlich fast als Aussätziger betrachtet worden zu sein, und ich erinnere mich des ebenso peinlichen Gegenteils: einer gewissen Schulterklopferei, die einer totalen Vereinnahmung gleichkam; ich erinnere mich der gegenseitigen Beschimpfung per Konfession aus meiner Kindheit, und das galt für Protestanten und Katholiken wie für atheistisch definierte Sozialisten, und als die Schlimmsten galten in dem Milieu, aus dem ich stamme, die Liberalen. Eine zutreffende statistische Eigenschaft wurde zum »falsch Zeugnis wider den Nächsten«, diskriminierend wurde, was unabhängig von persönlicher Schuld oder Unschuld einem einfach so mitgegeben war. Ich habe Scheu vor Benennungen, wenn ich auch zugeben muß, daß ich manchmal gegen diese Scheu verstoße. Inzwischen sind die Worte Professor und Student schon fast diskriminierend, sie übernehmen, wie die Worte Kommunist oder Reaktionär, die Rolle, die in meiner Kindheit die Konfessionsbezeichnungen hatten. Eine Dame, die in gewissen Kreisen zugeben würde, daß sie gern kocht, würde fast schon »falsch Zeugnis« wider sich selbst ablegen, mit diesem harmlosen und unverdächtigen Bekenntnis würde sie eine ganze Kette von Schimpf und Vorurteilen in Bewegung setzen, und anderswo würde sie – was ihr ebensowenig liegen mag, denn Kochen oder Nichtkochen sind für sie so wenig wie blonde, lange oder kurze Haare eine Ideologie – mit diesem Bekenntnis ebenso peinliche Sympathien hervorrufen, möglicherweise als Frau, die »sich offen zu ihrem Frauentum« bekennt – was [117] gar nicht vorhatte: Sie wollte ja nur sagen, daß sie gern kocht.
Worte und Wörtlichkeiten müssen befreit werden, bevor sie als Zeugnis verwendet werden können. Man muß das Gestrüpp um sie herum weghacken, alles, was um sie herum angewachsen und in diesem Gestrüpp abgeladen worden ist. Von etwas so Plumpem und gewöhnlich schwer Nachweisbarem wie etwa einem Meineid zu sprechen oder von einer glatten Lüge erschien mir nicht so dringlich. Sie wirken wie Überfälle, gegen die man sich nicht wehren kann. Ihre Folgen, ob sie innerhalb eines ordentlichen Gerichtsverfahrens oder privat ausgesprochen werden, sind fürchterlich: Menschen werden krank davon und können daran zugrunde gehen; in den meisten Fällen ist man dem Meineid oder der Lüge wehrlos ausgeliefert. Diese Art »falsch Zeugnis wider deinen Nächsten« kann höchstens Gegenstand eines Romans oder einer Erzählung sein; auch erfundene Verleumdungen, gegen die man ebenso wehrlos ist, sind zu eindeutig »falsch Zeugnis«. Ich denke manchmal an den Mörder, der wirklich einen Mord begangen hatte, den wir aber nicht »Mörder« nennen sollten, und noch öfter denke ich an meinen Vater, der uns erklärte, warum wir einen Mörder nicht Mörder nennen sollten.
Quelle: Kinderhilfswerk e.V., München (Hrsg.), Die 10 Gebote heute. 7.-10. Gebot, Institut für Kulturforschung AG, Dortmund/München, 1975, S. 115-117.