Von Gustav W. Heinemann
I
Liebe Freunde! Wir alle machen uns unsere Gedanken über die Kirche. Millionen von anderen Menschen tun es ebenfalls. Und die Generationen vor uns haben es durch Jahrhunderte auf ihre Weise nicht minder getan. Was ist bei all diesem Nachdenken über die Kirche herausgekommen? Gibt es eine klare und richtige Antwort auf die Frage, wozu die Kirche da ist? Ja, diese Antwort ist da! Sie ist ein für allemal da. Aber jede Generation und jeder einzelne von uns muß den Zugang zu dieser Antwort aufs neue finden, damit aus der uns gegebenen Aussage über die Kirche auch eine persönliche Antwort werde. Um diese persönliche Antwort wird es in unserem Gespräch hier gehen.
Sie sollen dazu zunächst heute zwei Vorträge hören, und morgen abermals zwei. Ich werde in dem meinigen mit einer Aufräumungsarbeit beginnen und darzulegen versuchen, was alles an schiefen und falschen Antworten und Erwartungen über den Zweck der Kirche unter uns umgeht. Ich werde also davon reden, wozu die Kirche bestimmt nicht da ist. Solch eine Demontage falscher Vorstellungen und Erwartungen ist immer wieder nötig, weil wir uns an seltsamen Vorstellungen über die Kirche immer wieder Erstaunliches leisten. Die Demontage wird also vielfältig Sem, und es wird passieren, daß der eine oder der andere Hörer sich getroffen fühlen wird. Darf ich diesen Betroffenen im vorhinein sagen, daß wir auch auf diesem Gebiete alle des Ruhmes ermangeln. Es geht für jeden von uns, auch für mich selbst, darum, daß wir uns immer wieder zu einem Begreifen über alles [84] menschliche Verstehen hinaus helfen lassen. Es gibt zudem keine einzige falsche Vorstellung von der Kirche, die nicht von der Kirche selber einmal genährt und gefördert worden wäre oder noch heute wird! Wir haben deshalb alle miteinander bescheiden und barmherzig zu sein.
Ich frage also: Wozu ist die Kirche nicht da?, und ich möchte die Antwort darauf in der Weise geben, daß ich in das vielfältige Gestrüpp falscher Vorstellungen von der Kirche vier Schneisen in vier verschiedene Reviere schlage. Es wird die Rede von individualistischen Mißverständnissen der Kirche, von idealistischen Mißverständnissen, von politischen Mißverständnissen und von klerikalen Mißverständnissen sein. Möge jeder sich dabei prüfen, ob er sich in einem oder gar in mehreren dieser Reviere angesiedelt hat!
II
Aus dem ersten Bezirk, den wir betreten wollen, wird uns zugerufen: Die Kirche ist für mich da!
Da wohnen durchaus sympathische Menschen, die von der Kirche etwas Gutes halten, aber doch eben sich selbst reichlich stark als den Mittelpunkt der Kirche empfinden. Da wohnen viele von uns, die der Kirche ihre Steuer geben und dafür nun einen sehr praktischen menschlichen Dienst haben wollen, so wie man sich je und dann auch von allerlei anderen Instituten mit Nützlichem oder Nötigem versehen läßt. Hier sind eine Reihe von Warnungstafeln anzubringen.
1. Die Kirche ist kein Verschönerungsinstitut zur feierlichen Ausgestaltung besonderer Ereignisse, wie Hochzeiten und Beerdigungen, bis hin zu allerlei Denkmals- und Brückeneinweihungen oder Jubiläen oder dergleichen. Es ist gewiß schön und richtig, daß wir manchen Vorgängen in unserem Leben eine Betonung geben. Ich stehe auch gar nicht an zu bejahen, daß ein Pfarrer dazu etwas sagen kann. Nur sollten wir deutlich wissen, daß wir die Verkündigung eines Pfarrers nicht herbeirufen können, so [85] wie man ein Blumenarrangement oder eine Musikkapelle bestellt. Wollen wir uns befeiert sehen und selber im Mittelpunkt bleiben, oder wissen wir, daß wir den Herrn der Welt zu uns bitten, wenn wir sein Wort herbeirufen? Das ist es, worum es geht.
2. Die Kirche ist kein Geselligkeitsinstitut. Sosehr wir als Christen nicht nur ein Publikum zur Anhörung sonntäglicher Predigten sein, sondern eine Gemeinschaft untereinander haben sollen, sowenig ist doch die Kirche dazu da, mit uns allerlei Freizeitgestaltung oder »Kraft durch Freude« zu treiben.
3. Die Kirche ist kein Erinnerungsinstitut, in dem das Gedächtnis an vergangene Zeiten oder Menschen zu pflegen wäre. Die Kirche hat nur die eine Erinnerung an den gekreuzigten und auferstandenen Christus wachzuhalten, bis daß er wiederkommt. Jede andere Erinnerung ist nicht ihre Sache. Ich bitte in diesem Zusammenhang, es mir abzunehmen, daß unsere Kirchen auch ebensowenig Erinnerungshallen für unsere als Soldaten gefallenen Angehörigen sind, wie sie es für verstorbene Pastoren oder Bürgermeister sein dürfen.
4. Die Kirche ist kein Versorgungsinstitut, weder für Pfarrer oder andere Kirchendiener noch auch für Gemeindeglieder. Sosehr es zu den Zeichen lebendiger Gemeinde gehört, daß ihre Glieder untereinander tätige Liebe und Barmherzigkeit üben, sowenig kann doch ein Mensch die Kirche einfach darauf ansehen, ob und mit wieviel Geld oder Sachen sie ihm geholfen hat. Ich weiß, daß wir wahrlich nicht genug tun können. Ich weiß aber auch, daß viel treuer und aufopferungsvoller Dienst in unseren Gemeinden vor sich geht und daß in zahllosen Anstalten der Inneren Mission und durch das weltweite Hilfswerk der christlichen Kirchen wirklich große Zeichen der Liebe errichtet worden sind. Christus wird uns fragen, was wir dem geringsten seiner notleidenden Brüder nicht getan haben. Wir selbst haben einander zu mahnen, aber nicht vorzurechnen. Wer nur um seines Fortkommens willen in der Kirche bleibt oder wieder eintritt, tut dasselbe V/Ie der, der um seines Fortkommens willen aus der Kirche [86] austritt. Besonders pfiffig glauben manche zu handeln, wenn von zwei Ehegatten ein Teil aus der Kirche austritt, der andere Teil aber darin bleibt. So kann man je nach Bedarf auf zwei Gleisen fahren. Dazu ist die Kirche ganz gewiß nicht da. Die Kirche ist überhaupt, weder so noch so, als Gradmesser für bürgerliche Wohlanständigkeit oder politische Zuverlässigkeit geeignet.
5. Die Kirche ist kein Erbauungsinstitut. Das möge nun recht verstanden werden. Gemeint sind diejenigen unter uns, die nach einem Gottesdienst völlig bei dem stehenbleiben, was sie von dem Gottesdienst gehabt oder nicht gehabt haben. Gewiß wird Gottes Wort verkündigt und gepredigt, um uns reich zu machen. Gewiß ist es ein schlechter Gottesdienst gewesen, wenn Steine statt Brot geboten wurden. Und doch ist der Maßstab für einen Gottesdienst ein anderer als für ein Konzert oder Theater, wo wir die Akteure auf ihre Leistung hin ansehen und kritisieren mögen, wo wesentlich sein mag, ob wir für unsere Eintrittskarte gut oder schlecht bedient worden sind. Auch ein Prediger soll sich mühen und sein Bestes an Fleiß und Können daransetzen, daß er gut predige. Aber über allem Gottesdienst waltet letztlich Gott selber, indem er Vollmacht der Verkündigung schenkt oder versagt, indem er Ohren und Herzen auftut oder verschließt. Deshalb reicht es nicht aus zu fragen, ob wir uns erbaut gefühlt haben in einem Sinne des Befriedigtwordenseins. Erbaut werden will der Leib Christi, in den wir als Bausteine zu ihm als dem Eckstein hinzugefügt werden. Ein Baustein aber muß behauen und zurechtgemacht werden, um sich einzufügen in den Bau. Wollen wir das an uns geschehen lassen? Das ist die Voraussetzung dafür, daß wir nun auch getröstet, gestärkt und – wenn es denn sein soll – »erbaut« werden können.
Damit habe ich etliches von dem demontiert und fortgeräumt, was von dem Bezirk falscher individualistischer Vorstellungen über die Kirche zu sagen ist, über dem geschrieben steht: »Die Kirche ist für mich da!« Noch einmal unterstreiche ich, daß manche dieser Vorstellungen auch eine richtige Note in sich tragen. Die Kirche ist auch für dich und für mich da. Aber wir sind [87] nicht der Mittelpunkt ihres Seins und ihres Auftrages. Ihr Ausrichtungspunkt ist Christus, und ihr Auftrag vollzieht sich an uns. Wir haben bei allem nicht um uns zu kreisen und vollends nicht unsere oft allzu menschlichen Bedürfnisse zu suchen.
IV
Aus einem zweiten Bezirk falscher Vorstellungen über die Kirche wird gerufen: Die Kirche ist zur Veredelung der Menschen da!
Klingt es nicht überaus ansprechend, gar geradezu schmeichelhaft für die Kirche, daß sie zur Veredelung der Menschen da sei? Kann man überhaupt größer von ihr denken? Und doch gehört hier die Warnungstafel hin: Die Kirche ist kein Veredelungsinstitut. Laßt uns darüber in Ruhe nachdenken. Immer wieder klingt uns in den Ohren, daß doch der Mensch berufen sei, in steigender Vernunft und in wachsender Beherrschung der Materie eine bessere Erde zu gestalten. Glaubten wir nicht, schon allerlei Fortschritte zu sehen? In der Tat: Durch 150 Jahre ging es den Menschen ständig besser. Sie lebten besser, sie wohnten besser, sie aßen besser, sie kleideten sich besser, und sie hielten sich für bessere Menschen als ihre Vorfahren. Immer wieder wurde die Kirche gerufen, sich mit in den Dienst einer schönen Menschenveredelung zu stellen. Endlich sollte sie einen für jedermann sinnvollen Auftrag gefunden haben. Sie sollte Christus als das große Vorbild vollkommener Menschlichkeit unter uns aufrichten und uns helfen, diesem Vorbild Stufe um Stufe näherzukommen. Weithin hat sich die Kirche auf solche Aufforderung eingelassen. Man wurde »liberal«, man wurde »progressiv«. Man wollte zumindest im Strom der vermeintlichen Fortschritte nicht den Anschluß verlieren. Wenn auch je und dann Blitze einschlugen und Erschütterungen über uns kamen, so wollte man sich doch nicht erschüttern lassen. Daß es immer noch Haß und Neid und Kriege gab, waren Fehlleistungen und Betriebsunfälle, und es galt, alsbald mit neuen Idealen oder neuen Programmen Wiederum fortzufahren in die große Menschenveredelung hin-[88]ein. Nun aber ist die große Katastrophe über uns gekommen. Nun liegt der Arbeitsertrag von Generationen in Schutt und Asche vor unseren Füßen. Nun liegen aus dem Zweiten Weltkrieg an fünfzig Millionen Menschen erschlagen und umgebracht in den Gräbern aller Kontinente. Unzählbar sind die Opfer des Terrors und der Grausamkeit. Und all das geschah in eben dieser Menschheit, die sich für zivilisiert hielt, für kultiviert, für gebildet und fortgeschritten. Unter uns geschah all dieses! Und nach allen Schrecknissen ist immer noch kein Ende des Terrors und der Grausamkeiten. Nachgerade ist Europa, das einmal die Welt geführt hat, fragwürdig geworden. Nun ist alles unglaubwürdig geworden, was geredet und philosophiert und propagiert worden ist, um so unglaubwürdiger, als wir im Schatten noch größerer Katastrophen stehen. Aus allen Träumen der Fortschrittsseligkeit hat sich das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Barbarei enthüllt.
Wollen wir auch jetzt wieder nur sagen, daß alles ein Betriebsunfall sei? Wollen wir abermals nur das Programm und die Methode etwas verändern? Wollen wir neuen Idealismus predigen und den Fanatismus steigern? Soll auch die Kirche immer noch dafür in Anspruch genommen werden und in neuer Fortschrittlichkeit machen?
Ich denke, wir sollten zur Besinnung kommen. Nietzsche sagte: »Die Wahrheit über den Menschen nicht ertragen können, das ist Idealismus.« Wenn auch die Kirche in unnüchterner Glorifizierung des Menschen und in Fortschritt machen will, so schallt ihr das höhnische Echo entgegen: »Zweitausend Jahre Christentum und immer noch diese elende Welt! Wozu ist Christentum nutze, wenn nichts dabei herauskommt?« Recht so, daß ihr so fragt! Wir haben ja auch selber so fragen gelehrt, weil wir selber weithin vergaßen, was der Mensch ist und wozu die Kirche da ist. Von Dietrich Bonhoeffer, einem Blutzeugen Jesu Christi, der noch am 9. April 1945 im Lager Flossenbürg gehängt wurde, stammt der Satz: »Wer sagt uns eigentlich, daß alle weltlichen Probleme gelöst werden können und sollen? Vielleicht ist Gott [89] die Ungelöstheit dieser Probleme wichtiger als ihre Lösung, nämlich als Hinweis auf den Sündenfall des Menschen und auf Gottes Erlösung.«[1] In der Tat: Das Jahrhundert der Barbarei ist ein Hinweis auf den Menschen in seiner ganzen Blöße, in seiner unentrinnbaren Verstrickung in das Böse. Wir sprechen hier von Erbsünde. Ich denke, daß uns das Lachen über diesen Begriff vergangen sein dürfte. Laßt uns aus allen Trunkenheiten zu dem Bild des Menschen zurückkehren, wie es der Wahrheit und Wirklichkeit entspricht! Dann werden wir dessen inne, daß sich die Menschheit nicht veredeln wird, sondern daß wir die ganz und gar von Gott Infragegestellten bleiben. Dann hört es auf, daß wir auch noch die Kirche bald hierhin und bald dorthin vor die brüchigen Fuhrwerke unserer scheinbaren Fortschritte spannen. Dann allein kann es wieder groß unter uns werden, daß der Sieg über diese Welt durch die Auferstehung Christi von den Toten längst errungen ist und daß er in seiner Gemeinde auf Erden das verborgene Reich des Friedens und der Gerechtigkeit angefangen hat und es selber nach seinem Plan und Wohlgefallen vollenden wird. Das ist es, was die Kirche zu verkünden hat. Das allein ist es, was uns in Dienst und Arbeit nehmen soll. Gewiß: In den Dienst am Menschen, in den Dienst am Recht, in den Dienst am Frieden, aber dieses alles in Gehorsam gegen Gott und nicht nach unserem Eigenwillen! Darum die Warnungstafel: Die Kirche ist kein Institut zur Weltverbesserung durch Menschenveredelung, wohl aber der Ort, von dem aus wir ebenso nüchtern wie siegesgewiß dem wiederkommenden Herrn der Welt in seinem Dienst entgegengehen.
IV
Aus einem dritten Bezirk falscher Vorstellungen über die Kirche wird gerufen: Die Kirche ist als Vorspann im Kampf um die Throne dieser Welt da!
Es gibt viele Throne in dieser Welt, große und kleine. Auf dem einen sitzen Herrscher und Regierungen, auf dem anderen sitzen Geldsäcke oder Parteifunktionäre, sitzen Systeme oder Weltan-[90]schauungen, sitzen Halbgötter oder Verbrecher. Die da oben sitzen, wollen an der Macht bleiben, die da unterdrückt sind, wollen befreit werden. Sie alle suchen Hilfe, die einen zur Verteidigung, die anderen zum Angriff. Sie alle sehen die Kirche und meinen: Wozu soll sie schon nützlich sein, wenn sie in diesem unserem Kampf der Verteidigung oder des Angriffs nicht hilft? Sie hat doch Einfluß auf zahllose Menschen! Wie wäre es schön, wenn sie ein Vorspann in dem Kampf um die Throne dieser Welt sein möchte, wenn sie helfen würde zu erhalten, was dem einen so wohlgefällt, oder zu stürzen, was dem anderen so ärgerlich oder so beschwerlich ist! So war es immer, daß die Welt nach der Kirche griff, und so ist es heute, daß sie nach der Kirche greift, um sie dienstbar zu machen. Auch hier sind Warnungstafeln anzubringen.
1. Die Kirche ist kein Beruhigungsinstitut. Man meint, es bleibe schön in Ordnung, wenn niemand widerspricht. Sagt nicht die Bibel, daß der Mensch zufrieden sein soll mit dem, was Gott über ihn verfügt? Er wird im Himmel entschädigt werden. Gerade das ist es, was diejenigen brauchen, die oben auf dem Thron sitzen, daß man unten zufrieden ist und ihre Herrschaft nicht anzweifelt oder stört. Deshalb rufen die Herrschenden gern nach der Kirche und fördern sie, daß sie Ehrlichkeit, Gehorsam und Zufriedenheit predige. Das brauchen doch die Menschen! Ja, sie brauchen es. Aber sie brauchen es nicht um euretwillen, die ihr behaglich auf den Thronen sitzt. Wehe, wenn die Kirche sich willfährig macht! Die anderen, die unten sitzen, merken es bald und sagen: Die Kirche will uns verdummen! Sie ist nichts als Opium für das Volk. Wir sollen unseren Schweiß und unsere Knochen hergeben, daß nur ja alles so bleibe, wie es denen da oben gefällt. Verkaufte Kirche ist das; Thron und Altar, diese verhängnisvolle Einheit von Interessen und dieser Verrat an der Bruderschaft unter dem einen Herrn der Welt hat es zu allen Zeiten und auch in deutschen Landen gegeben. Aber immer hat die Kirche die Rechnung bezahlen müssen. Wenn manche Revolution, wie in Frankreich vor 160 Jahren oder in Rußland vor [91] 34 Jahren, sie fast noch ärger getroffen hat als diejenigen, die auf den Thronen saßen, so mit Recht deshalb, weil die Kirche in dem Bündnis von Thron und Altar den größeren Verrat treibt. Auch in Deutschland hat die Kirche ihre staatliche und konservativbürgerliche Bindung mit der Abwendung großer Teile unseres Volkes bezahlen müssen. Ich betrachte es als eines der verheißungsvollsten Geschehnisse unserer Zeit, daß unsere evangelischen Kirchen sich dessen in steigendem Maße bewußt werden und von jenem dritten Ort außerhalb aller Interessen her zu leben beginnen, der allein der Kirche die Vollmacht zu erhalten vermag, das Evangelium allen zu verkündigen.
Auf der anderen Seite ist aber auch zu sagen:
2. Die Kirche ist kein Revolutionsinstitut. Es muß alles anders werden, rufen diejenigen, welche zu kurz gekommen sind. Sagt nicht die Bibel, daß man brüderlich teilen soll, daß Gerechtigkeit sein soll? Deshalb rufen auch die Beherrschten und die Ausgebeuteten nach der Kirche. Sie tun es freilich oft in fataler Gebrochenheit, die mehr Anklage gegen die Kirche als Zuversicht auf das Gehörtwerden enthält. Haben wir die Entrechteten dieser Welt zu oft enttäuscht, daß sie so reden? Haben sie uns zu oft im Lager der Mächtigen und so selten im Lager der Schwachen gesehen? Das ist eine notvolle Frage an uns. Sie fordert Besinnung und Buße. Aber sie rechtfertigt doch nicht, daß wir nun Klassenkämpfer im anderen Lager werden und als Kirche anfangen zu revolutionieren. Es gilt auch hier jenen dritten Ort zu gewinnen, von dem aus die Kirche mahnend und die Gewissen schärfend alle Menschen an Gottes Gebote erinnert und jene heilsame Unruhe zur Umkehr stiftet, welche mehr ist als Umsturz. Zu alle diesem ist noch ein drittes zu sagen:
3. Die Kirche ist kein Propagandainstitut. Im Kampf der Meinungen und Interessen treten je und dann besondere Parolen in den Vordergrund. Solche Parolen können für die Kirche verfänglich werden, wenn etwas angeschnitten wird, was christlich zu sein behauptet. Muß die Kirche nicht mittun, wenn sie mit christlichen Parolen gerufen wird? [92]
Es wird unter uns viel vom »christlichen Abendland« und von der Abwehr »antichristlicher Mächte« geredet. Wir hören von »Freiheit« reden, und es wird uns von »Frieden« gesungen. So ließen sich noch manche andere Parolen nennen, denen die Kirche als Vorspann zu dienen geeignet erscheint. Was aber steckt hinter diesen Parolen? Eine christliche Vokabel allein verpflichtet noch nicht. Es werden ja heutzutage beinahe alle Begriffe und Worte umgemünzt, so daß ihr Kurswert erst zu prüfen ist. Wie finden wir uns im Gewirr von Echtem und Unechtem zurecht? Es gibt einen sicheren Maßstab dafür. Alles in der Welt scheidet sich an Jesus Christus. Nur wo aus Verbundenheit mit ihm gerufen und gehandelt wird, sind wir verpflichtet. Er macht alle Selbstherrlichkeit offenbar. Paulus spricht davon, daß die christliche Gemeinde die Gabe der Unterscheidung der Geister besitzt. Diese Gabe gilt es anzuwenden.
Wenn es um »Freiheit« geht, so wollen wir hören, ob eine Freiheit zu selbstherrlichem Leben gemeint ist oder aber die Freiheit, unser Leben in Verantwortung vor Gott nach seinen Geboten zu führen. Als ein Beispiel nenne ich die Freiheit der Seelsorge und Predigt auch und gerade in Strafanstalten und Lagern. Aus der Freiheit zu tun, was wir sollen, käme alles übrige von selbst in Ordnung. Wenn es um »Frieden« geht, so soll der Friede in Jesus Christus gemeint sein. Dieser Friede ist die Vergebung aller schuldhaften Vergangenheit und die Befreiung aus aller Verstrickung in Leidenschaften und Götzendienst in einem neuen Ansatz unseres Lebens und damit auch zur Gemeinschaft unter den Menschen. Diesem Frieden sind wir verpflichtet, und wir wissen, daß wir damit auch unserem Volk am besten dienen.
Der Kampf um die Throne dieser Welt wird weitergehen. Er ist ein wesentliches Kennzeichen dafür, daß die Welt im Aufruhr gegen Gott steht. Die Kirche darf sich nicht in diesen Streit um die Throne der Welt verstricken lassen. Wo auch immer die Mächte dieser Welt der Kirche zurufen: Du bist dazu da, uns zu verteidigen oder mit uns anzugreifen, du bist dazu da, politische Systeme, Wirtschaftsordnungen oder Ideologien zu segnen oder [93] zu verdammen, kann unsere Antwort nur lauten: Die Throne, um die ihr streitet, werden zerbrechen, der Thron Jesu Christi aber steht unerschütterlich, und nur was in seinem Namen gesagt und getan werden kann, verpflichtet seine Kirche.
V
Aus einem vierten Bezirk falscher Vorstellungen über die Kirche wird gerufen: Die Kirche ist dazu da, um zu herrschen! Soll nicht auch die Wahrheit nach der Macht greifen, um sich zu behaupten und durchzusetzen? Soll nicht alles der Wahrheit untertan sein und von ihr regiert werden? Diese Frage ist immer wieder eine Versuchung für die Kirche, der die Wahrheit anvertraut ist, und wir wissen, daß sie ihr oft erlegen ist. Deshalb ist hier zu sagen: Die Kirche ist kein Machtinstitut.
Wir denken an das Gespräch zwischen dem gefesselten Jesus und dem römischen Pilatus. Jesus sagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen.« Da fragt ihn Pilatus: »So bist du dennoch ein König?« und Jesus antwortet: »Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme« (Joh. 18,36). Die Wahrheit erfaßt den, der aus der Wahrheit ist. Deshalb kann die Wahrheit nur bezeugt, aber nicht auferlegt werden. Staatliche Art und kirchliches Wesen sind zweierlei und sollen unvermischt bleiben. In der Theologischen Erklärung der 1. Bekenntnissynode von Barmen 1934 ist ausgesprochen, daß weder der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung des menschlichen Lebens werden und auch die Bestimmungen der Kirche erfüllen darf, noch daß die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus sich staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden darf. Staat und Kirche Werden sich aufs beste einander zuordnen, wenn sie sich wechselseitig das Ihrige geben. Auch die Kirche soll dabei ihr Feld be-[94]haupten und ausfüllen. Indem sie das tut, dient sie zugleich der bürgerlichen Gemeinde. Indem der Staat der Kirche und ihren Gliedern die Freiheit gewährt, Gottes Wort zu verkündigen und zu leben, wird er selber erst wirklich Rechtsstaat. Wo dieses Freiheitsrecht gewährt und von der rechten Kirche in rechter Weise dienend gebraucht wird, und wo für die Glieder der Kirche im Beruf wie im öffentlichen Dienst ein Leben des Gehorsams gegen Gottes Gebot ermöglicht wird, kommt alles an seinen rechten Ort zu stehen. Da steigt auf die gute Ordnung der menschlichen Dinge, die Gerechtigkeit, die Weisheit und der Friede. Das ist es, was die Kirche dem Staat anzubieten hat, indem sie ihrerseits für sich und ihre Glieder nichts anderes als diese Freiheit haben will und begehren soll. Deshalb tut sich die Kirche letztlich selbst den besten Dienst, wenn sie nichts weiter als diese Freiheit vertritt, ohne nach Sicherungen und politischem Einfluß zu greifen. In diesem Zusammenhang ist noch ein kurzes Wort über das Herrschen in der Kirche zu sagen. Wir sind evangelische Kirche. Das will sagen, daß es gerade auch unter uns selbst nicht um Macht der Ämter und Personen gehen darf. Wir alle sind Brüder unter dem einen Vater und sollen dessen eingedenk bleiben, daß auch Christus nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen bis in seinen Tod hinein. Weil das so ist, besteht auch zwischen uns sogenannten Laien und den Amtsträgern unserer Kirche keine Unter- und Überordnung, sondern brüderliche Gemeinschaft. Sie hat ihre wunden Punkte, weil es Pastoren gibt, die das nicht praktizieren, und weil es Laien gibt, die nicht den Mund auftun. Hier haben wir uns gegenseitig zu helfen, daß es anders werde.
VI
Damit stehe ich am Schluß. Es war die Rede von den Mißverständnissen der Kirche, von den individualistischen, den idealistischen, den politischen und den klerikalen. So vielfältig sie sich darstellen, so laufen sie allesamt doch auf das eine hinaus, daß sie [95] Zweckvorstellungen von der Kirche sind, die wir Menschen uns selber zurechtmachen. Die Kirche ist aber in keiner Weise ein menschliches Zweckinstitut. Sie ist der Ort, an dem sich Gottes Eingriff in diese Welt durch Jesu Christus vollzogen hat und fortpflanzt, bis daß er wiederkommt.
Vortrag auf dem 3. Deutschen Evangelischen Kirchentag in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle zum Thema »Wir sind doch Brüder – in der Kirche«, 12. Juli 1951.
Quelle: Gustav W. Heinemann, Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze Kirche – Staat – Gesellschaft 1945-1975, hrsg. v. Diether Koch, München: Chr. Kaiser 21990, S. 83-95.
[1] Dietrich Bonhoeffer, Ethik, zusammengestellt und herausgegeben von Eberhard Bethge, München: Chr. Kaiser 71988, S. 378.