Von Kornelis Heiko Miskotte
Wenn wir den Auftrag der Exegese an einer bescheidenen Stelle für diesmal hinter uns haben und praktisch für eine weitere Aufgabe gerüstet sind, wenn wir aus der Zelle des Hieronymus zum Vorschein kommen und uns nach Meditation und Gebet zum Sagen der Wahrheit bereitet haben – dann werden wir aufgenommen und mitgeführt auf den Wogen eines anderen Geschehens, das, wie sehr wir auch theoretisch davon wissen, uns doch faktisch immer wieder in unseren Gewißheiten erschüttern kann. Denn nun wird unser Wort, unsere Exegese, unsere Anwendung Träger sein, Überbringer, nein mehr noch: Repräsentant – nein noch mehr: die Sarx, die von dem Pneuma angenommen, aufgenommen, durchstrahlt und verzehrt wird in eigener Glut und eigenem Glanz. O Wunder des Menschenwortes, das gewürdigt werden kann zu solch gewaltigem Dienst, zu solcher Ehre, dazu bestimmt, sich selbst zu verzehren und verherrlicht zu werden trotz seiner Hinfälligkeit und Relativität!
Die Skepsis gegenüber der Sprache bedroht zwar die exakte Wissenschaft von allen Seiten; Philosophie und Theologie aber hören auf zu bestehen oder sich weiterzuentwickeln, wenn ihnen der Mut fehlt und der Glaube (tatsächlich ein Glaube!), daß die Logik die Grammatik der Sprache ist, die „Syntax des Sich-Aussprechens des Seienden“ (A. E. Loen). Vielleicht müssen wir alle wieder bei Johann Georg Hamann, dem „Magus des Nordens“, in die Schule gehen, um wieder an die Sprache zu „glauben“.
Sollte jemals einer kommen, der das Wunder des Wortes auslotete, so verstünde er die ganze Schöpfung. Denn ist das Wort die wesentliche Gestalt des Geistes, so ist der Mensch wiederum der Mikrokosmos, die Welt im Kleinen, die Zusammenfassung aller Ebenen und Ordnungen der Schöpfung. Aber mehr als Zusammenfassung ist er: die Krone der Schöpfung und das Ebenbild Gottes, darin nämlich, daß er das Wort hat.
Wenn wir sagen, daß wir es im Leben mit Gottes Wort zu tun bekommen, dann ist das mehr als anthropomorphe Bildrede, und wenn wir sagen, daß das Menschenwort dazu bestimmt ist, aus dem Leben heraus Gott zu loben, dann ist das mehr als ein frommes Gleichnis. Kein Ding im Himmel und auf Erden kommt anders zum Leben als durch das Wort Gottes, keine Stunde unserer Menschenjahre erfüllt ihren Sinn anders als im menschlichen Wort.
Das Wort ist darauf aus, bewußte Gemeinschaft zu stiften; es geht um ein Benennen, ein Anrufen, ein Ansprechen: du. Nichts im ganzen Weltall ist damit zu vergleichen.
Bei Gott ist dieses Sprechen Schaffen, bei uns ist solches Sprechen Verehren und in Verehrung Nachdenken, Erkennen, Anerkennen.
Führen wir uns nun vor Augen, was in der Kirche (die am Rand der Kultur, des Menschenlebens, der Welt aller tiefen und dunklen, schönen und heilsamen Worte aufgerichtet ist) geschieht oder geschehen muß, und kann dann die Antwort nicht anders lauten als: Gemeinschaft mit Gott, dann können wir uns, da es keine persönliche Gemeinschaft am Wort vorbei gibt, der Frage nicht entziehen, wie Gotteswort und Menschenwort sich im Gottesdienst zueinander verhalten, namentlich in dessen Zentrum: der Predigt Was bedeutet: verbi divini ministerium?
Wir wollen, so einfach und so ruhig wie möglich, miteinander überlegen, was dieses Allereinfachste und Allergewaltigste bedeutet: es wird gepredigt; da steht eine Kanzel, erhaben über den Boden, auf dem wir sitzen, da liegt ein großes Buch aufgeschlagen, da wird „aus“ diesem Buch als aus einer unermeßlichen Welt von Geheimnissen, Gefahren und Verheißungen gesprochen zu uns, zu allen, die es hören wollen in dem weitgespannten, widerspenstigen Weltleben, inmitten der schweigenden Natur: so spricht zu dir der Herr!
Wie wir das Ziel der Predigt auch umschreiben, sie selber bleibt immer ein in sich unwahrscheinliches Unternehmen. Sagen wir, das Ziel liege in heiligem Unterricht in der reinen Lehre, dann werden wir doch bedenken müssen, daß noch so reine Lehren von Schriftkundigen und gottesfürchtigen Menschen höchstens in die Richtung der reinen Wahrheit gehen, diese aber selber etwas bleibt, was wir in dieser Weltzeit nicht „haben“, etwas, das zu unserer ewigen Zukunft gehört, etwas, das aus dem Jenseits uns besuchen kommt.
Sagen wir, das Ziel der Predigt sei, Seelen zu bekehren, sie zum Gehorsam gegen Gott zu bringen, dann werden wir doch gewiß zugeben, daß dies nicht in der Macht irgendeines Menschenwortes steht, und werden darüber hinaus zu bedenken haben, daß auch die bestgemeinte derartige Arbeit den Seelen immer wieder ebensowohl schaden wie nützen kann.
Wohl wird vielen gerade heute wieder deutlich geworden sein, wie wichtig der geistliche, der kirchliche Unterricht ist. Wir müssen wissen, was das Evangelium meint mit „Gott“, „Vorsehung“, „Gerechtigkeit“, „Heiligkeit“, „Heil“, „Gericht“, „Vergebung“, wir müssen dies von gleichlautenden Ausdrücken scharf unterscheiden lernen, die von anderswoher ertönen und etwas ganz anderes bedeuten. Man kann die Wichtigkeit solchen Wissens nicht hoch genug veranschlagen. Die Gemeinde weiß viel zu wenig; und die Eingeweihten wissen ja, daß wir im Blick auf die lebendige Schrift nie ausgelernt haben. Dem Volk muß in seiner großen, tragischen Unkenntnis Schritt für Schritt geholfen werden.
Ebensosehr wird vielen, namentlich in der heutigen kritischen Zeit, die Wahrheit am Herzen liegen, daß „die Seele aller Verbesserung die Verbesserung der Seele ist“ und daß wir zu einem anderen, einem edleren Leben bewegt werden und andere dazu bewegen müssen. Das gehört mit zur Aufgabe der Kirche, insofern es als eine Frucht der Bekehrung betrachtet werden kann.
Doch berührt das alles das Wesen der Sache, den Anspruch der christlichen Predigt erst am Rande. Mag Unterweisen und Bekehren zu den menschlichen Möglichkeiten gehören – wenn es aber um diesen Lehrstoff geht, der selber ewige Wahrheit ist, und um diese Gemeinschaft, die selber das ewige Leben ist, um die Wahrheit Gottes und um die Zuwendung zu Gott, wäre es dann nicht weise, sich zu erinnern: „Gott ist im Himmel und du bist auf Erden, darum laß deiner Worte wenige sein“ (Pred. 5,1)?
Wie rein auch die Erkenntnis und wie echt das Verlangen nach Veränderung des Lebens sein mag, die Wahrheit Gottes und die Zuwendung zu ihm können vom Menschen aus nicht erreicht, geschweige denn forciert werden. Jedoch – niemand anders als der Mensch predigt. Wie sollten wir damit nicht mitten in der Verlegenheit landen?
Überdies sind diese beiden Umschreibungen – Unterrichtung und Bekehrung vorläufig und äußerlich, wie sie sind, viel zu schwach; denn sie weisen jeweils nur auf die eine Seite des Eigentlichen hin: daß das Wort Gottes inmitten dieser Welt von Mensch zu Mensch gesprochen werden soll. Wenn das die zutreffendste Umschreibung des Zieles der Predigt ist, wird unsere Verlegenheit vollends unüberwindlich. Nur weil Prediger wie Hörer, die ecclesia docens und die ecclesia discens, es weithin nicht mehr gewohnt wind, die Worte „Gott“, „Mensch“, „Wort“ wirklich ernst zu nehmen, kann es geschehen, was wir vor Augen haben, daß weder Hörer noch Sprecher schockiert und bestürzt sind über das Unerhörte dieses doch offensichtlich titanischen Unternehmens: das Wort Gottes inmitten dieser Welt heute mit Autorität zu Gehör zu bringen. Vielleicht muß man ein unbeleckter „Kirchenferner“ sein, um originär und eindringlich zu spüren, welcher enorme Anspruch damit erhoben wird inmitten eines wachsenden Gefühls der Relativität aller unserer Erkenntnis, der höchstens approximativen Funktion der Sprache, der Zufälligkeit der Worte und der Abhängigkeit ihrer Tragkraft von der von tausend kulturellen Faktoren bestimmten Situation. Aber es ist eigenartig, daß der „Kirchenfeme“ eine andere doch am Tage liegende Seite dieses Anspruchs nicht sieht, nämlich daß anderswo in der Welt der Religionen und mystischen Philosophien sich das Problem von Gotteswort und Menschenwort und ihres Verhältnisses zueinander faktisch nicht stellt und sich eigentlich nicht stellen kann.
Strenggenommen gibt es in der Welt keine andere Predigt als die der christlichen Kirche. Zwar „predigen“ auch die anderen Religionen, aber das Wort hat dort einen völlig anderen Sinn. Predigt ist dort entweder eine Erhellung des Welträtsels oder eine Ermahnung, auf dem rechten Lebensweg zu gehen. In der heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments heißt predigen: das Heil als eine vollendete Welt anzeigen, den Frieden verkündigen, die Vergebung zusichern, die Zukunft ausrufen, die Gegenwart der Wohltaten feiern. Lauter Worte, die auf Werte verweisen, die noch nicht da sind, aber die im Kommen sind.
Wir können die Versöhnung von Gott und Mensch nicht beschreiben, wir können einander auch nicht ermahnen, sie zustande zu bringen! Aber das Wort Gottes, das im Kerygma lebendig ist, aus diesen Worten sich erhebt, mit diesen Worten sich Zugang verschafft, umschließt in sich eine unsichtbare Welt, ein Heil, ein himmlisches Reich.
Und darum geht es über menschliche Kraft, dieses Wort Gottes zu überbringen. Denn das kann doch nichts anderes bedeuten als die Austeilung der ewigen Freude! Nicht eine Mitteilung über die Freude, sondern Mitteilung der Freude selber, das Anteilgeben und Anteilbekommen und Anteilhaben an der Wahrheit der Erfüllung unserer ewigen Bestimmung.
Vielleicht ist es, neben anderem, gerade das Überwältigende dieses Geheimnisses, das uns stumpf macht, vielleicht ist es gerade das Unglaubliche, das dazu geführt hat, daß wir es, wie man so sagt, „wohl glauben“. Dabei wurde und wird uns überdies von unseren Mitmenschen, Mitkirchengliedern die Erwartung weithin so unwahrscheinlich gemacht. Die „Kultur des Sich-leicht-Machens“ (Keyserling) ist ins Kraut geschossen, die Ehrfurchtslosigkeit nachgerade zur festen Gewohnheit geworden; die Mattigkeit nieselt über die schwermütigen Reihen der Hörer, die Leere gähnt uns an aus so mancher Wortreihe, aus so manchem Gesicht, mancher Haltung und Gebärde.
Oder auch: niemand merkt etwas, niemandem fehlt das Rechte, und der Betrieb geht ungestört weiter zur Befriedigung der zufriedenen Mehrheit. Zu Recht! Denn es bleibt ein Zeichen!
Und doch haben die meisten von uns, wenigstens ab und zu, wohl eine ferne Ahnung von den Möglichkeiten der Gotteslästerung, die hier liegen! Hart neben den Möglichkeiten der Gottesverherrlichung? Die Frage ist, ob Menschenworte (denn es sind und bleiben grobe oder feine, platte oder erhabene Menschenworte) jemals ausdrücken, weitergeben, mitteilen können, was Gott will, was Gott uns hier und jetzt, in dieser Welt und in unserem Leben zu sagen hat; die Frage kann uns beklemmen, ob vielleicht die fortschreitende Entfremdung vom Leben Gottes, die stille Katastrophe des Erlöschens aller Erwartung in unserer Zeit auch der Predigt mit anzulasten ist, nämlich einer Predigt, die nicht nur formal langweilig und material unbiblisch, sondern zudem nicht getragen ist von wahrer Demut, nicht getränkt ist in Furcht und Zittern, sich nicht als ein Teil der Liturgie versteht, jenes Gottesdienstes, in dem es Gott gefällt, uns zu dienen. Wir können kürzer sagen: einer Predigt, die dem Gehalt nach nicht kerygmatisch oder die exegetisch nicht verantwortet – oder die keines von beidem ist. Oder noch kürzer und beschämender: einer Predigt, die das Menschenwort nicht in den Dienst des Wortes Gottes stellt.
Wo ist das lebendige Wort? Oder sollte dieses etwa eine Wahnidee sein, eine mythologische Projektion unserer religiösen Gefühle? Und wenn nicht, warum geht das Feuer des Zeugnisses dann nicht quer durch allen Widerstand hindurch?
„Blitzt er nicht auf, der Redestrom, der auf unsere Lippen gelegt ist, und vermag er nicht mit der ganzen Wucht der Tatsachen im Hintergrund, die ihm Gewalt geben, ebenso zu entflammen wie zu erleuchten? ‚Bruder, Bruder, sieh: der Weg, die Wahrheit und das Leben; sieh: das Heil; sieh: die Verheißung und die Antwort. Die Dunkelheit ist nicht mehr, sieh: das Licht. Kein Zweifel ist mehr, sieh: die Gewißheit. Kein Schwanken ist mehr, sieh: die Wegrichtung. Kein Leiden ist mehr, nur noch Bewährung. Keine Mühsal ist mehr, sondern verklärter Dienst. Keine Enttäuschung ist mehr, sondern Erwartung. Keine Eintönigkeit ist mehr, die das Herz ermüdet, das mit seinen Nichtigkeiten beladen ist, sondern die Hoffnung. Keine Trennung ist mehr, sondern nur noch ein frommes ‚Auf Wiedersehen‘. „Bruder, Bruder, der Tod ist nicht mehr, sondern das Leben, das gemeinsame, unsterbliche Leben, das meine Botschaft dir verkündet!“ (So Sertillanges, der große Dominikaner.) Wer wagt es, dies als „seine“ Botschaft zu sagen!
Halten wir das für Rhetorik? Es ist Rhetorik, ohne Zweifel, außer wenn es erfüllt wird in Gott, durch Christus, im Heiligen Geist – und … in Menschensprache.
Ein neuer Ernst hat sich erhoben; einige sind mit dieser Sorge bei sich selber eingekehrt, sind betroffen, aus dem Gleichgewicht gebracht; sie fragen: was haben wir getan, wo ist der Echtheitsstempel einigermaßen sichtbar, wo sind unsere Beglaubigungsschreiben, was ist aus dem Gotteswort unter uns geworden? Warum kommt im Umkreis des Geschehens der Predigt nicht etwas in Bewegung, das, wenn auch nicht die Fernerstehenden, so doch die Teilnehmer mitnimmt in große Verzückungen oder in eine tiefe Stille? Warum werden so wenige (wie es scheint) aus ihrem alten Leben weggezogen, warum wächst da so selten eine Gemeinschaft, die sich vor das Angesicht Gottes gestellt sieht? Ich denke an das, was Buber über Rabbi Schmelke (Samuel van Nikolsburg, gest. 1778) sagt:
„Die Predigt war sein Element, weil er an die verwandelnde Wirkung des Wortes glaubte“ (und er glaubte daran, weil er an die Göttlichkeit des echten Wortes glaubte). „Die Predigt betrachtete er in tief religiöser Konzeption als die Handlung, durch die das Gebet der Gemeinde zur höchsten Reinheit und Kraft gesteigert wird … So auch betete er selbst und wurde von seiner Intention verzückt: mitten im Gebet kam er aus allen Bahnen des Gedächtnisses und der Gewohnheit und sang neue, nie gehörte Melodien … Auf manches unverkrustete Gemüt übte er tiefe Wirkung; aber die Mehrheit der aus ihrer wohlgeregelten Ruhe Aufgestörten wandte alles auf, um ihm das Leben in der Gemeinde zu verleiden.“[1]
Dies mag nur ein formales Paradigma und ein Gleichnis sein, das einen Augenblick absieht von der Wahrheitsfrage; gleichwohl ist es imstande, in uns ein Heimweh nach der kräftigen Wirkung des Wortes zu wecken, gerade weil wir nicht an die „Göttlichkeit des echten Menschenwortes“ glauben. Es ist, als lägen wir im Bann einer Entfremdung, an deren Ursprung wir uns nicht mehr erinnern und deren Ursachen wir nicht überschauen können. Aber jene Fragen bleiben, und sie mögen uns ein sicheres Lebenszeichen sein.
Und dieser Ernst und diese Einkehr können dann nicht wieder aufgehoben werden, indem man die Schuld an jener Entfremdung von Gott und ihren unheilvollen Folgen der Predigt einer bestimmten kirchlichen Richtung zuschiebt – um sich seinerseits aus dem Ernst und aus der Angst des Angeschuldigten davonzustehlen mit dem gruselig-behaglichen Gefühl, daß das Wort Gottes, wie in den Jugendjahren Samuels, wohl „teuer“ (1. Sam. 3,1), wahrhaft selten geworden sei in unseren Tagen, daß es aber um so stärkender sei zu wissen, daß dieses Seltene sich bei uns und den Unseren befindet. Sollte das nicht das Denken und Sinnen der selbstgenügsamen Frommen sein, die niemals zu Weisheit zu kommen scheinen, weil sie nicht wissen und nicht wissen wollen, daß Gott Gott ist, vom Menschen unendlich unterschieden, in Freiheit und Liebe, in souveräner Liebe, während der Mensch Mensch bleibt, unermeßlich weit in Entfremdung versunken, und Gottes Wort Gottes Wort bleibt, in Maß und Qualität und Kraft von allem Menschenwort verschieden?! Sollte dort vielleicht die Ursache von soviel Leere zutage treten, wo wir offenkundig das Menschenwort als solches überschätzen und es in seinem Dienstcharakter unterschätzen? Und was das Wunder von Gottes Reden angeht, muß es davon nicht heißen: es war verachtet, und wir haben es für nichts geachtet (vgl. Jes. 53,3)?
Im übrigen könnten wir es eigentlich wissen! Wie die Summe aller menschlichen Gaben und Tugenden nicht an Gottes Herrlichkeit heranreichen würde, so kann die Ansammlung aller frommen, wahrhaftigen, erbaulichen Worte, die über das ganze Weltenrund gesprochen werden, auch nicht für eine Sekunde das Wort Gottes, d.h. Gott selbst, wie er sich den Herzen offenbart, ersetzen – obgleich es andererseits feststeht, daß es Gott gefällt, unser Wort zu gebrauchen, um für sein Wort Raum zu schaffen.
Pascal hat einmal gesagt: „Alle Sternenwelten zusammengefügt geben noch nicht einen einzigen Gedanken, denn das Geistige ist von einer absolut anderen Ordnung“ – aber ganz genauso muß auch gesagt werden: Alle menschlichen Lehren und Ermahnungen miteinander geben noch nicht einen einzigen Gottesgedanken, denn das wäre der Durchbruch von einer völlig anderen Ordnung aus, so gewiß Gott der Schöpfer, Versöhner und Erlöser des Alls ist. Wohlgemerkt, wir sprechen nicht über „das Absolute“, um damit sinnlose und nichtssagende Sprüche zu rechtfertigen wie: „Gott ist alles, der Mensch ist nichts“; wir sprechen von Gott, wie er in der heiligen Kirche bekannt wird, es geht also um eine bestimmte Qualität, einen besonderen „Gottesgedanken“, nämlich den Gedanken, den Gott über uns hat, um die kreative Kraft seines Beschlusses, Gott mit uns zu sein. Gegenüber dem allen behalten wir eine fundamentale Reserve, ein mit unserer Natur gegebenes Mißtrauen, einen von unserem Willen entfachten Widerstand; darin liegt der unendliche Qualitätsunterschied zwischen „Zeit“ und „Ewigkeit“, zwischen unserer Zeit und Gottes Zeit. Dieser Widerstand kann sehr wohl Zusammengehen mit religiösen Gefühlen mancherlei Art wie Abhängigkeit, Demut, Verehrung. Aber zu dieser bestimmten Qualität gehört schließlich ein bestimmter Glaube, der nämlich, daß, wie wunderbar das auch scheinen mag, die kreative Kraft Gottes uns ergreift durch die bescheidenen Annäherungen, die das Menschenwort unternimmt in der Sukzession der Apostel. Dieser Glaube, der Reflex und Abdruck von Gottes eigenem Handeln, ist mehr und etwas anderes als ein religiöses Gefühl, dieser Glaube ist auf die Eigenart Gottes bezogen, mit hineingezogen in sein Leben; wie die menschliche Natur Jesu keine selbständige Existenz hat, sondern durch die assumptio carnis aufgenommen ist in die Einheit Gottes, so ist es mit diesem eigentümlichen Glauben, durch den wir mit dem Wort vereinigt sind. Dieser Glaube ist in seiner ganzen Struktur das genaue Gegenbild der Prosternation der Gojim vor den Göttern und ihrer Verzückung in die Gottheit hinein.
Nach dem Zeugnis der heiligen Schrift ist die tiefe Religiosität des Heidentums als Feindschaft gegen das Gottsein Gottes enthüllt, als Abwendung vom Glauben an diesen geheimnisvollen Schöpfer des Glaubens, und somit als Flucht vor dem Wort, das einen Anspruch, einen Appell, eine Verheißung und ein Gebot überbringt.
Und wir, die wir alle von Natur aus Heiden sind, können dasselbe spüren in dem spontanen Ärgernis, das wir nehmen an diesem für unser Bewußtsein so hohen, leeren, überflüssigen Reden von einem unfaßbaren Gott inmitten einer Welt, die dröhnend voll ist von handfesten Wirklichkeiten, und gegenüber einer Kultur, die unaufhörlich Welten geistiger Werte entwirft.
Ist Gott, wenn man von seiner Offenbarung absieht, entweder der Absolute oder der Bekannte, der Unerreichbare oder der Erreichbare, dann wird die Predigt Beschreibung einer Wirklichkeit, Durchleuchtung des Welträtsels, Gleichnis, in dem das Gegebene für unsere Augen transparent wird. Die Welt ist Gottes Bild, und die Seele erahnt das Wort als ein Bild für die Beständigkeit der Dinge. Und im Bild ist das Abgebildete gegeben.
Wir müssen uns dessen sehr wohl bewußt sein, daß man auch die christlichen Worte als solche Bilder auffassen kann. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß, noch ganz abgesehen von dem, was die Dogmengeschichte (abwechselnd begleitet und geführt von der philosophischen Entwicklung) im Umkreis von Origenes und Scotus Erigena, Spinoza und Hegel an christlicher Predigt hervorgebracht hat, das religiöse Wort als solches, verstanden als Beschreibung, Umschreibung einer Gegebenheit, als alte oder neue Gnosis, bereits die ganze Paganisierung latent in sich trägt.
Wenn es noch Tausende gibt, die wollen, daß gepredigt wird, und Dutzende von Männern, die das zu können behaupten, und der stillschweigende Kontrakt: „wir können reden – wir können hören von diesen Dingen“ von keiner der beiden Seiten aufgekündigt wird, so lange wird das Predigen öffentlich weitergehen, und so lange wird derweilen auch das Heidentum heimlich in den Herzen weiterexistieren. So gesehen ist es wahrhaftig kein Wagnis, wie es bei den Propheten und Aposteln war, aber es wird dann auch schlechterdings keine Predigt sein in dem Sinn, den Propheten und Apostel mit diesem Wort verbunden haben. Denn das Wort ist immer ein Geschehen zwischen dem Herrn und seinem Volk, zwischen Gott und Mensch; und man kann es nicht betrachten wie ein Bild, noch handhaben wie einen Besitz, noch weitergeben wie ein Ding, noch annehmen wie eine Wahrheit. –
Aber wenn Gott dem Stammeln eines Menschen gnädig ist und seine Übertretungen zudeckt, dann „geschieht das Wort”, selten oder Mal für Mal, aber immer, wo es Gott gefallen und der Mensch es gewagt hat.
Ich sage nicht, daß es Gott gefallen hat, weil ein Menschenkind es gewagt hat, denn das ist das Wohlgefallen, daß in der Sukzession der Apostel Menschen erweckt werden, die ohnmächtiger als andere sind – und Gottes Kraft ist in ihrer Schwachheit mächtig (2. Kor. 12,9). Der Glaube selber ist, sobald wir auch nur einen Schritt in das Gebiet der Reflexion hinein tun, ein Wagnis besonders absurder Art. Ist er denn auch nur von der Innenseite aus gesehen vernünftig, begreiflich, notwendig? Bleibt an ihm nicht das Paradox der Gewißheit in der Ungewißheit? Und steht es nicht so auch mit der Predigt? Es scheint uns ein Hinweis auf die Tiefe der Predigt zu sein, wenn sie in ihrer Struktur so stark mit dem Glauben selber übereinstimmt. Darum wird auch, unserer Ansicht nach, umgekehrt dort, wo der Glaube als Gläubigkeit, als gläubige Lebenshaltung und Weltanschauung verstanden wird, die Predigt ganz anders aufgefaßt werden. So lautet eine typische These, die der unseren strikt entgegensteht: „Der Dienst des Wortes in der Versammlung der Gläubigen trägt weder den Charakter von Kerygma noch von Martyria noch von Propheteia, sondern den von Homilia.“[2] Im Gegenteil, wo, aus welchen Gründen auch immer, die Form und der Ton der Homilie gewählt wird, da wird keine Predigt geboren werden, es sei denn, sie würde durchbrochen oder bliebe beständig durchflutet von der propheteía im Dienst des kerygmatischen Gehaltes. In der Tat könnte bei der von uns abgelehnten Auffassung von Wagnis keine Rede sein; doch ebensowenig bliebe Raum für die Epiklese, das Gebet könnte letztlich nichts anderes sein als das Tischgebet über dem Brot, das bereits auf den Tisch gelegt ist.
Indessen können wir aus der Gelassenheit des Geistes und dem stetigen Fortgang des Tuns, wie sie aus dieser These von Sillevis Smitt sprechen, dies lernen, daß das Wort „Wagnis“ (in dem eine so stark erweckende Kraft für Schläfer liegt) in den Ohren der wachsamen Arbeiter nicht den Klang eines eigenmächtigen Abenteuers bekommen sollte. Es ist besser, auf einem holländischen Wasserlauf mit einer guten Ladung zu fahren, als einen Ozeanflug zu unternehmen, um einen Rekord aufzustellen. Das Beste aber ist es, das Risiko der offenen See einzugehen und sich dabei dem göttlichen Lotsen anzuvertrauen, der das Schifflein nach seiner Verheißung begleitet.
Ein Wagnis ist ein Versuch, bei dem der Mensch selber weiß (oder wissen könnte), daß viele und schwerwiegende Gründe gegen die Wahrscheinlichkeit eines Gelingens sprechen. Aber wenn wir von einem Wagnis reden, so tun wir es ja niemals, um von einem Versuch abzuraten, sondern nur um allzu unbesonnene Versuche zu verhindern.
Und praktisch ist es doch eigentlich so, daß wir in den großen Ereignissen des Lebens erst nachträglich mit frohem Entsetzen sehen und mit vollem Gewicht sagen: es war ein Wagnis. Und nur nachträglich kann (mit Platon) gesagt werden: kalòs ho kíndynos, wie schön ist das Wagnis! (Phaidon 114 D6) Der Glaube ist ein Antworten und ein verantwortliches Handeln; er ist als Gabe reiner Gnade eine Tat fundamentaler Freiheit (strenggenommen unsere einzige freie Handlung). Und nicht anders als getragen von dieser Freiheit wagen wir es, das Jahr des Wohlgefallens des Herrn auszurufen mit unseren eigenen Worten, in einer Sprache, die, von der Schrift geordnet, vom Geist beseelt, wahr sein möge in dieser unwiederholbaren Stunde der menschlichen Existenz, hier und jetzt, vor Gott – in der Erwartung, daß solche da sind, die unseren sekundären Apostolat begrüßen wie Cornelius: „Du hast recht getan, daß du gekommen bist. Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn befohlen ist“ (Apg. 10, 33).
Quelle: Kornelis Heiko Miskotte, Das Wagnis der Predigt, hrsg. u. übers. v. Heinrich Braunschweiger und Hinrich Stoevesandt, Stuttgart: Calwer, 1998, S. 12-22.
[1] M. Buber, Die chassidischen Bücher, Berlin 1928, S. 383; Hervorhebung von Miskotte.
[2] Sillevis Smitt, De organisatie van de christelijke kerk in den apostolischen tijd, Rotterdam 1920, These 19.