
Mein theologischer Lehrer Friedrich Mildenberger wusste Karl Steinbauers Schriftauslegungen und Predigten zu schätzen. Dazu sein Vortrag, den er am 3. Juni 2003 im Karl-Steinbauer- Haus der ESG Bamberg gehalten hatte:
Vorwärts ins Land der Verheißung. Karl Steinbauers prophetische Zeitdeutung
Von Friedrich Mildenberger
1. Vorüberlegungen zur Bibelhermeneutik
Wir können gerade im akademischen Rahmen nicht mehr mit der Bibel umgehen, ohne uns Rechenschaft über unser Verstehen zu geben. Man mag das begrüßen oder bedauern. Es läßt sich aber nicht gut ändern. Ich will dazu nun nicht die hermeneutischen Debatten der Theologen, wie sie die letzten zweihundert Jahre gelaufen sind, wiederholen. Ich nenne nur einen grundlegenden Sachverhalt. Den müssen wir allerdings klar vor Augen haben, wenn wir verstehen wollen, wie Karl Steinbauer mit biblischen Texten, Worten und Geschichten so umgegangen ist, daß sich ihm darin Gottes Handeln in der eigenen Gegenwart erschlossen hat. Das meine ich ja, wenn ich von seiner prophetischen Zeitdeutung rede.
Dazu mache ich zunächst auf eine scheinbare Banalität aufmerksam. Wenn wir den Vorgang des Verstehens reflektieren, dann setzen wir dabei voraus: Da ist der biblische Text, oder besser im Plural: Da sind die biblischen Texte, die verstanden werden sollen. Und da sind auf der anderen Seite wir, die diese Texte zu verstehen suchen. »Wir«, das brauche ich nun nicht weiter aufzuschlüsseln. Es genügt, darauf hinzuweisen: »Wir« sind bei diesem Vorgang des Verstehens aktiv. »Wir« beschäftigen uns mit dem Text, legen ihn aus, befragen ihn nach der historischen Situation, in der er entstanden ist und nach dem, was er uns von seinen Autoren wie dann von seiner Tradition verrät. Als »historisch- kritische Methode« lernen wir Theologen diese Art der Auslegung und bringen es in ihr zu einer mehr oder weniger großen Fertigkeit. Wir kennen freilich auch andere Weisen des Umgangs mit den biblischen Texten. Wir können sie meditieren, können sie als Bibliodrama nachspielen, können versuchen, uns diese Texte existentiell anzueignen. Und auch darauf läßt sich leicht eine Antwort geben, warum wir uns so in vielfältiger Weise mit den biblischen Texten beschäftigen: Wir erwarten, daß da etwas zu finden ist, das wichtig ist für uns, das uns angeht.
Spinne ich diesen Gedanken weiter, dann wird rasch kenntlich werden: so selbstverständlich und banal ist die gängige Vorstellung doch nicht. Also die scheinbare Banalität, daß bei einem solchen Vorgang des Verstehens wir, die Ausleger, aktiv sind. Der Text, der verstanden werden soll, wäre dann der allein passive Gegenstand solcher Verstehensbemühungen. Wie weit das, worauf ich jetzt hinweisen möchte, ganz allgemein gilt, also auch für das Verstehen anderer als der biblischen Texte, darüber brauche ich mich jetzt nicht auszulassen. Auf jeden Fall muß das zunächst von mir genannte Modell dahin verändert werden: nicht nur wir, die mit Texten umgehen und sie zu verstehen suchen, sind aktiv. Vielmehr sind die Texte selbst aktive Partner im Vorgang einer solchen Auslegung. Nicht nur wir beschäftigen uns mit diesen Texten. Vielmehr sind es die Texte selbst, die uns beschäftigen, festhalten, nicht mehr los lassen.
Dazu führe ich Karl Steinbauer mit dem Vorwort zu seinen bekannten Mose- predigten an: »Die Geburtsstunde dieser Predigten ist eine Unterrichtsstunde, wohl schon 1933, in der Sakristei der Kirche in Kochel am See, während der mich plötzlich das ganze Geschehen dieser Mosekapitel so ansprach, als geschähe dies alles heute unter uns. Seitdem ließ mich dieses Wort als ein Wort Gottes an uns nicht mehr los.« (82)[1] Das kennen wir alle, daß uns so ein geschriebenes Wort lebendig wird, daß es uns nicht mehr los läßt, daß es Kopf und Herz beschäftigt, vielleicht wirklich auf eine lange Zeit hin. Was wir allenfalls, anders als Karl Steinbauer hier, nicht immer und nicht mit derselben Gewißheit sagen werden: dieses Wort, das mich da nicht mehr los läßt, das ist ein Wort Gottes an uns. Und darum muß ich es unbedingt weiter sagen und an die ausrichten, die es angeht. Um es mit Steinbauers Formulierung zu sagen: Weil es Zeugnis für sie ist, darum haben wir die Pflicht, ihnen dieses Zeugnis auch zu gönnen.
Hier muß ich nun einen polemischen Exkurs einfügen: Die historisch-kritische Methode ist dort, wo sie streng und grundsätzlich angewandt wird, darum bemüht, die Überlegenheit der Ausleger über die biblischen Texte zu behaupten und festzuhalten. Da soll die Aktivität ganz beim Ausleger sein und der Text darf nur sagen, was der Ausleger ihn sagen läßt. Solche Auslegung ist hoffentlich nicht bloß mit sich selbst beschäftigt. Sie nimmt die Texte, mit denen sie sich befaßt, sehr ernst. Sie will diese Texte in ihrer ursprünglichen Aussageintention zu Wort kommen lassen. Sie will sie in ihrer Eigentümlichkeit, gerade in ihrer Fremdheit, stehen lassen und warnt davor, diese biblischen Texte vorschnell anzueignen und für die eigenen Gedanken, Intentionen, Interessen anzuführen. Aber damit nimmt sie diesen Texten ihre gegenwärtige Lebendigkeit und macht sie zum bloßen Gegenstand eines Verstehens, das möglichst »objektiv« sein soll, allgemein mitteilbar und möglichst von allen mit der Auslegung dieser Texte befaßten Personen nachzuvollziehen. Wort Gottes, und das heißt natürlich immer: Wort Gottes an uns heute können diese Texte dann nicht sein. Um diesen Anspruch, der seinerzeit von der Kirche für die Bibel erhoben wurde, zu bestreiten, ist die historisch-kritische Methode einmal ausgebildet worden. Und auch wenn sich die Schärfe dieser Kritik durch Gewohnheit und langen Gebrauch abgeschliffen hat: dieses Merkmal ihres Ursprungs haftet ihr bis heute an.
Was mich an der Bibelauslegung Karl Steinbauers immer wieder fasziniert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der er dem Wort der Bibel die Aktivität, die eigentliche Lebendigkeit zudenkt und darum selbst nur agieren kann als einer, der von diesem Wort ergriffen ist und darum beauftragt, dieses ergreifende Wort weiterzusagen, es denen zu bezeugen, die es angeht. Seine eigene unbestreitbare Aktivität ist ganz von diesem Wort beansprucht, in Dienst genommen. Weil er sieht, anders, besser sieht als viele Andere, darum muß er reden. Ich sage das noch einmal, um nicht mißverstanden zu werden: Unbestreitbar ist Karl Steinbauer aktiv, wenn er die Bibel liest, wenn er sie auslegt, wenn er predigt, wenn er Texte abschreibt und weitergibt. Aber er selbst sieht sich dabei in der Rolle dessen, der in Dienst genommen ist, der nicht in eigener Vollmacht redet, streitet, straft und tröstet. Das Wort, Christus als dieses Wort Gottes und Gott selbst, der diesen Christus gesandt hat, ist der, der letztlich handelt und darum auch verantwortlich ist für das, was bei solchem Reden, Streiten, Strafen und Trösten herauskommt. Dem will ich nun ein Stück weit nachfragen.
2. Die Gewissensbindung Steinbauers an das Lutherische Bekenntnis
Ein solcher unmittelbarer Umgang mit den biblischen Texten oder Geschichten, wie er bei Karl Steinbauer vorliegt, ist natürlich nicht eine einmalige Sache. Er begegnet uns in den verschiedensten Spielarten. Und in aller Regel ist uns ein solcher Umgang beschwerlich, so wie seinerzeit Karl Steinbauers Umgang mit biblischen Texten beispielsweise für seinen Bischof und seine Kirchenleitung beschwerlich gewesen ist. Wir haben heute für einen solchen Umgang mit der Bibel ein polemisches Schlagwort bereit: Das ist Fundamentalismus. Solcher Fundamentalismus ist eng, sektiererisch, unmodern, kommunikationsunfähig, und darum nicht unsere Sache. Nach den gegenwärtig gängigen Maßstäben könnte man Karl Steinbauer in der Tat als einen Fundamentalisten bezeichnen. Ließen wir die negative Konnotation dieser Bezeichnung weg, dann hätte ich dagegen auch nichts einzuwenden.
Freilich muß dann immer mit bedacht werden, daß dieser Umgang Steinbauers mit den biblischen Texten hoch reflektiert gewesen ist. Und zwar reflektiert im Sinne einer an Luther selbst geschulten und immer wieder kontrollierten Hermeneutik: Die biblischen Texte haben ihr Zentrum und ihren Maßstab an Jesus Christus, durch den Gott selbst uns mit sich versöhnt hat. Jesus Christus ist Gottes Wort an die Welt, ist die Aufforderung, sich Gottes rechtfertigendes Handeln gefallen zu lassen. Darum ist es das vom Gesetz unterschiedene, freilich zugleich mit ihm verbundene Evangelium, auf das die ganze Schrift zielt. Nur in unmittelbarer Verbindung mit dieser Gesamtintention des biblischen Wortes kann der einzelne Text, kann die einzelne biblische Geschichte bindendes Gotteswort für die gegenwärtige Kirche und ihre Zeugnisverpflichtung gegenüber der Welt sein.
Rechtfertigung um Christi willen allein aus Glauben ist also der Schlüssel zum Verständnis der biblischen Texte. Das schließt freilich ein, daß sich diese Texte an Menschen wenden, die diese Rechtfertigung brauchen, weil sie sich in ihrer Sündhaftigkeit nicht selbst recht fertigen können. Das auch und gerade dann nicht, wenn sie meinen, sie könnten und müßten das tun. Hier muß ich nun ein zweites Merkmal nennen, das ich als für den Umgang Karl Steinbauers mit den biblischen Texten kennzeichnend erfahren habe: Seine Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit, die sich selbst wie denen, die mit ihm zu tun hatten, kein Ausweichen und erst recht keine krummen Touren erlaubt. Ich kann das auch mit dem Ausdruck »Gottesfurcht« bezeichnen. Eine charakteristische Wendung, die in seinen Erzählungen immer wieder auftaucht, ist die: »Ich hab mich nicht getraut«- etwa mit dem Läuten der Kirchenglocken den Wahlbetrug der Nationalsozialisten zu decken oder mit dem Ariernachweis den Zugang zum Religionsunterricht in der Schule zu erkaufen, während doch Jesus selbst, der Jude, draußen bleiben müßte.
Es ist hier nicht der Ort, um ausführlich auf Steinbauers Verständnis von Röm 13,1-7 und damit verbunden seine Auffassung der »Zwei- Reiche- Lehre« einzugehen. Der Hinweis muß genügen, dass die mit dem Zeugnis des Evangeliums betrauten Menschen gerade auch den politisch handelnden Personen das Zeugnis schuldig sind. Dadurch sollen sie je an ihrem Ort auf ihre Verantwortung für Recht und Wahrheit im öffentlichen politischen Leben des Gemeinwesens hingewiesen werden. Das ist das den Christen aufgetragene politische Handeln. Es soll also nicht zu einer Trennung von Staat und Kirche kommen. Vielmehr ist die Kirche mit ihrem Zeugnis gerade an die politisch handelnden Personen verantwortlich dafür, daß Gottes Wille und so Recht und Wahrheit im Staatswesen in Geltung bleiben. Auch diese Folgerung aus seinem Verständnis des lutherischen Bekenntnisses ist in das Verständnis der biblischen Texte bei Karl Steinbauer eingegangen. Dass das Gotteswort der Schrift unmittelbar die Gegenwart betrifft, konkretisiert sich also auch darin, dass es neben der Zuspitzung auf die Kirche sich an diesen politisch handelnden Personenkreis wendet. Auch dieser Blick auf die im Gemeinwesen handelnden Personen gehört für mich zu den prophetischen Zügen im Wirken Karl Steinbauers.
3. Die eigene Zeit im Licht der biblischen Geschichte
Das Gotteswort selbst, die biblischen Texte und Geschichten, legen »uns« aus. So ließe sich etwas zugespitzt sagen. Das ist die Konsequenz daraus, daß die Aktivität im Vorgang des Verstehens primär bei dem Gotteswort der Schrift liegt. »Wenn da eine Frage aufkam, wenn etwas zu entscheiden war, wenn etwas gesagt werden mußte, dann hab ich sozusagen in Gedanken die Bibel durchgeblättert, bis das richtige Wort aufleuchtete«: So konnte Karl Steinbauer das schildern. Das war freilich nicht die Benutzung der Bibel als Orakelbuch, wie das beim »Däumeln« oder »Nadeln« und in etwas abgemilderter Form bei der Festlegung der Herrnhuter Losungen der Fall ist. Vielmehr ist da die eigene Zeit, verstanden oder erst recht in ihrer Fraglichkeit erfaßt, in Bewegung. Und Ziel dieser Bewegung ist es, dass sie an die Bibel so andocken kann, dass es da hin und her zur Kommunikation kommt.
Zur Verdeutlichung führe ich den Eingang der »Verhaftungspredigt« vom 8.1.1939 über Mt 2,13-23 an. »Jesus auf der Flucht nach Ägypten« so setzt Steinbauer ein: darüber könne man ein Buch schreiben, das die ganze Kirchengeschichte von ihren Anfängen bis heute umfasse, und daneben, auch durch die ganze Kirchengeschichte hindurch, der Bethlehemitische Kindermord. Gestalt und Namen des Verfolgers änderten sich. Aber diese Verfolger können des Kindleins nicht habhaft werden, bei allem hin und her zwischen geheuchelter Religiosität und nackter grausamer Brutalität. Steinbauer schildert diese Geschichte in einigen Stationen, um dann auf die eigene Situation zu kommen, den Kindermord, bei dem man durch eine nationalsozialistische Indoktrination den Kindern und der jungen Generation den Heiland entfremden und aus dem Herzen reißen wolle. Wir hätten für diese Not nur deshalb vielfach keine Augen, weil es ein unblutiger bethlehemitischer Kindermord sei, der sich da vollziehe. »Es müßten Leichenwägen fahren für die, denen Christus aus dem Herzen gerissen worden ist, für die Opfer dieses unblutigen bethlehemitischen Kindermordes, dann würde uns die Haut schauern!« (234) Dazu nenne ich einen möglichen Einwand: Wird hier nicht die Geschichte in ihrer Einmaligkeit mißachtet, auf typische Vorgänge reduziert, die dann wieder die doch ebenso einmalige Gegenwart in solcher Typik erfassen wollen? Das ist doch der althergebrachte Gebrauch oder Mißbrauch der Geschichte als einer Beispielsammlung, die es ermöglichen soll, für die Gegenwart zu lernen. Ob das überhaupt möglich sei, ob sich also in der Tat aus der Geschichte lernen läßt, das ist dann allerdings eine immer umstrittene Frage. Diesem Einwand könnte dann Recht gegeben werden, wenn nicht die besondere Dignität jener biblischen Geschichte beachtet würde, an welche die jeweilige Gegenwart angrenzt. Jedenfalls für das Verstehen Steinbauers ist ja zentrale Vorgabe, dass da nicht eine beliebige geschichtliche Begebenheit mit einer anderen geschichtlichen Begebenheit verglichen wird, um daraus dann eine Nutzanwendung zu ziehen. Vielmehr ist es die Geschichte des Gottesvolkes mit ihrem Zentrum in der Menschwerdung Gottes in Christus selbst, die als kritischer Maßstab die Beurteilung der Gegenwart ermöglicht und zu einer solchen Beurteilung nötigt. Darum sind es ja nicht eigentlich wir, die vergleichen und beurteilen. Wir werden verglichen und beurteilt von diesen biblischen Geschichten her. So ist Karl Steinbauers Anführung dieser Gottesgeschichte als Deutung der eigenen Erfahrungen zu verstehen. In dieser Geschichte wird kenntlich, wie Gott selbst richtend und rettend in unserer eigenen Gegenwart am Werk ist.
Sicher könnten wir jetzt anfangen, erst recht diese Voraussetzung kritisch in Frage zu stellen. Sie liegt ja einerseits quer zu der Grundvoraussetzung der historischen Bibelauslegung aller Spielarten bis zu den evangelikalen Konstrukten einer Heilsgeschichte: dass Geschichte ein linearer Ablauf sei, in dem Früher und Später, Vorher und Nachher nun einmal nicht zusammen kommen können. Sie ist andererseits – und dieser Einwand ist gegenwärtig sicher noch aktueller – einer religiösen Weltsicht kaum zu vermitteln, wie sie gegenwärtig gang und gäbe ist; nehmen wir als Anschauung dafür den spektakulären Auftritt des Dalai Lama auf dem ökumenischen Kirchentag. Sie erhebt ja in aller Deutlichkeit einen christologisch begründeten Anspruch, der einen interreligiösen Dialog stört, weil er die Einzigkeit der biblischen Gottesgeschichte als ihre Einzigartigkeit behauptet, die anderen Geschichten ihren Rang bestreiten muß. Hier müssen wir freilich sehr behutsam sein mit unseren Urteilen. Eine solche kritische Diskussion hin und her wäre ja nur von einem Standpunkt aus möglich, der sich selbst aus dem Anspruch konkreter Entscheidungssituationen zurücknimmt und auf allgemeine Bestimmungen ausgeht, die immer und überall gelten sollen. Die Betroffenheit durch ein Jetzt und Hier, das Entscheidung verlangt, wird so aufgehoben. Man verständigt sich auf ein allgemeines Toleranzprinzip. Die dann doch jeweils nötigen Entscheidungen werden nach Gewohnheit oder nach pragmatischen Gesichtspunkten getroffen, die jedenfalls aus dem Kontext der prophetischen Wahrnehmung der eigenen Zeit im Licht des Bibelwortes herausfallen. Für eine solche Wahrnehmung aber ist Steinbauer mit seinem Zeugnis eingestanden. Was Karl Steinbauer in seinen Gesprächen mit Landesbischof Meiser begegnete, bringt das sehr deutlich auf den Punkt. In dem Streit darüber, ob die Bischöfe im Januar 1934 in ihrer Audienz bei Hitler das Bekenntnis verleugnet, die Kirche verraten und die Pfarrer im Notbund im Stich gelassen hätten, bekam er von seinem Bischof die Auskunft: »Was Sie hier sagen, ist theologisch alles sehr fein, aber wir müssen mit gegeben en Tatsachen rechnen«. Die gegebenen Tatsachen seien für Meiser eindeutig Adolf Hitler, seine Macht, sein Drohen, seine Staatszuschüsse für die Kirche gewesen. »Ich hab darauf geantwortet: Es fragt sich nur, ob der Herr Christus, dem gegeben ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden, auch noch eine gegebene Tatsache ist, mit der wir in der Kirche rechnen dürfen« (Zeugnis I, 120f). Mit dieser Behauptung, die für Steinbauer die unwiderlegliche Vorgabe seiner Zeitdeutung und damit verbunden seines Redens und Handelns ist, steht und fällt das Recht seines Anspruches. Ich will und kann diesen Anspruch hier darum nicht als eine allgemeine Bestimmung der Wirklichkeit behaupten, also zu einem ontologischen Grunddatum erheben. Aber für ein Verständnis der Zeitdeutung Steinbauers im Licht des Bibelwortes ist er unumgänglich.
4. Der Anspruch der Gottesgeschichte an die eigene Gegenwart
Solche prophetische Zeitdeutung, wie sie bei Steinbauer begegnet, kann also nicht neutral sein. Sie stellt in die Entscheidung, ob das nun wahr sei und also gelte und das Handeln bestimme, oder ob man darüber diskutieren und es im Zweifelsfall als »theologisch sehr fein« und zugleich als für das Handeln irrelevant beiseite stellen könne. Für Steinbauer ist diese Entscheidung gefallen. Aber eben darum nötigt er andere zu solcher Entscheidung. Ich gehe dazu nun etwas näher auf die »Mosepredigten« von Karl Steinbauer ein. An ihnen hat er immer wieder gearbeitet, hat sie weitergedacht und dann ja auch veröffentlicht, weil er meinte, sie seien auch nach der Zeit des Kirchenkampfes und des dritten Reiches für die kirchliche Gegenwart von unmittelbarer Bedeutung. Ich selbst habe Steinbauer als Prediger dieser Mosepredigten zuerst wahrgenommen. Ihr Text ist die Erzählung in 4.Mose 13 und 14. Da ist das Gottesvolk auf seinem Zug aus Ägypten durch die Wüste am Rand des verheißenen, des gelobt en Landes angekommen. Mose sendet Kundschafter aus, von jedem der 12 Stämme einen vornehmen Mann, die dieses gelobte Land durchziehen und dem Volk davon berichten sollen. Es ist das gute Land, wie es Gott verheißen hat, so berichten die Kundschafter bei ihrer Rückkehr. »Aber…« Dieses »Aber« ist für Steinbauer der Schlüssel seiner Auslegung oder besser Anwendung des Textes. Aber da sind die Einwohner dieses Landes; die werden nun in der Erzählung der Kundschafter immer größer. »Wir sahen dort auch Enaks Söhne aus dem Geschlecht der Riesen, und wir waren in unseren Augen wie Heu schrecken und waren es auch in ihren Augen.« (4.Mose 13,33). Die Folge ist die Rebellion gegen Mose, Verzweiflung, die Absicht, einen Hauptmann zu wählen und unter dessen Führung wieder nach Ägypten zurückzuziehen. Gegen diesen Unglauben kommen Josua und Kaleb, die als zwei von den Kundschaftern an Gottes Verheißung erinnern, nicht an. Steinigen solle man sie, obwohl sie doch nur an Gottes Verheißung erinnerten und dazu aufforderten, im Vertrauen auf Gottes Verheißung das Land einzunehmen. Gott greift ein, und es ist nur Moses Fürbitte zu verdanken, dass nicht das ganze Volk Gottes Gericht zum Opfer fällt. In dieser Fürbitte argumentiert Mose damit, dass doch sonst die Ägypter wie die Völker im verheißenen Land an Gottes Macht, seine Verheißung wahr zu machen, zweifeln würden: weil er nicht die Macht habe, das Volk in das verheißene Land zu führen, habe er sie in der Wüste hingeschlachtet. Aber auch wenn so die totale Vernichtung des Gottesvolkes durch Moses Fürbitte abgewandt wird, bleibt es beim Gericht Gottes. Diese ganze Generation werde das verheißene Land nicht sehen. Erst ihre Kinder sollten es einnehmen dürfen.
Als Verheißung Gottes an die Kirche seiner Zeit legt Steinbauer diesen Text aus, zugleich aber auch als Gerichtswort, wie das ja nicht gut anders möglich ist. Glaube steht dagegen Unglauben, Gottes Verheißung in Christus gegen die »Tatsachen«, die immer größer und mächtiger werden. Natürlich kennt seine Kirche, sein Bischof, die Oberkirchenräte und seine Amtsbrüder Gottes Wort, kennen Christus, kennen Gottes Verheißungen und pochen auf ihr lutherisches Bekenntnis. »Aber…« da sind dann wieder die Tatsachen, die doch auch beachtet werden müssen. Ich erinnere an Meiser: »Was Sie hier sagen, ist theologisch alles sehr fein, aber wir müssen mit gegebenen Tatsachen rechnen.« Weil die Kirchenmänner den nationalsozialistischen Machthabern gegenüber nicht mit Gottes Verheißung in Christus rechneten, sondern den gegebenen Tatsachen Rechnung tragen wollten, um so die Kirche zu erhalten, darum blieben sie das aufgetragene Zeugnis schuldig, nach innen wie erst recht nach außen. Sie wollten selbst den Bestand der Kirche in dieser schwierigen Zeit verantworten, und wurden gerade damit ihrer Verantwortung als Zeugen des Gotteswortes nicht gerecht. Steinbauer selbst sieht sich in der Rolle des Kaleb, auf den man nicht hören will.
Über Einzelheiten dieser Deutung ließe sich viel sagen und auch kräftig streiten. Ich mache nur noch einmal auf das aufmerksam, was ich in den vorhergehenden Überlegungen vorgetragen habe: Diese Deutung der eigenen Zeit in den Mosepredigten steht für Steinbauer im Kontext der ganzen Bibel. Und zwar der durch das Christusgeschehen und das Rechtfertigungshandeln Gottes in diesem Christusgeschehen als ihrer Mitte ausgelegten Bibel. Bestreiten wir, dass das der angemessene Kontext für das Verstehen ist, dann ist ein Streit mit der Zeitdeutung Steinbauers sinnlos. Akzeptieren wir diese Voraussetzung Steinbauers, werden wir ihm mindestens in der Grundintention Recht geben müssen. Und fragen dann natürlich weiter, warum er mit seiner Zeitdeutung samt den Folgerungen, die er daraus gezogen hat, doch recht einsam geblieben ist. Wieso konnten ihm die leitenden Männer seiner Kirche nicht folgen?
Nachwort
Wir könnten wünschen, daß es damals anders gelaufen wäre, daß sich die leitenden Männer der Kirche auf Steinbauers Zeitdeutung eingelassen hätten. Wir können freilich auch nicht sagen, was dann aus der Kirche, was aus dem Staat, was aus dem Nationalsozialismus und aus Deutschland geworden wäre. Sicher ist ein Urteil im Nachhinein, wenn man es sowieso besser weiß, leichter als damals. Dass Karl Steinbauer damals recht hatte und dass es besser gelaufen wäre in der Kirche und auch im Staat, wenn es nach ihm gegangen wäre, wenn also die Kirche eindeutig bei dem ihr aufgetragenen Zeugnis geblieben wäre, das wollten wir zwar gerne annehmen. Aber das verlangte dann auch, daß wir uns seine Voraussetzung zu eigen machten. Dazu genügt aber nicht, daß wir seinen Ansatz des Verstehens grundsätzlich billigen. Das wäre zu einfach. Wir müßten versuchen, mit seiner Zeitdeutung in unsere eigenen Erfahrungen, Fragen und Entscheidungen weiter zu gehen. Denn nur in konkreten Entscheidungen lässt sich bewähren, was wir als Grundhaltung bei Karl Steinbauer wahrnehmen: daß die Kirche in ihrer ganzen Existenz allein von Gottes Zuwendung in Jesus Christus lebt und daran ihr Reden und Handeln auszurichten hat.
In den letzten Wochen begegnen mir noch und noch Nachrichten und Meldungen von der Nötigung, bei den öffentlichen Ausgaben zu sparen und darum nicht nur staatliche, etwa kommunale, sondern gerade auch kirchliche Einrichtungen aufzulassen. In der heutigen Ausgabe der Nürnberger Nachrichten ist das die Evangelische Medienzentrale in Nürnberg. Von einer »Giftliste« mit Sparvorschlägen ist da die Rede, und die betroffenen Einrichtungen wehren sich, denn wenn schon gespart werden muß, dann soll das bei anderen geschehen, die nicht so nötig sind. Was für ein verheerendes Bild der Kirche sich da bei denen bildet, die so etwas von außen beobachten, – also bei den Ägyptern und den Kanaanäern, um bei 4.Mose 13.14 zu bleiben – das brauche ich jetzt nicht weiter auszuführen. Wo bleibt denn eigentlich die Glaubwürdigkeit einer Kirche, deren vornehmste Sorge es anscheinend ist, mit den schrumpfenden Einnahmen noch so halbwegs zurechtzukommen? Die Aktivitäten der Kirche müssen da, wie man hört, eben anders gewichtet werden, so daß es möglich bleibe, das Wesentliche auch dann weiterzuführen, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel noch weiter zurückgehen.
Dazu frage ich mich, und will das auch gerne weiter sagen: Wie kommt es eigentlich zu einer solchen verqueren Rechnung: daß es zuerst einmal die zu erwartenden Mittel sind, an denen sich das Planen und Handeln der Kirche auszurichten hat? Ist da nicht der kirchliche Auftrag? Und ist da nicht die mit diesem Auftrag verbundene Verheißung, daß es dazu nie an Mitteln fehlen werde? Ich nenne dazu einen vielleicht nicht allen unter uns geläufigen Text: »Und sie hatten vergessen Brot mitzunehmen, und hatten nicht mehr mit sich im Boot als ein Brot. Und er gebot ihnen und sprach: Schaut zu und seht euch vor vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes. Und sie bedachten hin und her, daß sie kein Brot hätten. Und er merkte das und sprach zu ihnen: Was bekümmert ihr euch doch, daß ihr kein Brot habt? Versteht ihr noch nicht, und begreift ihr noch nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz in euch? Habt Augen und seht nicht und habt Ohren und hört nicht, und denkt nicht daran: Als ich die fünf Brote brach für die fünftausend, wie viel Körbe voll Brocken habt ihr da aufgesammelt? Sie sagten: Zwölf. Und als ich die sieben brach für die viertausend, wie viel Körbe voll Brocken habt ihr da aufgesammelt? Sie sagten: Sieben. Und er sprach zu ihnen: Begreift ihr denn noch nicht?« (Mk 8,14-21). Sollte eine solche Erinnerung und Mahnung nicht genug Orientierung geben, um sich in einer solchen vergleichsweise harmlosen Krise der Kirche in ihrer gegenwärtigen landeskirchlichen Gestalt zurechtzufinden? Aber anscheinend sieht man überall nur zurück nach den Fleischtöpfen der staatlich garantierten Einnahmen durch eine im Grund längst obsolet gewordene Finanzierung der Kirche in Anlehnung an den Staat. Ich könnte in Erinnerung an den eben angeführten Text auch von dem Sauerteig des Herodes reden, mit dem man weiter seine Brötchen backen will. Je mehr einerseits die m.E. durchaus begrüßenswerte Säkularisierung unseres Staates fortschreitet, und je mehr andererseits das Steuersystem, an das sich die Kirche angehängt hat, sich von den direkten zu den indirekten Steuern hin verändert, desto kleiner werden die Fleischtöpfe Ägyptens samt diesem scheinbar bequemen Auskommen der Kirche werden. Was man dem Pharao an Unterwerfung und Unterstützung dadurch schuldet, davon will ich jetzt noch gar nicht reden. Zeigt das nicht sehr deutlich: mit solchem Blick zurück wird die Kirche gewiß nicht in das verheißene Land kommen, sondern auf ihrer Wüstenwanderung immer weiter verkümmern? Nicht zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, sondern vorwärts ins Land der Verheißung muß sich doch der Blick richten.
Das heißt dann konkret: Nicht eine staatliche Alimentierung kann bestimmen, was die Kirche an Aufgaben wahrzunehmen hat. Vielmehr ist es ihr Auftrag, an dem sie ihre Aufgaben auszurichten hat. Und dafür wird dann das Geld nicht fehlen. Vielleicht ist die gegenwärtige Knappheit der Mittel gerade die Chance der Kirche, sich zu verändern und aus einer Gestalt herauszukommen, die viel zu viel von dem Knechtshaus Ägypten an sich trägt. Statt zu jammern über angeblich notwendige Einschränkungen und statt sich darüber zu streiten, ob jeweils die eigenen Einrichtungen und Stellen nicht doch notwendiger sind als andere, könnte man ja auch Phantasie und Energie dafür aufwenden, nach anderen Möglichkeiten zu fragen, wie die Kirche ihre Mittel für die Aufgaben aufbringt, die mit ihrem Auftrag verbunden sind. Ich denke, das ist jetzt an der Zeit, und darüber zu diskutieren stünde der Kirche besser an als jenes Jammern, das dann bis in die Medien hinein seinen Widerhall findet. Aber da ist Gewohnheit und Gedankenlosigkeit anscheinend noch zu stark, als daß man sich ernsthaft dieser Herausforderung stellen will. Es sind ja auch die Enakskinder in diesem Land der Verheißung, die gegebenen Tatsachen, mit denen man nun einmal rechnen muß, und so ist es verschlossen und anscheinend bleibt eben doch nur der Weg zurück nach Ägypten und die Aussichten, die der Kirche da noch bleiben. Also: sind wir gegenwärtig als Kirche bereit und fähig zu einer solchen Veränderung? Hier muß ich ohne Antwort schließen. Was Karl Steinbauer dazu sagen würde, brauche ich dabei nicht selbst vorzubringen. Das mag sich jeder selbst fragen.
Der Text wurde am 3. Juni 2003 im Karl-Steinbauer- Haus der ESG Bamberg vorgetragen.
Korrespondenzblatt, 118. Jahrgang, Nr. 8/9 Aug./Sept. 2003, S. 125-130.
[1] Nur mit Seitenzahl angeführte Zitate sind entnommen aus: »Ich glaube, darum rede ich!« Hrsg. Johannes Rehm, Tübingen, 2. Aufl., 2001.