Die theologische Bedeutung der Endform eines Textes
Von Brevard S. Childs
In den letzten Jahren wurden mehrfach Stimmen laut, die den Verdacht zum Ausdruck brachten, der historisch-kritische Zugang zu biblischen Texten sei entweder falsch oder unangemessen. Man solle die Bibel eher in der »Endform« ihres Textes lesen, als sich kritisch rekonstruierten früheren Stadien der Textentwicklung widmen. Weil die Sache, um die es geht, komplex und kontrovers ist, führt die Debatte häufig zu Mißverständnissen und Verzeichnungen. Daher ist es notwendig, die verschiedenen zu erörternden Teilfragen durch vorsichtige und präzise Differenzierungen herauszuarbeiten. Vielleicht ist es am besten, zu Beginn einige der illegitimen Begründungen zu umreißen, die zu Angriffen auf die historisch kritische Methode dienen, um dann erst zu jenen überzugehen, die mir legitim zu sein scheinen.
I. Illegitime Argumente zum Angriff auf die kritische Methode
Seit dem Aufkommen der kritischen Bibelforschung gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es immer wieder Stimmen, die diesen Zugang zur Schrift als prinzipiell illegitim zurückwiesen. Diese Einwände wurden überwiegend von einer theologisch-dogmatischen Position aus vorgetragen, derzufolge die Bibel Gottes Offenbarung an die Kirche enthält, die den Propheten und Aposteln übernatürlich geoffenbart und, von der Vorsehung geleitet, in den Institutionen der Kirche und Synagoge überliefert wurde. Daher wird historische Kritik verdächtigt, eine skeptische Distanz zur Bibel widerzuspiegeln, die dem Glaubensleben entgegengesetzt ist.
Um dem zu entgegnen, sollte man zuerst beachten, daß der Streit mit dem Traditionalismus innerhalb der Kirche um die theologische Legitimität der historisch-kritischen Methode weithin schon im 19. Jahrhundert ausgetragen wurde. Als Ergebnis entstand innerhalb der christlichen Kirche ein Konsens, der nicht nur ihre Legitimität verteidigte, sondern auch gerne ihre Beiträge annahm. Mit den Mitteln der historisch-kritischen Methode entdeckte die Kirche in einer neuen Weise die menschliche Seite der Bibel, was zu einer offensichtlichen Bereicherung führte. Insgesamt betrachtet liegt der bleibende Beitrag der historischen Kritik darin, daß sie den Einspruch des kirchlichen Dogmatismus zurückweist und den biblischen Text zu einem ursprünglichen Verstehen befreit. Da die verschiedenen Formen des Fundamentalismus fortbestehen, kommt der Kritik ständig die wichtige Funktion zu, sich jeder Versuchung zur Rückkehr in vorkritische Zeiten zu widersetzen. [243]
Eine zweite abwehrende Reaktion, die sich gegen das kritische Studium der Bibel richtet und die in der Kirche schon zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt aufkam, nimmt ihren Ausgangspunkt von der Spiritualität. Man wies darauf hin, daß jeder Christ einen direkten Zugang zu den spirituellen Wahrheiten der Schrift hat, der nicht erst durch menschliche Gelehrsamkeit vermittelt werden muß. Die Tätigkeit der Kommentatoren sei in sich nicht falsch, für wahres christliches Leben aber weithin wertlos und irrelevant. Schon Augustinus mußte auf diesen Standpunkt im Vorwort seiner Schrift »De doctrina christiana« eingehen. Er wies darauf hin, daß die Bibel nicht nur von menschlichen Autoren geschrieben wurde, sondern zu ihrer Interpretation auch geschulter menschlicher Interpreten bedarf. In einem Wort: Die Bibel hat fortwährend in der Kirche und in der Welt ein öffentliches Zeugnis abzulegen, das nicht den willkürlichen Ausformungen der individuellen Frömmigkeit überlassen werden darf.
II. Legitime Argumente gegen die historisch-kritische Methode
Wenn man nun annimmt, die Bibelkritik habe einen rechtmäßigen Platz in der Kirche, und traditionalistische Einwände gegen dieselbe als abwegig verwirft, wo liegen dann legitime Argumente zur Hinterfragung ihrer Angemessenheit, die einer Diskussion wert sind?
1. Philosophische Argumente
Beginnend in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, entwickelte sich eine Vielfalt neuer philosophischer Modelle, die ihre Aufmerksamkeit auf das Problem von Bedeutung und Sprache (meaning and language) lenkten. Man denke an Wittgenstein, Heidegger, Gadamer und Ricoeur, um nur einige zu nennen. Während das 19. Jahrhundert mit den Problemen der Geschichte befaßt war, wandte das 20. Jahrhundert seine Aufmerksamkeit verstärkt der Sprache zu. Zunehmend entstand an gewissen Punkten ein breiter philosophischer Konsens, der den traditionellen kritischen Annahmen zuwiderläuft. So wird beispielsweise die Bedeutung nicht mehr als in einem Text »begraben« betrachtet, die die biblische Kritik dann mittels kritischer Werkzeuge, weithin in Analogie zu archäologischen Grabungen, wieder »ausgräbt«. Vielmehr bedeutet jede Interpretation eine Tätigkeit, die auf ein bestimmtes Ziel zwischen einem Leser und einem Text ausgerichtet ist, die beide in bemerkenswerter Bewegung sind. Es gibt verschiedene Regeln – Wittgenstein sprach von »Spielen« -, die ein Leser, abhängig von den verschiedenen Situationen, auf die der Text bezogen wird, aufgreifen kann. So funktioniert ein biblischer Text in liturgischer Verwendung anders als in privater Lektüre. Alles in allem zögert man also aus wichtigen philosophischen Gründen, eine bestimmte Methode generell als die richtige zu bezeichnen oder es zum Verstehen für unabdingbar zu halten, daß jeder biblische Text demselben historisch-kritischen Raster unterworfen wird. [244]
2. Literarische Argumente
Die traditionelle kritische Methodenlehre tendierte dazu, die Bedeutung des historischen Ursprungs eines Textes überzubetonen. Seit der bahnbrechenden Untersuchung von F. de Saussure erschien es den meisten modernen Literarkritikern überzeugend, daß die diachrone Dimension eines Textes sorgfältig von der synchronen zu unterscheiden sei. Das historische Wachsen eines biblischen Textes zu verfolgen führt noch nicht zur Erkenntnis seiner Bedeutung, und ebensowenig kann die Intention des Autors weiterhin eine zuverlässige Leitlinie sein. Vielmehr entstanden ganz andere Modelle zum Verständnis der Funktion eines Textes auf seinen synchronen Ebenen, die die Rolle von Kategorien wie »Intertextualität«, »Leserreaktion« und »Polyvalenz« betonen[1]. Ebenso komplex ist der Aspekt der Referenz, und von dieser Warte wurde ein größerer Angriff geführt gegen das Verständnis von Bedeutung (meaning) nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit[2]. Zumindest haben die verschiedenen neuen Literaturtheorien den Interpreten gegen die vereinfachende Annahme wachsam werden lassen, derzufolge die Bedeutung (meaning) eines Textes weithin mit dessen historischen Korrelationen gleichgesetzt wurde, eine Position, die bei vielen kritischen Bibelkommentatoren noch immer weit verbreitet ist.
3. Sozialwissenschaftliche Argumente
Mehrere neue Zugänge zur Interpretation von Texten kamen durch Anregungen auf, die von neuen Forschungen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften ausgingen, zum Beispiel der Soziologie, der Kulturanthropologie und der Vergleichenden Religionswissenschaft. Das neue Interesse galt Gruppenkonventionen, die die Grundlagen der Kultur der betreffenden Gruppe und insbesondere das Phänomen der Religion erschließen[3]. Das traditionelle Modell, Religion als Ausdruck ursprünglicher Gefühle zu sehen, die sich langsam zu dogmatischen Lehren entwickelten, wurde weithin durch einen Zugang ersetzt, der die Perspektive umkehrte und Religion analog zur Sprache als vorgegeben ansah. Ihre entscheidende Bedeutung läge dann nicht mehr in einem vermeintlich ursprünglichen Zustand, sondern im kreativen Gebrauch eines Systems von Symbolen, durch das die Welt geordnet und interpretiert wird. Der Zugang moderner Strukturalisten, der eher zur Wiederentdeckung der »Tiefenstruktur« eines Textes führte als zur Eingrenzung des Sinnes auf eine wörtliche Bedeutung, ist nur ein Ergebnis dieses neueren Modells der Konstituierung kultureller Wirklichkeit.
Zusammenfassend läßt sich daher sagen: Aus einer Vielfalt verschiedener Zugänge haben sich bedeutende neue Erkenntnisse zur Textinterpretation ergeben, die die [245] Angemessenheit des traditionellen historisch-kritischen Zuganges in Frage stellen. Zugegebenermaßen haben viele der neueren Zugänge noch keine nennenswerte biblische Auslegung hervorgebracht. Dennoch wird der Ertrag der neueren Modelle im gesamten Arbeitsgebiet zunehmend spürbar.
III. Theologische Argumente für ein neues exegetisches Modell
Bei aller Anerkennung der Beiträge, die die genannten anderen Disziplinen zur Sache beisteuern können, liegt das Hauptanliegen dieses Beitrages darin, darauf aufmerksam zu machen, daß es auch bedeutende theologische Gründe gibt, die den klassischen historisch-kritischen Zugang als unangemessen für die Interpretation der Bibel im Kontext der christlichen Kirche erscheinen lassen. Jene Kritiker, die diese legitimen Anliegen abweisen möchten, weil sie angeblich einer Sehnsucht nach dem vorkritischen Zeitalter entstammen, schließen durch ein fundamentales Mißverständnis die Möglichkeit eines wichtigen Dialoges aus.
Die Bibel ist ihrer Natur nach eine Sammlung religiöser Texte, die in einer Glaubensgemeinschaft empfangen, bewahrt und überliefert wurden. Ihr Material unterscheidet sich seiner Natur nach grundlegend von Scherben, die Jahrhunderte im Sand lagen; ihre Texte spiegeln vielmehr einen durchgehenden jahrhundertelangen religiösen Gebrauch sowohl in ihrem mündlichen als auch in ihrem schriftlichen Stadium wider. Schon sehr früh wurde diesem Material eine autoritative Rolle zugebilligt, und es diente dazu, die Existenz derer, die seine Autorität anerkannten, zu regeln.
Obwohl viel von dem Stoff der Bibel aus spezifischen historischen Kontexten erwuchs und obwohl er an spezielle Zuhörerschaften gerichtet war und sich auf konkrete Probleme bezog, erhielten die jeweiligen Traditionen in kürzester Zeit eine schriftliche Form und wurden für künftige Generationen erhalten. Das Material der Bibel erweist sich sowohl auf den mündlichen als auch auf den schriftlichen Ebenen als vielschichtig, denn es wurde im Lichte sich ändernder historischer Situationen, in denen es verwendet wurde, ständig überarbeitet. Die Bibel nahm an jener dialektischen Bewegung teil, die für einen Großteil religiöser Literatur charakteristisch ist, nämlich von Tradenten geformt zu werden, deren eigenes Leben umgekehrt auch durch diese Literatur geprägt wurde.
Anteil am Wachstum und an der Entwicklung der Bibel zu nehmen war ein hermeneutischer Prozeß. Die biblische Literatur wurde nicht nur im Rahmen der Gesetzmäßigkeiten von Volkstraditionen oder altorientalischen Schreibtraditionen geformt und re-interpretiert. Vielmehr gibt es zahllose Anzeichen in dieser Literatur, die belegen, daß ihre Tradenten auszuwählen, neu zu ordnen und das Material so zu interpretieren versuchten, daß es auch künftige Generationen der Gemeinde autoritativ ansprechen konnte, die selbst nicht an jenen ursprünglichen Ereignissen teilgenommen hatten, aus denen der Glaube entstanden war (Exodus, Exil, Auferstehung, Pfingsten). Das Material der Bibel bezeugt in beiden Testamenten eine bewußte Auswahl und [246] theologische Interpretation, die in Jahrhunderten des Ringens und in zahllosen Interpretations-Entscheidungen, vor allem in Zeiten der Auseinandersetzung mit religiösen Gegnern (Kanaanäern, judaisierenden Gruppen, Gnostikern), geformt worden war.
Dennoch ist es gleichermaßen bedeutsam festzustellen, daß der Prozeß des Wachsens und der Veränderungen nicht unbegrenzt weiterging, sondern daß beide Schrift-Sammlungen innerhalb des Judentums wie auch des Christentums mit der Zeit durch ihre Kanonisierung eine feste Form annahmen. Der Akt der Kanonisierung bedeutet keineswegs, daß das religiöse Leben einer Gemeinschaft nachließ oder verkümmerte, sondern daß die Literatur eine feste Form erreichte, auf die sich fortan der Glaube gründete. Offensichtlich beeinflußte der Prozeß der Textwerdung der Tradition die Art und Weise, in der die Kirche ihre Botschaft in Liturgie, Verkündigung und Lehre verwirklichte.
Ich benutze den Terminus »kanonisch« in einem weiteren Sinne als üblich, um bestimmte Elemente innerhalb dieses langen hermeneutischen Prozesses zu beschreiben, der schließlich zur Kanonisierung führte[4]. Kanonisierung bedeutete nicht die Anwendung fremder kirchlicher Kategorien auf die Literatur, sondern sie war das Endstadium eines langen Prozesses der Interpretation des Materials zu theologischen Zwecken. In diesem Sinne lag das Kanon-Bewußtsein tief in dieser Literatur selber begründet. Eine andere bedeutende Eigenschaft dieses kanonischen Prozesses war die Art und Weise, in der er seine Wirkungen in der Gestaltung der Literatur hinterließ. Der Text wurde kanonisiert, nicht ein historischer Prozeß. In der Tat ist es wesentlich für beide Testamente, daß die Herausgeber ihre eigenen Spuren weithin verwischten und ihre Mühen darauf konzentrierten, einen autoritativen Text zu gestalten.
Meine These, daß die »Endform eines Textes« eine besondere theologische Bedeutung hat, leitet sich direkt von diesem Verständnis des Kanons her. Während einer langen Zeit des Wachsens hatten die Tradenten der hebräischen Tradition der Literatur eine bestimmte theologische Interpretation gegeben. Diese Formung führte nicht dazu, daß die biblische Literatur in eine vereinheitlichte dogmatische Abhandlung verwandelt wurde, sondern sie nahm eine Form an, die eher einer regula fidei entsprach[5]. Die große Vielfalt wurde weitgehend bewahrt, aber äußere Grenzen wurden gesetzt, die nur Häretiker überschritten. Zum Beispiel blieb kanaanäisches mythisches Material im Buch Genesis erhalten, aber seine polytheistischen Elemente wurden beschnitten und auf metaphorische Sprechweise reduziert. Hellenistische Ausdrucksweise, die der Philos ähnlich war, wurde im Neuen Testament in der Form, in der der Hebräer-Brief sein Material darbot, akzeptiert, im Barnabas-Brief aber wegen dessen Ablehnung des Alten Testaments zurückgewiesen. Alles in allem diente eine regula fidei also als negative [247] Norm, die die äußeren Grenzen des Glaubens umriß, während das Problem, wie die Vielfalt der Zeugnisse innerhalb des kanonischen Kreises zu verstehen sei, der exegetischen Arbeit überlassen blieb.
In diesem Beitrag wird der Ausdruck »Endform des Textes« als kanonischer Terminus gebraucht, und er ist nicht streng literarisch zu verstehen. Diese Unterscheidung ist wichtig und wird von Kritikern gerne übersehen. Der Ausdruck soll nicht die literarische Endgestalt des Textes zu dem Zeitpunkt bezeichnen, an dem er die Hand des letzten Redaktors oder Abschreibers verließ, denn offensichtlich gab es ein gewisses Maß von Textveränderungen noch bis zur Einführung des Buchdrucks. Hingegen bezeichnet der Ausdruck als kanonischer Terminus jenen entscheidenden Abschnitt im Prozeß des Wachsens, in dem der Text von einer Gelegenheitsschrift zu einem kanonischen Text wurde. Er bezeichnet jenen Punkt im Formungsprozeß, an dem ein Text seine hermeneutisch entscheidende Interpretation erhielt, aufgrund deren er für die künftigen Generationen als Autorität fungierte.
Zwei Beispiele mögen dazu dienen, dies zu verdeutlichen. Man nimmt allgemein an, daß das Buch Deuteronomium im Kontext der Josianischen Reformen (2 Kön 22-23) aufkam und trotz älteren Gesetzesmaterials deutlich den Stempel des 7. Jahrhunderts trägt. Dennoch wurde dem Buch Deuteronomium innerhalb des Kanons eine andere Rolle zugewiesen, die nicht seinem Ursprung in der späten Königszeit entspricht. Seine neue Rolle am Ende des Pentateuchs liefert den hermeneutischen Schlüssel zur Interpretation des Gesetzes (tora). Indem es die Form einer letzten Verfügung und eines Testamentes benutzt, zeichnet das Deuteronomium den Mose, wie er die neue Generation darin unterrichtet, auf welche Weise das Gesetz zu verstehen sei. Das heißt: Die kanonische Funktion, das Gesetz an jene, die keinen unmittelbaren Zugang zum Sinai mehr haben, zu übermitteln, wurde dem Deuteronomium dadurch zugewiesen, daß sein ursprünglicher historischer Kontext zugunsten einer kanonischen Rolle innerhalb des literarischen Kontextes des Pentateuchs ersetzt wurde. Die neue Funktionszuweisung an das Buch veränderte seine ursprüngliche Rolle und brachte diese hermeneutische Veränderung durch seine neue kanonische Gestalt zum Ausdruck.
Ein anderes Beispiel für den Terminus »Endform des Textes« kommt aus dem Neuen Testament. Es wird allgemein angenommen, daß das Evangelium nach Lukas und die Apostelgeschichte einst eine literarische Einheit bildeten und von einem einzigen Autor stammen (vgl. Apg 1,1). Dennoch wurden die Bücher im Prozeß der Kanonisierung getrennt. Dem Lukas-Evangelium wurde eine Rolle innerhalb der vierfachen Evangelien-Sammlung zugewiesen. Die Apostelgeschichte wurde als interpretative Leitlinie für die sich anschließenden Briefe hinter die Evangelien gestellt. Obwohl die genaue Reihenfolge der neutestamentlichen Bücher in den frühen Listen stark schwankt, erhielt die Apostelgeschichte damit die neue hermeneutische Rolle, einen Kontext für die paulinischen Briefe herzustellen, die ursprünglich völlig unabhängig von der Apostelgeschichte waren. Von der »Endform« der Apostelgeschichte zu sprechen heißt, auf diese grundlegende hermeneutische Veränderung hinzuweisen, die für die Form des gesamten Neuen Testamentes normativ wurde. Der Terminus bezieht sich nicht einfach auf die Stellung, die die Apostelgeschichte von Verlegern des 19. Jahrhunderts erhielt, sondern ist mit einer weit grundlegenderen hermeneutischen Entscheidung innerhalb des kanonischen Prozesses verbunden.
Die theologische Bedeutung des Versuches, die kanonische Gestalt der Bibel ernst zu nehmen, liegt in der besonderen Form, durch die diese bezeugt wird. Die Wahrheit des biblischen Zeugnisses über die göttliche Offenbarung wurde durch das Medium seiner [248] Tradenten, Autoren und Redaktoren überliefert. In der Sprache des Neuen Testaments kennen wir Jesus Christus nur im Spiegel seiner Jünger. Diese biblische Bezeugung durch den kanonischen Prozeß hat ihr Material auf ein theologisches Ziel hin geformt. Indem der moderne Interpret den kanonischen Text unter dem Aspekt seiner Endform betrachtet, ordnet er sich selbst in diese Auslegung der Tradition ein, die durch die christliche Kirche als autoritativ angenommen wurde. Ohne Zweifel gibt es andere, »neutrale« Positionen, von denen aus man die biblische Literatur lesen kann, aber christliche Theologie wird erst durch ihr Verhältnis zur Bezeugung Jesu Christi durch die Propheten und Apostel konstituiert. Sich selbst von Anfang an in diesen Traditionskreis einzureihen bedeutet jedoch nicht, daß eine solche Exegese prinzipiell unkritisch ist[6]. Ganz und gar nicht! Denn die theologische Aufgabe besteht weiterhin darin, die biblischen Zeugen kritisch nach ihrem Verhältnis zu ihrer Hauptsache, die Jesus Christus ist, zu befragen. Gerade weil das christliche Konzept des Kanons sich aus der Christologie herleitet, ist ein christliches Verständnis von Tradition weit von einem jüdischen entfernt. In der Tat wendet sich der Standpunkt, den ich vertrete, weniger dagegen, Exegese eher von einem »Kanon im Kanon« aus zu betreiben und nicht jedesmal erneut von der gesamten kanonischen Sammlung aus zu beginnen. Dennoch liegt das Hauptproblem nicht darin, kritisch oder nicht kritisch zu sein, sondern darin, wie kritisches Reflektieren theologisch vollzogen wird.
Viele historisch-kritisch arbeitende Exegeten, vor allem jene, die die form- und traditionsgeschichtliche Kritik gewohnt sind, finden eine Position, die irgendeinem Stadium des Textes eine bevorzugte Bedeutung zubilligt, inakzeptabel. Bedeutet das nicht, die letzte redaktionelle Arbeit zu kanonisieren? Ich habe aufzuzeigen versucht, warum dieses häufig geäußerte Gegenargument ein Mißverständnis des kanonischen Zuganges bedeutet, denn eine bevorzugte Bedeutung wird nicht einem bestimmten historischen Stadium der Bibelentwicklung, sondern einem bestimmten Auslegungsgeschehen zugestanden, das sich über Generationen erstreckte und sich in einer bestimmten Gestalt des Textes niederschlug. Wenn man das Wachstum des Textes kritisch untersucht und die Tiefendimension seiner Tradition analysiert, ergeben sich oft – das sei zugegeben – bedeutende exegetische Informationen, die dazu beitragen, die Endform interpretieren zu können. Das Unterscheidende gegenüber der Formkritik aber liegt in der Entscheidung, welches Gewicht man den verschiedenen theologischen Auslegungen der biblischen Tradenten beimißt. Insbesondere seit die moderne Kritik das Instrumentarium hat, frühere historische Optionen zu rekonstruieren, die später entweder zurückgedrängt oder durch den Kanonisierungsprozeß gänzlich eliminiert wurden, erhebt sich die Frage nach dem theologischen Wert dieser Rekonstruktionen für die christliche Theologie. Ich möchte behaupten, daß solche historischen Rekonstruktionen für die Religionsgeschichte wesentlich sind, die theologische Fragestellung aber [249] scharf von der religionsgeschichtlichen zu unterscheiden ist, und zwar aufgrund ihrer vorgängigen Bindung an eine bestimmte Glaubenstradition, die in der Heiligen Schrift der Kirche repräsentiert wird. Was ist die Schrift anderes als dieses besondere Zeugnis – nennen wir es besondere Auslegung – autoritativer Tradenten, vor allem der Propheten und Apostel?
Mit einem Wort: Durch die kanonische Form des Textes in seiner Endform wird die normative theologische Bezeugung der Schrift für die christliche Kirche weitergegeben. Das einzigartige Zeugnis der biblischen Autoren wird jedoch ernsthaft beeinträchtigt, wenn ihr je eigener Standpunkt um einer rekonstruierten historischen Einlinigkeit willen zurechtgestutzt oder seine je individuelle Sprache zugunsten einer Einordnung in übergreifende form- und traditionsgeschichtliche Raster angetastet wird. Anstatt das Problem endlos weiter theoretisch zu erörtern, ist es nun an der Zeit, den vorgeschlagenen Zugang an einem ausgewählten biblischen Text vorzuführen.
IV. Am 9,7-15 im Kontext des alttestamentlichen Kanons
Forscher des Alten Testaments haben sich lange gefragt, wie die abschließenden Sprüche des Amos-Buches zu interpretieren seien. Die Botschaft des Propheten besteht in einer Reihe unerbittlicher Gerichtsworte gegen Israel, in denen jede Hoffnung auf Heil ausgeschlossen wird. Selbst die traditionelle Hoffnung auf einen gläubigen Rest (3,12) oder auf eine göttliche Rechtfertigung (5,18ff) wird unbarmherzig zerstört. Das prophetische Gericht ist endgültig und umfassend: »Das Ende ist über mein Volk Israel gekommen« (8,2). Dennoch wendet sich die Botschaft des Amos völlig unerwartet in Kap. 9. Hier erhebt sich nicht nur eine Hoffnung auf eine nur teilweise Vernichtung (9,8b), sondern es wird sogar eine Rückkehr materiellen Wohlstandes verheißen, die in der außergewöhnlichen mythisch-poetischen Redeweise von der Rückkehr des Paradieses ausgemalt wird (9,13ff).
Die moderne historisch-kritische Forschung[7] hat sich in ihrem Bemühen, das Problem zu lösen, in mehrere verschiedene Richtungen bewegt:
a) Einige Kommentatoren argumentieren dahingehend, daß die Heilsansagen spätere, nicht-ursprüngliche Ergänzungen seien, die die ursprüngliche Botschaft des Amos abschwächen und an die historische Wirklichkeit, nämlich daß Juda die Zerstörung des Nordreichs überstand, anpassen sollen. Historische und philologische Beweise wurden angeführt, um das Argument einer nachexilischen Datierung der Ergänzungen zu stützen. [250]
b) Andere Kommentatoren versuchen, die Ursprünglichkeit der abschließenden Sprüche mit dem Argument zu verteidigen, daß diese lediglich an eine falsche Stelle gerückt oder daß sie zu einem früheren Zeitpunkt der Tätigkeit des Amos an eine andere Zuhörerschaft gerichtet worden seien.
c) Schließlich sind einige Kommentatoren in psychologische Argumentationen zurückgefallen: Als der Prophet die Grausamkeit der Feinde Israels sah, siegten seine Gefühle über ihn, und er bot seinem Volk zum Trost ein Wort der Rettung am Ende an.
Wenn ich nun eine andere Lösung versuche, so will ich diese Interpretationsbemühungen nicht herabsetzen. Historisch-kritische Forschung hat einen großen Beitrag zur Herausarbeitung des Problems geleistet, der nicht leichthin abgetan werden kann. Auch haben sorgfältige literarische und philologische Untersuchungen die Komplexität der vorliegenden Komposition gezeigt. Dennoch halte ich die genannten Lösungen für unangemessen und eine Beachtung der »kanonischen Gestalt« des Kapitels für notwendig.
Eine neue Sprucheinheit, die klar vom vorangehenden doxologischen Fragment (9,5-6) abgesetzt ist, beginnt in 9,7. Der Umfang der Sprucheinheit ist nicht ganz klar, aber die meisten Kommentatoren zählen auch V. 9-10 noch zu dieser Sprucheinheit. Ein prophetischer Wortstreit gegen unberechtigte Ansprüche auf eine Bevorzugung aufgrund der Erwählung Israels wird sowohl am Anfang (V. 7) als auch am Ende der Einheit (V. 10) thematisiert. Das Hauptproblem aber liegt in V. 8. Es werden zwei Äußerungen gemacht, die einander klar zu widersprechen scheinen:
8a Die Augen des Herrn Jahwe sind auf das sündige Königreich gerichtet, und ich will es vom Erdboden vertilgen.
b Doch ich werde das Haus Jakob nicht völlig vertilgen.
Die Einschränkung, die in V. 8b geboten wird, ist syntaktisch so hart, daß sie die Annahme einer späteren redaktionellen Hand mit hoher Wahrscheinlichkeit nahelegt. Die Einschränkung liegt jedoch weder darin, daß ein Gegensatz zwischen dem Nord- und dem Südreich hergestellt wird, um damit Judas Existenz zu rechtfertigen. Der Terminus »Haus Jakobs« bezieht sich innerhalb des Amos-Buches niemals auf das Südreich (vgl. 3,13; 7,2; 8,7). Noch werden eine politische (sündiges Königreich) und eine religiöse Größe (Gottes wahres Volk) gegenübergestellt, sondern die Sinnspitze der gegenwärtigen Form des Textes liegt darin, ein befremdendes Paradoxon anzuzeigen durch den Widerspruch: »Ich werde Israel zerstören … Doch ich will Israel nicht gänzlich vernichten.«
Darüber hinaus setzt sich die Schwierigkeit auch im Rest der Sprucheinheit fort. Der Prophet benutzt das Bild eines großen Siebes, um das Gericht als eine Trennung der Bösen von den Guten darzustellen. Nirgendwo sonst im Amos-Buch wird eine derartige ethische Unterscheidung innerhalb des Volkes durchgeführt. Obwohl in den Worten »ich schüttle das Haus Israel unter alle Völker« eine Unterscheidung angedeutet wird, geht es hier nicht darum, eine Hoffnung auf einen heiligen Rest anzusagen, sondern [251] darum, die Totalität des Gerichtes an diesem verdorbenen Volk zu betonen. »Kein Rest soll entkommen, alle Sünder sollen sterben.« Wiederum bleibt der Leser in ziemlicher Verwirrung zurück. Ein Schimmer von Hoffnung bleibt, aber es ist keine klare Kontinuität erkennbar, durch die ein Rest dem Gericht entkommen könnte. Amos‘ Ansage eines unbedingten Gerichtes wurde verstärkt und nicht zurückgezogen, obwohl der Text in seiner »Endform« von einer geheimnisvollen Einschränkung spricht.
Nur wenn wir die abschließende Sprucheinheit in Kap. 9 lesen, wird die Art der göttlichen Einschränkung klar. Die Rede (V. 11-15) führt direkt in den Bereich der Eschatologie. Die Botschaft dreht sich um die Möglichkeit einer neuen Existenz, nachdem das Ende gekommen sein wird. Die Zusage bezieht sich auf die Aufrichtung der zerfallenen »Hütte Davids«, d. h. des Großreiches Davids. Kein menschlicher Herrscher kann diese Großtat herbeiführen. Die Initiative liegt allein bei Gott. Diese Hoffnung ist geheimnisvoll und mit logischen Kategorien nicht faßbar. Die Kontinuität, die das neue Heil mit dem alten verbindet, wird allein von der Seite Gottes her etabliert und in der mythischen Redeweise von der Wiederkehr des Paradieses veranschaulicht.
Wie lauten nun die hermeneutischen Folgerungen, die aus dieser Auslegung von Am 9 gezogen werden müssen? Der Redaktor von Kap. 9 hat die ursprüngliche Botschaft des Amos vom umfassenden Gericht am sündigen Israel nicht dadurch entschärft, daß er einem frommen Rest zu entkommen erlaubte. Die Vernichtung, die Amos angekündigt hatte, bleibt völlig aufrechterhalten (V. 9b. 11). Der spätere Eierausgeber hat vielmehr eine entscheidende kanonische Re-Interpretation des Buches dadurch erzielt, daß er Amos’ Worte in einen breiteren eschatologischen Rahmen einfügte, der die ursprüngliche Perspektive des Propheten selber überschreitet. Nur aus der Perspektive Gottes gibt es Hoffnung für Israel über das von Amos angekündigte Gericht (9,5-6) hinaus. Amos’ Prophezeiung des Untergangs ist zwar historisch bestätigt, dann aber in einen neuen kanonischen Kontext hineingestellt worden, um den nachfolgenden Generationen zu dienen, für die Gott Hoffnung und endgültige Rettung will. Die Wahrheit der Gottesvision des Amos erforderte eine Bezeugung des letzten eschatologischen Erlösungs-Beschlusses, und diesen stellt die kanonische Interpretation bereit. So wird, indem man die eigentümliche Formung von Kap. 9 ernst nimmt und dem Versuch, den Text entsprechend historisch-kritischen Rekonstruktionen neu zu ordnen, widersteht, dem einzigartigen theologischen Zeugnis des Textes seine volle Freiheit gelassen.
Übersetzung: Klaus Bieberstein
Theologische Quartalschrift (ThQ) 167, Heft 4 (1987), S. 242-251.
[1] Vgl. den Überblick über diese neueren Entwicklungen in der Literaturtheorie in Büchern wie F. Lentricchia, After the New Criticism. Chicago 1980.
[2] H. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative. A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics. New Haven 1974.
[3] C. Geertz, Interpretation of Cultures. New York 1973.
[4] Vgl. eine detaillierte Verteidigung dieses Sprachgebrauches in meinem Buch: The New Testament as Canon. An Introduction. London-Philadelphia 1984, 24-33.
[5] Die historischen Wurzeln dieses Terminus bei den Kirchenvätern werden am besten dargestellt von B. Hägglund, Die Bedeutung der »regula fidei« als Grundlage theologischer Aussagen: StTh 11 (1957) 1-44. Sein Beitrag löst die früheren Studien von J. Kunze und A. von Harnack ab.
[6] Meiner Meinung nach verfehlt M. Oemings jüngste Analyse meines kanonischen Zuganges (M. Oeming, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad. Stuttgart 1985,186-209) völlig den Sinn meiner Darlegungen.
[7] Vgl. die einschlägigen Zusammenfassungen in H. W. Wolff, Dodekapropheton 2: Joel und Amos (BK. AT 11). Neukirchen-Vlyn 1969, 395ff; W. Rudolph, Joel – Amos – Obadja – Jona (KAT 13/2). Gütersloh 1971, 271ff; I. Willi-Plein, Vorformen der Schriftexegese innerhalb des Alten Testaments. Untersuchungen zum literarischen Werden der auf Amos, Hosea und Micha zurückgehenden Bücher im hebräischen Zwölfprophetenbuch (BZAW 123). Berlin 1971, 55ff.