Wilhelm Vischers Weihnachtsbrief an die Juden in der Schweiz von 1942: „Wir denken mit Schamröte daran, was seit je in «christlichen» Völkern an Israel verbrochen wurde. Seien Sie versichert, liebe jüdische Brüder und Schwe­stern, wir beten für Sie, daß der treue Gott Sie heute durch alle Ihre Drangsal hindurchtrage und seine herrlichen Verheißungen an Ihnen wahr mache.“

Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenvernichtung entwarf Wilhelm Vischer 1942 einen Weihnachtsbrief an die Juden in der Schweiz, der christliche Solidarität zum Ausdruck bringen suchte. Unterschrieben wurde diese offene Brief unter anderem von Karl Barth, Emil Brunner und Eduard Thurneysen:

Weihnachtsbrief an unsere Juden

Von Wilhelm Vischer

Weihnacht 1942

Liebe Juden in der Schweiz!

Wir feiern Weihnacht, den Geburtstag des Heilandes, des Königs aus dem Hause Davids. Wir können nicht mehr anders, wir müssen Ihnen endlich einmal sagen, was uns Ihretwegen schon lange bewegt. Die namenlose Not Ihrer Brüder und Schwestern lastet auf unserer Seele. Es ist Ihnen vielleicht eine Stärkung, wenn Sie hören, daß evangelische Christen an Sie denken, zu Ihnen stehen und für Sie beten.

Die Drangsale, die unzählige Ihrer Brüder zu erleiden haben, greifen uns nicht nur aus Grün­den der Menschlichkeit ans Herz. Wir sind uns darüber völlig im klaren, daß die Gewalten, die heute zum vernichtenden Schlage gegen das Judentum ausholen, es mit nicht geringerem Grimme auch auf das Christentum abgesehen haben. Mit der Verhöhnung der alttestamentli­chen Botschaft wird die Axt auch an die Wurzel der neutestamentlichen Gemeinde gelegt; mit der Zerstörung der Synagoge soll eine erste Bresche geschlagen sein, um dann auch zur Ver­gewaltigung der christlichen Kirche die Bahn frei zu bekommen. Wehe der Christenheit, wenn sie sich vom heidnischen Denken ins Schlepptau des Antisemitismus einfangen ließe! Wehe der Judenschaft, wenn sie sich jetzt im Widerstand gegen Christus versteifen würde! Beide rebellierten dann wider den Heilsplan der Erlösung, der beide umfaßt. Sie wissen, in welcher Weise wir bisher zu Ihnen gestanden sind und wie wir versuchen, die Not Ihrer Brü­der, die in Todesangst über unsere Grenzen geflüchtet sind, zu lindern. Wir bitten auch um die Kraft, im Gehorsam gegen Gottes Wort treu für Sie einzustehen, wenn Sie je einmal in unse­rem Vaterland bedroht werden sollten.

Es betrübt und erschreckt uns, daß das Judenvolk Jesus nicht als den im Alten Testament an­gekündigten Messias erkennt und als seinen Erlöser annimmt. Aber es ist zuerst an uns, Buße zu tun für alles, was von unserer Seite an den Juden gesündigt wurde. Die christlichen Völker haben durch die Jahrhunderte hindurch das alte Bundesvolk Israel nicht in der Geduld Christi ertragen, und darum haben sie es auch in erschütterndem Maße daran fehlen lassen, ihm durch Taten der Gerechtigkeit und Menschlichkeit wirklich glaubhaft zu bezeugen, daß der von den Juden verworfene Jesus aus Nazareth der wahrhaftige Sohn Gottes ist, der große Erbarmer und einzige Seligmacher auch für sein eigenes Volk. So ist unsere Schuld noch größer als die Schuld der Juden. Denn uns war die Binde von den Augen genommen: «Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit» — und wir haben uns doch stets wieder als Blinde und an Liebe Arme erwiesen. Das ist uns von Herzen leid. Wir denken mit Schamröte daran, was seit je in «christlichen» Völkern an Israel verbrochen wurde. Seien Sie versichert, liebe jüdische Brüder und Schwe­stern, wir beten für Sie, daß der treue Gott Sie heute durch alle Ihre Drangsal hindurchtrage und seine herrlichen Verheißungen an Ihnen wahr mache. Wir grüßen Sie im Glauben an das Wort, das in Ihrer und in unserer Bibel steht: «Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Er wird das Recht wahrhaftig halten lehren.»

Unterschrieben unter anderem von Karl Barth, Emil Brunner, Walter Lüthi, Alfred de Quer­vain und Eduard Thurneysen.

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