Da ist die eigene Tochter Elisabeth von Schergen der argentinischen Militärjunta verschleppt, gefoltert und schließlich getötet worden; und der emeritierte Tübinger Theologieprofessor Ernst Käsemann (1906-1998) ringt in seinem Beitrag für die Frankfurter Rundschau vom 8. August 1977 um Aufklärung bzw. um Gerechtigkeit, nicht nur für seine Tochter:
Von Ernst Käsemann
Höchste Aufmerksamkeit gegenüber den politischen Verhältnissen in Argentinien ist gerade in Deutschland geboten. Nach der Erklärung von Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher sind seit der Machtübernahme der Militärjunta am 24. 3. 1976 insgesamt 35 deutsche Staatsangehörige inhaftiert worden oder verschwunden. In 16 Fällen kam es zu einer Freilassung. Die Bundesregierung stellt fest, über den Mangel an Kooperation der argentinischen Behörden ‚beunruhigt‘ zu sein, hat wiederholt und mit Nachdruck auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen hingewiesen und insbesondere eine lückenlose Aufklärung des besonders gravierenden Falles meiner Tochter Elisabeth verlangt Diese offizielle Stellungnahme vor dem Deutschen Bundestag am 17. 6. 1977 ist ungewöhnlich. Wenn sie gleichwohl sachlich ohne Ergebnis blieb, zeigt das eindeutig, daß bestimmte politische Verhältnisse und Vergehen behördlich kaum noch ansprechbar sind und auf andere Weise gebrandmarkt werden müssen. Ein persönliches Votum mag dazu beitragen.
1. Fragwürdigkeiten: Am 6. 6. 1977 bestätigte die argentinische Regierung der Deutschen Botschaft in Buenos Aires den Tod meiner Tochter, die angeblich in einem Gefecht mit „Monteneros“ (eine linke Guerilla-Organisation, Red.) am 24. 5. in Monte Grande (Provinz Buenos Aires) erschossen worden sei. Bis heute ist ungeklärt. weshalb diese Mitteilung um zwei Wochen verspätet erfolgte. Die amtliche Sterbeurkunde von Monte Grande wurde sogar erst am 8. 6. ausgestellt, zwei Tage, nachdem ich schon offiziell verständigt worden war. Offensichtlich benötigte man einen sogenannten Leichenpaß für die Überführung der Toten am 10./11. 6., die in der Zwischenzeit auch bereits verscharrt und — etwa um Geschosse aus ihrem Körper zu entfernen? — nicht ganz sachgerecht obduziert worden war. Daß von ihrer gesamten Habe uns nicht die geringste Kleinigkeit überlassen wurde, vervollständigt das Bild dessen, was man in dem heutigen Argentinien Menschlichkeit nennt.
Die Behauptung, meine Tochter sei bei einem Gefecht mit Führern der Untergrundbewegung erschossen worden, ist in vielfacher Hinsicht unsinnig. Aus dem protokollarisch festgehaltenen und Interessierten zugänglichen Zeugenbericht ihrer zeitweise gleichfalls verhafteten Freundin Diana Houstoun ergibt sich unbezweifelbar, daß meine Tochter am 8/9. 3. 1977 in Buenos Aires durch Militärpolizei festgenommen wurde. Aus zuverlässigen Quellen weiß ich außerdem, daß sie, in eine ihr gestellte Falle geraten, tagelang gefoltert wurde und mit größter Wahrscheinlichkeit elf Wochen lang im politischen Gewahrsam der ersten Heeresgruppe, und zwar in der Kaserne Palermo, verblieb. Man scheint sie, weil zunächst nur ideologisch und relativ harmlos belastet (Aussage des Diana Houstoun vernehmenden Offiziers!), mit drei anderen Deutschen für ein Gerichtsverfahren vorgesehen zu haben, wobei sie nach der Verurteilung wohl ausgewiesen worden wäre.
Die erforderliche Überstellung an die Exekutive brachte sie jedoch in die Gewalt von Henkern, die sie kaltblütig ermordeten und zur Tarnung das Greuelmärchen von Monte Grande ersannen. Kennern der Szenerie ist fragwürdig, ob es dort überhaupt ein Gefecht mit 15 Montenero-Führern gegeben hat Eine Schau mit den zusammengetragenen Leichen vereinzelter Ermordeter ist auch anderswo veranstaltet worden. Daß maßgebliche Verschwörer, zudem in solcher Anzahl, sich statt in den Winkeln der Millionenstadt in einem Landstädtchen versammelt und der Beobachtung und Denunziation ausgesetzt hätten, wirkt grotesk. Die Beteiligung meiner Tochter an einem Gefecht ist rundweg zu bestreiten. Die am 12. 6. durch einen Tübinger Gerichtsmediziner vorgenommene zweite Obduktion stellte ungeachtet des bereits eingetretenen Verfalls als Todesursache Einschüsse in den Rücken, darunter wohl zwei flächenhafte Verletzungen (Maschinenpistole!) im Bereich von Genick und Herz, fest.
So werden Exekutionen ausgeführt.
Die Ermordung allein kann Grund dafür sein, daß die argentinische Regierung hartnäckig über die Verhaftung Anfang März schweigt. Anders wäre eine Beteiligung an dem ominösen Gefecht undenkbar. Denn es spottet selbst kühnster Phantasie, anzunehmen. daß eine politische Gefangene, ohne Verfahren freigelassen, sich im Handumdrehen mit Montenero-Führern in Verbindung habe setzen können, dann sich nicht in dem ihr seit acht Jahren vertrauten Buenos Aires verborgen, sondern gleichsam ins freie Feld und nach dem 28 Kilometer entfernten Provinzstädtchen Monte Grande begeben habe, bloß um sich dort erschießen zu lassen. Diktatoren sind im eigenen Lande nicht zur Rechenschaft zu ziehen und rechnen auswärts mit Ignoranz und Dummheit. Würden sie aber für derartige Märchen Glauben erwarten, müßte man sie geistig in der Nähe von Idi Amin ansiedeln. Das Auswärtige Amt in Bonn hat sich jedenfalls nicht mit der propagandistischen Darstellung aus Buenos Aires zufriedengegeben. Es hat nach mehrfachen diplomatischen Vorstößen am 24. 6. den argentinischen Botschafter in der Bundesrepublik energisch aufgefordert, die näheren Umstände der Vorgänge am 24. 5. zu klären.
2. Ein Ausweichmanöver: Die argentinische Regierung hat dieses Ersuchen faktisch erneut umgangen. Sie bleibt mit einer kurzen Wiederholung ihrer früheren Darstellung in dem von ihr abgesteckten Spielgelände. Um gleichsam ihren guten Willen zu beweisen und zu besserem Verständnis beizutragen, befaßt sie sich jedoch zusätzlich, wie ich abschriftlich unter dem Datum des 28. 6. erfahren habe, mit dem Verhalten meiner Tochter in Lateinamerika seit 1968. Über die ersten sieben Jahre wird, wahrscheinlich auf Grund von meiner Tochter erpreßter Aussagen, summarisch berichtet, wobei die Arbeit in den Elendsvierteln hervorgehoben wird. Das Gewicht fällt auf die Tätigkeit im letzten Jahre. Nach der Devise, daß nicht der Mörder, sondern das Opfer schuldig sei. wird hier eine geballte Anklage erhoben: Meine Tochter soll als Glied der trotzkistischen Vierten Internationale aktiv in mehreren Untergrund-Organisationen mitgewirkt haben, in einer sogar leitend, dabei an Raubüberfällen und in zwei Fällen an der Ermordung namentlich genannter Personen beteiligt gewesen sein. Damit treten die Hintergründe des argentinischen Alltags und die zu ihm gehörenden Massaker ins Licht. Die Logik ist klar. War meine Tochter in den Bandenkrieg verstrickt, mußte sie liquidiert werden.
Nicht weniger logisch ist jedoch auch dies: Vermöchte die argentinische Regierung ihre Behauptungen zu belegen, hätte sie in einem Schauprozeß Recht und Notwendigkeit ihrer Handlungsweise nicht nur in einem Einzelfall. sondern generell vor aller Welt demonstrieren können. Was wäre dümmer, als sich diese Chance entgehen zu lassen?
Summa: Wer nicht von vornherein Behörden und Generale kritischer Kontrolle entzieht, dagegen die Gefügigkeit einer zensierten Presse in Argentinien voraussetzt, wer die Umstände eines gewaltsamen Todes fragwürdig, die Informationen darüber lückenhaft, weitgehend verzerrt, unsinnig, erfunden nennen muß, kann und sollte, weil er Klarheit, Fakten, Beweise verlangen muß, nun schreien: Lüge. Mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich tue es jedenfalls und lasse mich nicht mit zudem plumpen Ausweichmanövern davon ablenken.
Mit mir tut man es weltweit. In Deutschland wurde durch die Tübinger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, welches das überhaupt noch Feststellbare zusammentragen soll. In Frankreich haben sich folgende Verbände zusammengeschlossen, um eine Klage gegen Unbekannt wegen Gefangennahme, Folterung und Mord meiner zuletzt bei einer französischen Firma beschäftigten Tochter zu erheben: Mouvement International des Juristes Catholiques mit Sitz in Rom, Fédération Internationale des Droits de 1‘Homme in Paris, Syndicat des Avocate de France in Paris, Syndicat National de la Magistrature, Section d’Amnesty International, Association Internationale des Juristes Démocrate in Brüssel und deren französische Sektion, Cimade in Paris. Federführend ist Madame Avocat à la cour Colette Auger, 14-16, rue des Barres, F-75004 Paris.
Wie weit sich dem andere nationale und internationale Organisationen anschließen werden, ist zur Zeit nicht absehbar, sollte jedoch von jedem, der sich mitbetroffen fühlt, erwogen und angeregt werden.
3. Grundsätzliches: Die argentinische Regierung rechtfertigt sich, indem sie das Opfer ihres eigenen Terrors verdammt. Weil sie das Monopol der Meinungsäußerung im eigenen Lande besitzt, bildet sie sich ein, ungescheut die Wirklichkeit manipulieren zu dürfen. Das beginnt schon damit, daß sie den vorliegenden Fall isoliert behandelt, allenfalls einer auch anderswo gegebenen Serio krimineller Delikte einordnet. Dabei ist sie allein im Jahre 1976 für 1400 registrierte politische Morde mitverantwortlich, zu denen sich in 1977 unzählige andere gesellt haben, von allen denen ganz zu schweigen, welche rechtswidrig gefangen gehalten und gefoltert werden oder spurlos verschwunden sind. Es sei ausgesprochen, daß die zivilisierte Welt aufhört. wo man dazu schweigt, es verharmlost und sich dadurch am herrschenden Schrecken mitschuldig macht. Dann geht es hier um unser aller Verantwortung. Man macht sich selten klar, daß Diplomatie auf normaler, also nicht durch ideologische Gegensätze belasteter Ebene fremde Regierungen nicht offiziell anklagen wird, dem organisierten Verbrechen Vorschub zu leisten oder es sogar anzuordnen. Sie kann es sich kaum leisten, wenn ihre Hauptsorge in unserer Welt und Zeit nicht mehr dem Schutz ihrer Staatsangehörigen, sondern nationalen und kulturellen Repräsentationspflichten. zumal aber jenen kommerziellen Interessen gilt, welche sich nirgendwo einfach mit den Menschenrechten ausgleichen lassen. Wo der Bestand oder die Eroberung politischer Macht von der Erhaltung des Status quo und dem wirtschaftlichen Wachstum. bei uns konkret vom Export abhingt, weil jede Erschütterung des Geschäfts die Gunst der Massen und die Stimmen der Wähler tangiert, sollte man der Außenpolitik nicht verargen, was man der Wohlstandsgesellschaft im ganzen nicht anzukreiden wagt. Humanität wie Demokratie werden hier bürokratisch verwaltet, und ein verkaufter Mercedes wiegt zweifellos mehr als ein Leben.
Wer diese Feststellung zynisch nennt, wird vielleicht zu realistischem Denken zurückfinden, wenn er einmal als Bittsteller unsere auswärtigen Dienste bemühen muß. Auch Diplomaten sind Menschen und herrschenden Trends unterworfen, über welche Idealisten schamhaft schweigen. Die Frage erhebt sich jedoch, ob man ihnen weiterhin die Politik im zwischenstaatlichen Bereich ausschließlich oder vorzugsweise überlassen darf, selbst wenn solche Überlegungen hierzulande der Industrie und vielleicht im Augenblick auch dem Sport höchlichst mißfallen werden. Auf den kleinstmöglichen Nenner gebracht: Der schlechterdings nicht zu bestreitende, latent stets vorhandene und von den Betroffenen häufiger als man ahnt schmerzlich erlittene Konflikt zwischen Humanität und Kommerz auf dem Felde der auswärtigen Politik ist nicht länger mit hohlen Phrasen und nach erfolgten Katastrophen im Einzelfall mit Beileidsbekundungen zuzudecken. Die freie Marktwirtschaft allein spricht noch nicht für praktizierte und bewahrte Demokratie.
Vielleicht kann man jungen Menschen nicht helfen, die sich ungeachtet ernsthafter Warnungen und vielleicht sogar emotional und ideologisch verwirrt in den Dschungel stürzen. Wo jedoch Dschungel herrscht, sollte man es unmißverständlich und laut auch sagen. Die gegenwärtigen Machthaber m Argentinien beanspruchen, so grotesk das dem Zuschauer erscheint, noch immer in Lateinamerika den Primat der Kulturnation und einer ausgeprägt liberalen Tradition. In diesem Zeichen führen sie angeblich den Kampf gegen Kommunismus und Untermenschentum. Aus eigener Vergangenheit heraus wissen wir. wie das einfache Denken, das dem Soldaten beigebracht wird, besonders Generale zu solchen Parolen führt, durch welche der Nationalismus als letzte Bastion des humanen Erbes verherrlicht werden kann. Wir werden das entsetzliche Leiden eines erst aufbrechenden Erdteils nicht verhindern und nur unwesentlich mildern, was immer wir dazu versuchen. Wir dürfen uns aber nicht von denen, welche angeblich Recht und Ordnung wieder dort aufrichten, wo noch nie seit 500 Jahren Recht und Ordnung wirklich vorhanden waren, verdummen lassen: Im Dschungel Argentiniens wuchern auf allen Seiten Blutrausch und Terror. Die Junta verteidigt die handfesten Interessen und Privilegien derer, die hinter ihr stehen und aus deren Reihen sie selbst weitgehend stammt.
Verschwinden etwa in Entre Rios katholische Priester, welche sich für Indios und Kleinbauern einsetzen, so wird damit deutlich, daß nicht die Nation geschützt, sondern der Klassenkampf weiter ausgefochten wird. Die ganze Geschichte Lateinamerikas reißt diesen Horizont auf, der auch davon spricht, mit welcher Grausamkeit in dem Argentinien des letzten Drittels aus dem 19. Jahrhundert die Indios verdrängt und ausgerottet wurden. Unter Berufung auf nationale Kultur und, geradezu lästerlich, auf liberale Tradition schirmt sich der Großbesitz mit Hilfe von Armee und Polizei gegen das Aufbegehren eines Proletariats ab. das sich vom Demagogen Perón zum ersten Male ernst genommen fühlte und seitdem auf dem Wege in die Revolution bleibt.
Mir geht es nicht um Rache für die Ermordung meiner Tochter. Ich will sie keineswegs als Märtyrerin sehen und verteidigen. Ich möchte jedoch, daß ihr Tod Augen für die Realitäten in diesem zauberhaften Lande auftut, das zugleich ein Inferno beherbergt. Ich möchte Henkern und Militärs nicht das letzte Wort lassen.
Frankfurter Rundschau vom 8. August 1977.
Gut,die aktuellen Probleme der Politik aufzugreifen.Vielleicht kann langfristig eine Veränderung erreicht werden,auch durch das Mitleid bei den Greueltaten.Sonst werden immer nur kurze abstrakte Fürbitten in der Kirche gesprochen,