„Und Gott schweigt.“ Hans Ehrenbergs KZ-Aufenthalt in Sachsenhausen 1938/39: „Für die SS ist der jüdische Pfarrer ein sensationeller Anlaß, ihren ‚Witz‘ spielen zu lassen. ‚Was bist du, Pfarrer? Rabbiner, meinst du?’“

„Und Gott schweigt.“ Begegnung und Gespräche mit Hans Ehrenberg im Konzentrationslager Sachsenhausen

Von Hans Reichmann

In seiner 1943 auf Englisch erschienenen Autobiographie hatte Hans Ehrenberg nur wenig Persönliches über seinen Aufenthalt vom 11. November 1939 bis zum 20. März 1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen erzählt. Hans Reichmann (1900-1964), der als Syndikus seit 1927 in der Berliner Hauptgeschäftsstelle des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ tätig gewesen ist, hatte hingegen seine Haftzeit vom 9. November bis 28. Dezember 1938 im Konzentrationslager Sachsenhausen nach seiner Auswanderung nach England 1939 ausführlich beschrieben. 1998 sind diese Aufzeichnungen unter dem Titel „Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937-1939“ veröffentlicht worden. Darin erzählt er auch von seiner Begegnung und den Gesprächen mit dem 55jährigen Hans Ehrenberg:

Wie mögen die Frommen unter uns das Erlebnis dieses Lagers bewältigen? Ich sitze mit dem Pfarrer Ehrenberg und Rechtsanwalt Chone in unserer Ba­racke. „Was hältst du von dem The­ma ‚Und Gott schweigt!‘?“ frage ich den Pro­testanten Hans Ehrenberg. Er ist der Abstam­mung nach Volljude, trat als Stu­dent zum Protestantismus über, war Philosophieprofessor in Heidelberg und ist, vom Gewissen getrieben, Pfarrer geworden. Ehrenbergs Auseinanderset­zung mit seinem Vetter Franz Rosenzweig, dem er die Gründe seiner Taufe ein­drucksvoll darlegt, ist in Rosenzweigs Briefen nachzulesen.

„Wäre das nicht ein guter Buchtitel? Unser Sachsenhausen-Buch müßte so heißen. Ich weiß, Dwinger hat sein Rußland-Buch so genannt. Aber – du wirst mich nicht für frivol halten – in einem viel weiteren Sinn als ihn etwa die Bibelforscher verstehen würden, zwingt sich mir hier jeden Tag die Formel auf: Und Gott schweigt.“

Ehrenberg zögert, dann sagt er leise: „Manchmal schweigt Gott sehr lang.“

„Und wie ordnest du diese Institution hier in dein religiöses System ein? Was sagt es zu dei­nem Schicksal, zu unserem, zu diesem 10. November und über­haupt zu allem, was seit dem Jahre des Unheils geschehen ist?“

„Es ist eine Strafe über das jüdische Volk gekommen und auch über das deut­sche.“

Unser Gespräch geht vom trockenen Wetter als dem sichtbaren Zeichen für­sorglicher Behü­tung – davon sprechen die Starken im Glauben jeden Tag – über [197] Schleiermacher zu den mo­dernen Protestanten, von denen einer hier Zeugnis ablegen muß für die Kraft, die ihm sein Glaube gibt. Ich bin mir nicht klar, wie dieses Lager auf seine Insassen wirkt. Im Angesicht der Peinigung kann man beides hören: Flüche und das Bekenntnis ungebrochenen Vertrauens. Neben mir hat gestern unvermittelt ein Asozialer vor sich hingeknirscht: „Wenn es ei­nen Gott gibt, wie kann er das hier dulden?“

Und heute hat mich ein jüdischer Chemiker in ein Religionsgespräch gezo­gen. Er ist gläubig wie ein Kind, das Lager vermag ihm nichts anzuhaben. Die religiösen Kameraden erleben hier ihre Bewährungsprobe. Ehrenberg wird ohne Anlaß, weil er gerade im ersten Glied steht, ge­packt und „ans Tor gestellt“. Nach vier Stunden Frieren humpelt er matt und überhungert in die dunkle Ba­racke, in der wir anderen schon auf dem Stroh liegen. Karl flucht: „Was dieser Schuft, der dich ‚ans Tor gestellt‘ hat, hier schon angerichtet hat! Ich wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen!“

Ehrenberg lächelt und nimmt dankbar Brot und eine Tasse Lager-Tee, den wir für ihn warm­gehalten haben. Morgen wird er seinen Arbeitstag wieder mit einem Psalm beginnen, den er seinen jüdischen Kameraden Professor Treitel, Dr. Preiser und dem Musiker Leisorowitsch vorspricht. Diese vier Männer tun traurig-ernsten Dienst. Sie sind das ‚Leichen-Kommando‘. Das hat es bisher nicht gegeben. Jetzt erst, wo 6000 Männer aus Büro und Geschäft zu Schwerar­beit gezwungen werden und so viele bejahrte Juden hier vegetieren, wo septi­sche Ausschläge und Lungenentzündungen umgehen, hält der Tod reiche Ernte. Sie täglich einzu­bringen, wird ein eigenes Kommando geschaffen. Die scharfe Trennung zwischen Juden und Ariern, die das Dritte Reich draußen so peinlich fordert, wird für die Toten nicht mehr ge­braucht. Das Leichenkommando, diese vier feinen jüdischen Menschen, sammelt sie alle, die Asozialen und die Juden, die Zigeuner und die BVer. Es trägt sie aus dem Revier, wäscht sie, kleidet sie in ein Papierhemd und bettet sie auf Holzspäne. Dann nimmt sie der schwarze Ka­sten auf, den diese vier Männer drei, fünf, ja zehn Mal am Tag durchs Lager in den Leichen­schuppen tragen. Es brüllt über den Appell-Platz: „Leichen-Kommando“! Und dann marschie­ren die vier Kameraden, die jeder kennt und mit scheuem Blick begleitet, militärisch formiert ins Revier. In sechs Wochen haben sie mehr als 90 Juden eingesargt. Manchmal stört sie die SS bei ihrem stillen Werk: „Die Juden pflegen doch ihre Toten auf Stroh zu legen.“

Und dann kommen finstere Vorstellungen zu Tage, abergläubische Toten­bräuche und Riten, die seit Generationen, ja seit Jahrhunderten in den Köpfen von Menschen spuken, die wir einmal unsere Volksgenossen nannten. „Warum sterben gerade so viele Juden?“, fragt ein SS-Mann neugierig, nicht etwa teil­nahmsvoll. Das Leichenkommando erklärt die Todesfälle aus dem plötzlichen Wechsel zwischen der gewohnten Büroarbeit und den Bedingungen des La­gers. „Da könnt ihr euch ja bei uns bedanken, daß wir endlich gesunde Menschen aus euch machen.“

„Wenn man schon hier ist“, meint Ehrenberg „so soll man wenigstens was Sinnvolles tun. Un­ser Dienst an den Toten erscheint mir sinnvoll.“ Mir und [198] uns allen auch. Wir sind den Kame­ra­den dankbar, es werden reine Hände sein, die uns betten, wenn wir in unserem Kampf ums Leben unterliegen. Für die SS ist der jüdische Pfarrer ein sensationeller Anlaß, ihren ‚Witz‘ spielen zu lassen. „Was bist du, Pfarrer? Rabbiner, meinst du?“ Öfters wird er höheren SS-Führern vorgestellt, und seine ruhigen Antworten begleitet sie mit dem üblichen Hohn.

Quelle: Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937-1939, Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 21, München: Olden­bourg, 1998, S. 196-198.

Hier Reichmanns Text als pdf.

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