Senden, 23. Juni 1938
Hochwürdigster Herr Landesbischof!
Weil ich weiß, wie Sie gehetzt sind und sich kaum der Flut der täglichen Ereignisse und Erfordernisse erwehren können, hat mich Gott vor etlichen Wochen schon auf den wunderlichen Gedanken gebracht, Ihnen, im Herrn Christus geliebter Herr Landesbischof, die Lutherbriefe von der Koburg zu schicken mit angestrichenen Stellen, die mir beim Lesen wichtig geworden sind.[1] Es ist so möglich, in ganz kurzer Zeit immer wieder starken Trost und klare Weisung sich geben zu lassen von einem, auf den zu hören sich wahrlich lohnt, denn er will nur das lebendige Wort des lebendigen Christus zu Gehör bringen. So sehr ich mich gegen diesen etwas wunderlichen Gedanken sperren wollte, bin ich doch nicht drüber zur Ruhe gekommen, bis ich mich doch habe treiben lassen, dies Büchlein zu schicken.
Diese Briefe sind zum großen Teil in diesen Juni- und den kommenden Julitagen ums Jahr 1530 geschrieben. Sie sind der praktische Beitrag Luthers in einer kirchenpolitischen Hochzeit und Entscheidungszeit, wie die Kirchengeschichte sie nur selten gekannt hat. Was ist aber der praktische Beitrag Luthers? Er schreibt seinen verzagten, von Sorgen bedrängten und verwirrten Freunden, vergeßt nicht: der Herr Christus ist für unsere Sünden gestorben! Der Herr Christus ist auferstanden! Der Herr Christus sitzt zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters. Der Herr Christus kommt wieder in Herrlichkeit! „Anderes habe ich nichts aus dieser Einsamkeit zu schreiben.“ Es wird wohl nicht angehen, ihn deshalb als weltfremden Schwärmer abtun zu wollen, der Kirche im luftleeren Baum bauen will. Luther hat mit diesen Briefen zugepackt und Taten getan, d.h. er hat den lebendigen Christus mobil gemacht! So könnte man diesem Büchlein auch den Titel geben: Dogma in actu. Luther hat sich nicht mit dem Wort Gottes beschäftigt als einer philosophischen Materie oder zum „Spekulieren und hoch zu dichten“ (S. 60). Sterile zwischen Bekenntnisbuchdeckeln sterilisierte Dogmatik über Auferstehung usw. war ihm absolut fremd, wobei er wahrlich keine schlechte Dogmatik hatte, aber keine angelernte Examensdogmatik, sondern die Schriftgemäßheit erwies sich bei ihm in actu.
Die kirchenpolitische Lage und Situation mag sich, äußerlich gesehen vielleicht ändern, obgleich auch hier im letzten Grund sich alles gleich bleibt, aber die Art und Weise, wie ihr zu begegnen ist, bleibt immer die gleiche. Heute müßten gleichartige Briefe geschrieben werden, wie Luther sie 1530 nach Augsburg, und sonstwohin schrieb. Wohl müßte sich’s Luther gefallen lassen, von nicht wenigen Kirchenpolitikern als „Schwärmer“ abgetan zu werden, denn in actu und in concreto mit dem „vivit“ ganz praktisch zu rechnen, ist unlutherisch geworden, und praktisch kommt die theologia nur theoretisch in Frage. —
Im Herrn Christus geliebter Herr Landesbischof, mir steckt noch immer Ihr Wort in den Gliedern, mit dem Sie mir anfangs Februar 1934 nach meinen theologischen Einwänden gegen Ihre abermalige Zustimmung zum Reichsbischof Müller glaubten antworten zu sollen: „Was Sie sagen, Herr Kollege, ist theologisch alles sehr fein, wir aber müssen mit gegebenen Tatsachen rechnen.“ Ich sagte damals darauf: „Es fragt sich nur, ob der Herr Christus doch auch noch eine gegebene Tatsache ist.“ — Ebenso verfolgt mich Ihr Wort als Antwort auf die theologischen Einwände gegen den Reichskirchenausschuß, besonders wegen des mißachteten rite vocatus, aus dem letztlich heute die ganze Not der staatlichen Finanzabteilung fließt: „den richtigen Weg wissen wir auch, aber der ist nicht gangbar.“ — Herr Landesbischof, solches Reden ist mir absolut unbegreiflich und tut mir geradezu körperlich weh, weil es an meine Existenz greift. Wenn ich in concreto und in actu geradezu absehen muß vom Auferstandenen und Theologie unverbindliches, theoretisches, spiritualistisches Spekulieren und Philosophieren wird, dann fahre ich lieber wieder Mist wie mein Großvater und baue Korn und Kartoffeln, denn ich weiß mir nichts Unproduktiveres und geradezu Widerlicheres als Spekulieren. Mir ist das en Christō stehen eben nicht ein Schweben in höheren Sphären, und anders wäre mir mein eigenes konkretes tägliches Leben einfach nicht mehr zu ertragen. Und darum wehre ich mich dort, wo ich etwa solche Trennungen zwischen „sichtbarer und unsichtbarer Kirche“ merke, wie sich eben immer wehrt, der sich um sein Leben wehrt. „Soll es denn erlogen sein, daß Gott seinen Sohn für uns gegeben hat, so sei der Teufel an meiner Statt ein Mensch oder eine seiner Kreaturen“ [Luther, Coburgbriefe, S. 46]. Daß Christus die Welt überwunden hat, muß offenbar werden in unsern täglichen konkreten Entscheidungen, hier wird der Glaube praktisch und allein glaubwürdig verkündigt.
Im Herrn Christus geliebter Herr Landesbischof, ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, wenn ich das, was ich zur Ehre unseres Herrn Christus sagen will, mitunter nicht in manierlicher Form zu sagen verstanden habe und verstehe. Nicht entschuldige ich mich in der Sache, darin erhalte mich Gott weiterhin unerbittlich, soweit Er uns Gewißheit und klare Erkenntnis schenken will. Ich kenne mich zu gut und weiß, daß ich täglich von der Vergebung der Sünden lebe, und darum will und kann ich nicht moralisch beleidigen, und wer mein Reden so verstehen wollte, der reagiert katholisch; ich versuche evangelisch zu reden und laß aus dem lebendigen, erhöhten Herrn Christus kein unverbindliches Christentum machen, wie andere unverbindliche Religionen und Philosophien. Es geht mir um den Glaubens=Gehorsam gegen den erhöhten Herrn und um Seine Ehre, der wahrhaftig! auferstanden ist und lebt und regiert und von uns nicht pensioniert und nicht zu einem dogmatischen Numinosum gemacht werden will in unseren praktischen Entscheidungen. Ich halte es auch da mit Luther: „Diesen Worten glaube ich, und ob der Glaube gleich schwach ist, so glaube ich dennoch“ (S. 56). „Es ist allein der Glaube von Nöten, auf daß des Glaubens Sache nicht ohne Glauben sei“ (S. 50).
In täglicher Fürbitte Ihr im Herrn Christus getreuer
Karl Steinbauer
Quelle: Karl Steinbauer, Einander das Zeugnis gönnen, Bd. 3, Erlangen 1985, S. 154-159.
[1] Gemeint ist das Buch Martin Luther, Des Glaubens Trost und Trutz. Briefe von der Veste Coburg, Sommer 1530, München: Chr. Kaiser 1938.