Karl Barths „Erklärung über das rechte Verständnis der re­formatori­schen Bekenntnisse“ vom Januar 1934: „… ist ein die Evangelische Kirche seit Jahr­hunderten verwüstender Irrtum reif und sichtbar geworden. Er besteht in der Mei­nung, dass neben Gottes Offenbarung, Gottes Gnade und Gottes Ehre auch eine berechtigte Eigenmäch­tigkeit des Menschen über die Botschaft und die Gestalt der Kirche, das heißt über den zeitli­chen Weg zum ewigen Heil, zu bestimmen habe.“

Zwischen „Theologische Existenz heute!“ vom Juni 1933 und der „Barmer Theologischen Erklärung“ vom Mai 1934 hat Karl Barth zum Jahreswechsel 1933/34 seine „Erklärung über das rechte Verständnis der re­formatori­schen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart“ verfasst, die auf der 1. freien reformierten Synode am 3. und 4. Januar 1934 in Barmen-Gemarke als Entschließung angenommen wurde. Für den gegenwärtigen landeskirchlichen Protestantismus ist Barths Text eine Herausforderung:

Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart

Von Karl Barth

Die zu einer freien reformierten Synode versammelten 320 reformierten Ältesten und Pre­diger aus 167 evangelischen Gemeinden Deutschlands bekunden, daß die von ihnen gehörte, durch Herrn Professor D. Barth verfaßte „Erklärung über das rechte Verständnis der re­formatori­schen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart“ die Wahrheit der Heiligen Schrift bezeugt, und nehmen sie dankbar auf ihre Verantwortung.

I. Die Kirche in der Gegenwart

1. Angesichts der kirchlichen Ereignisse des Jahres 1933 gebietet uns das Wort Gottes, Buße zu tun und umzukehren. Denn in diesen Ereignissen ist ein die Evangelische Kirche seit Jahr­hunderten verwüstender Irrtum reif und sichtbar geworden. Er besteht in der Mei­nung, daß neben Gottes Offenbarung, Gottes Gnade und Gottes Ehre auch eine berechtigte Eigenmäch­tigkeit des Menschen über die Botschaft und die Gestalt der Kirche, das heißt über den zeitli­chen Weg zum ewigen Heil, zu bestimmen habe.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: die kirchliche Entwicklung seit der Reformation sei eine nor­male gewesen und es handle sich in der heutigen Not unserer Kirche nur um eine vorüber­ge­hende Störung, nach deren Beseitigung jene Entwicklung gradlinig weitergehen dürfe.

2. Dieser Irrtum ist derselbe wie der Irrtum der Papstkirche und der Schwärmerei, gegen den sich das reformatorische Bekenntnis richtet. Wenn die Evangelische Kirche ihm erliegt, so hat sie aufgehört, evangelische Kirche zu sein. Er muß heute, auch in seinen feinsten und reinsten Gestalten, als Irrtum festgestellt und bekämpft – dem alten Irrtum muß das alte Bekenntnis mit neuer Freudigkeit und Bestimmtheit entgegengestellt werden.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Der Irrtum von der Eigenmächtigkeit des Menschen in Sa­chen der Botschaft und Gestalt der Kirche sei eine Meinung neben anderen, die wenigstens in ihren edleren Formen in der evangelischen Kirche nach wie vor Heimatrecht haben könne.

3. Angesichts der Einheit, in der dieser Irrtum heute in die Erscheinung getreten ist, sind die in der einen Deutschen Evangelischen Kirche zusammengeschlossenen Gemeinden aufge­ru­fen, unbeschadet ihrer lutherischen, reformierten oder unierten Herkunft und Verantwor­tung, aufs neue die Hoheit des einen Herrn der einen Kirche und darum die wesentliche Ein­heit ihres Glaubens, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung, ihrer Verkündigung durch Predigt und Sakra­ment, ihres Bekenntnisses und ihrer Aufgabe zu erkennen.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Es dürfe oder müsse die berechtigte Vertretung lutheri-[49] scher, reformierter oder unierter „Belange“ noch immer den Erfordernissen des gemeinsa­men evangelischen Bekennens und Handelns gegen den Irrtum und für die Wahrheit über­geordnet werden.

II. Die Kirche unter der Heiligen Schrift

1. Die Kirche hat ihren Ursprung und ihr Dasein ausschließlich aus der Offenbarung, aus der Vollmacht, aus dem Trost und aus der Leitung des Wortes Gottes, das der ewige Vater durch Jesus Christus, seinen ewigen Sohn, in der Kraft des ewigen Geistes, als die Zeit erfüllt war, ein für allemal gesprochen hat.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Kirche könne und müsse sich außer auf die Offen­barung des dreieinigen Gottes auch noch auf eine dem Menschen trotz des Sündenfalls zu­gängliche Gottesoffenbarung in Natur und Geschichte begründen und beziehen.

2. Die Kirche hört das ein für allemal gesprochene Wort Gottes durch die freie Gnade des Heiligen Geistes in dem doppelten, aber einheitlichen und in seinen beiden Bestand­teilen sich gegenseitig bedingenden Zeugnis des Alten und des Neuen Testamentes, das heißt in dem Zeugnis des Mose und der Propheten von dem kommenden, und in dem Zeugnis der Evange­listen und Apostel von dem gekommenen Jesus Christus.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die biblischen Schriften seien zu verstehen als Zeugnisse aus der Geschichte menschlicher Frömmigkeit; maßgebend für die christliche Frömmigkeit sei aber vorwiegend oder ausschließlich das Neue Testament; es könne oder müsse darum das Alte Testament zugunsten des Neuen abgewertet, zurückgedrängt oder gar ausgeschieden werden.

3. Die Kirche lebt durch die freie Gnade des Heiligen Geistes davon und darin, daß sie, indem sie das Zeugnis der Heiligen Schrift im Glauben aufnimmt und im Gehorsam weiter­gibt, die Strenge und Barmherzigkeit, die Ehre und die Menschenfreundlichkeit des drei­einigen Gottes erkennt und verkündigt.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Kirche könne oder müsse neben dem durch die Heilige Schrift bezeugten Handeln Gottes in Jesus Christus auch noch sein Wirken in den Ereignissen der jeweiligen Gegenwart feststellen und bekannt machen.

III. Die Kirche in der Welt

1. Die Kirche ist in der Welt. Sie bekennt sich in der Nachfolge des fleischgewordenen Wor­tes Gottes rückhaltlos zu der ganzen Not des von Gott gut geschaffenen, aber in Sünde gefal­lenen und unter dem göttlichen Fluch stehenden Menschen. Sie vertraut und sie ge­horcht allein der eben diesem Menschen in Jesus Christus widerfahrenen Barmherzigkeit. Sie wartet nach Gottes Verheißung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Kirche könne oder müsse außer der Barmherzigkeit Got­tes in Christus auch noch einer dem Menschen erkennbaren Güte dieser Welt vorbehalt­loses Vertrauen schenken und einer dem Menschen erkennbaren Eigengesetzlichkeit dieser Welt vorbehaltlosen Gehorsam entgegenbringen.

2. Die Kirche anerkennt nach Weisung des Wortes Gottes dankbar, daß der Wandel der Menschheits- und Völkergeschichte, die politischen, philosophischen und kulturellen Ver­suche des Menschen unter der Anordnung des göttlichen Befehls und der göttlichen Geduld stehen. Sie begleitet sie darum mit der ernsten Anerkennung ihres zeitlichen, bestimmten und begrenzten Rechtes mit ihrer Fürbitte, aber auch mit der Erinnerung an Gottes Reich, Gesetz und Gericht, mit der Hoffnung auf ihn, der alles lenkt, um alles neu zu machen.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Kirche könne oder müsse in der Wirklichkeit dieses oder jenes Versuchs des Menschen nicht sowohl einen Erweis der göttlichen Geduld als viel­mehr eine Annäherung an die Wiederherstellung der göttlichen Schöpfungsordnung er­blicken.

3. Die Kirche ist in der Welt unter der Heiligen Schrift. Sie dient dem Menschen und dem [50] Volk, dem Staat und der Kultur, indem sie hinsichtlich ihrer Botschaft und ihrer Gestalt dem ihr vorgeschriebenen Worte Gottes und seinem Heiligen Geist gehorsam zu sein bemüht ist.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Kirche habe dem Menschen damit zu dienen, daß sie, ihm mehr gehorchend als Gott, ihre Botschaft und ihre Gestalt seinen jeweiligen Über­zeugun­gen, Wünschen und Zwecken anpasse und zur Verfügung stelle.

IV. Die Botschaft der Kirche

1. Der Auftrag der Kirche besteht darin, in Auslegung und nach Maßgabe des prophe­tisch-apostolischen Zeugnisses an Christi Statt und also seinem eigenen Wort und Werk dienend, durch Predigt und Sakrament die Botschaft von Gottes nahe herbeigekommenen Reich auszu­richten: Gott der Schöpfer hat sich seiner Geschöpfe, Gott der Versöhner hat sich der Sünder, Gott der Erlöser hat sich seiner geliebten Kinder in freier Gnade angenommen.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Kirche könne oder müsse das Wort Gottes des Schöp­fers, Versöhners und Erlösers, statt ihm zu dienen, als ihr eigenes Wort aussprechen und also, statt die freie Gnade zu verkündigen, „dynamisch“ wirken.

2. Die freie Gnade, in der Gott sich unser annimmt, ist die in der Kraft des Heiligen Geistes sich erfüllende Verheißung der Gegenwart Jesu Christi als des Herrn, der für uns Knecht ge­worden, um unser altes Leben in den Tod zu geben und unser neues Leben an das Licht zu bringen.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Die Gnade Gottes bestehe in moralischen oder religiösen Vollkommenheiten, deren sich der Mensch nicht nur im Blick auf den, der den Gottlosen gerecht macht, sondern doch auch im Blick auf einen eigenen Besitz rühmen könnte.

3. Die Gabe der Gnade ist unsere Zugehörigkeit zu Jesus Christus: In ihm sind wir ge­recht­fertigt durch das Wunder des Glaubens, der immer wieder die in ihm geschehene Ver­gebung unserer Sünde annimmt. Und in ihm sind wir geheiligt durch das Wunder des Ge­horsams, der sich immer wieder unter das Gericht und unter die Weisung des von ihm kommenden Gebotes stellt.

Damit ist abgelehnt die Ansicht:

a) Als sei das „Evangelium“ und das „Gesetz“, unsere Rechtfertigung und unsere Heili­gung, nicht die Offenbarung und das Werk der einen Gnade Jesu Christi.

b) Als vollziehe sich unsere Rechtfertigung als Sünder dadurch, daß wir plötzlich oder all­mählich bessere Menschen werden.

c) Als sei die Gabe der freien Gnade nicht auch unsere Inanspruchnahme zum Gehorsam gegen Gottes Gebot oder als sei diese unsere Heiligung etwas anderes als eine Gabe der freien Gnade.

4. Unser durch den Heiligen Geist in Jesus Christus begründetes und von ihm jeden Tag neu zu erbittendes Leben im Glauben und im Gehorsam wartet auf seine Erlösung durch den kom­menden Herrn: in der Auferstehung der Toten, durch das Gericht und zum ewigen Leben.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Ein Leben im Glauben und im Gehorsam könne in ir­gendei­ner Hinsicht ein in sich abgeschlossenes, sich selbst genügendes, dem Warten auf den kom­menden Herrn und also der Hoffnung auf ihn und der Furcht vor ihm entzogenes Leben sein.

V. Die Gestalt der Kirche

1. Die Kirche Jesu Christi ist die sichtbar und zeitlich gestaltete Wirklichkeit der durch den Dienst der Verkündigung vom Herrn selbst berufenen, versammelten und getragenen, getrö­steten und regierten Gemeinde und die ebenso sichtbar und zeitlich gestaltete Wirk­lichkeit der Einheit solcher Gemeinden.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Als empfange die Kirche ihre zeitliche und sichtbare Ge­stalt kraft ihrer eigenen Willkür oder äußerer Notwendigkeiten wie ein religiöser Verein, dessen Prinzip ebensogut in dieser wie in jener Form verwirklicht werden könne. [51]

2. Die Gestalt der Kirche ist dadurch bestimmt, daß ihre äußere Ordnung ebenso wie ihr inne­res Leben unter der Verheißung und unter dem Befehl Jesu Christi als des alleinigen Herrn der Kirche steht. Die Gemeinden tragen einzeln und in ihrer Gesamtheit vor ihm die Verantwor­tung dafür, daß der Dienst der Verkündigung, der Dienst der Aufsicht und die die Verkündi­gung begleitenden Dienste der Lehre und der Liebe in ihrer Mitte ihre be­rufenen Träger fin­den und von diesen recht ausgeübt werden.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Als könne und dürfe den Gemeinden die Verantwortung für die Bestellung und Verwaltung des kirchlichen Dienstes von einem besonderen kirch­lichen Führeramt abgenommen werden.

3. Die Kirche Jesu Christi ist, was ihre Botschaft und ihre Gestalt betrifft, eine und dieselbe in den verschiedenen Zeiten, Rassen, Völkern, Staaten und Kulturen. Das Recht kirchlicher Ver­schiedenheiten da und dort steht und fällt damit, daß sie mit der Einheit ihrer Botschaft und Gestalt vereinbar sind.

Damit ist abgelehnt die Ansicht:

a) Als sei das Recht zeitlicher, nationaler und lokaler Verschiedenheiten der kirchlichen For­men aus besonderen Offenbarungen Gottes in der Geschichte abzuleiten.

b) Als sei es mit der Einheit der Botschaft und Gestalt der Kirche vereinbar, die Gliedschaft und die Befähigung zum Dienst in ihr auf die Angehörigen einer bestimmten Rasse zu be­schränken.

4. Die Kirche erkennt im Staate auf Grund der Weisung des Wortes Gottes die Anord­nung des göttlichen Befehls und der göttlichen Geduld, kraft welcher der Mensch es ver­suchen darf und soll, im Rahmen seines Verständnisses von Vernunft und Geschichte, ver­antwortlich dem Herrn aller Herren, Recht zu finden und mit Gewalt aufzurichten und aufrechtzuerhalten. Die Kirche kann dem Staat dieses sein besonderes Amt nicht abnehmen. Sie kann sich aber auch ihr eigenes Amt nicht vom Staat abnehmen, sie kann ihre Botschaft und ihre Gestalt nicht vom Staat her bestimmen lassen. Sie ist, gebunden an ihren Auftrag, grundsätzlich freie Kir­che in dem in der Bindung an seinen Auftrag grundsätzlich ebenso freien Staat.

Damit ist abgelehnt die Ansicht: Als sei der Staat die höchste oder gar einzige („totale“) Form sichtbar-zeitlich gestalteter geschichtlicher Wirklichkeit, der sich darum auch die Kirche mit ihrer Botschaft und Gestalt „gleichzuschalten“, unter- oder gar einzuordnen habe.

Entschließung der 1. freien reformierten Synode am 3. und 4. Januar 1934 in Barmen-Gemarke.

Quelle: Joachim Beckmann (Hrsg.), Kirchliches Jahrbuch für die evangelische Kirche in Deutschland 1933-1944, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 21976, S. 48-51. Vgl. Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten, 1934-1935, hrsg. v. M. Hüttenhoff, P. Zocher u. M. Beintker, GA 52, Zürich: TVZ, S. 65-83.

Hier Barths Text als pdf.

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