
Von Huub Oosterhuis
Erwachsene Menschen wissen um das Böse. Gegenseitig verstehen und erfahren sie zur Genüge die Nachtseite des anderen. Sie kennen die Kettenreaktion des Mißverständnisses und den fehlerlosen Mechanismus des Bösen, die wie eine Lawine immer größer werden. Im Kleinformat: eine zerrüttete Ehe ist zumeist ein Unglück für die Kinder; im Großformat: infolge eines niederschmetternden Friedensvertrags wurde 1918 ein ganzes Volk in eine Isolierung der Erbitterung getrieben, aus der nur neue Gewalt geboren werden konnte; zwanzig Jahre später war es soweit, und jetzt lastet auf diesem Volk eine unübersehbare Schuld, ein unermeßlicher Verlust von Millionen Menschenleben.
Was sich im kleinen Rahmen unseres eigenen Lebens abspielt, das ergibt sich auch im großen Ausmaß in der Geschichte eines Volkes, der ganzen Menschheit: der Augenblick, in dem Schuld entsteht, läßt sich niemals nachweisen. Erst im Rückblick sehen wir Schuld, entdecken wir erklärliche menschliche Fehler und Vorkommnisse, die vielleicht harmlos waren, die aber im nachhinein zu unerklärlichen Verbrechen gewachsen sind. Wann genau beginnt Schuld? Wo und wann läßt sich im Menschen der Auftakt nachweisen, da er sich in ein Vernichtungssystem hineinreißen ließ?
Darauf gibt es keine Antwort. Der Ursprung verliert sich im Dunkel. Genauso beängstigend kompliziert ist auch der Wachstumsprozeß des Verbrechens und der Schuld: persönliche Frustrierungen zahlloser, vielleicht netter und wohlwollender Menschen, die unter dem Druck der verschiedenartigsten gesellschaftlichen Faktoren aufeinander einspielen und sich ineinander verstricken und die dann zu einer Macht werden, zu einem Schicksal für wieder andere Menschen, die ihrerseits wieder … und so weiter. Und einer dieser Menschen heißt dann Gertrud Slotke, jene traurige Hauptfigur im Münchner Nazi-Prozeß 1966, eine alleinstehende Frau von vierundsechzig Jahren, die es nicht über sich brachte, ein Schuldbekenntnis abzulegen. Aber wieviel Böses muß ihr früher – von wem immer – angetan worden sein, daß sie sich beim Prozeß nicht mehr befreien konnte aus der Isolierung des Schweigens, des Nichtwissens, der inneren Flucht, des Abschiebens der Schuld?
Manchmal sieht man sein eigenes Spiegelbild im Verbrechen und in der Schuld der anderen; man erfährt dann seine eigene angeborene Ohnmacht oder seine unbewußt gehegten Unzulänglichkeiten als den möglichen Anfang eines solchen moralischen Zusammenbruchs. Uns scheint es durchaus möglich, daß es zu einem solchen Verlauf gekommen ist. Was aber ist in mir verborgen, daß ich imstande wäre, Ähnliches im Leben anderer Menschen anzurichten? Manchmal haben wir eine Vorahnung von der Schuld, die wir auf uns laden können, und das ist dann ein Grund der Angst. Wir alle kennen das Schamgefühl über das, „was im Menschen ist“, wie die Bibel sagt.
Die unentrinnbare Zusammengehörigkeit aller Menschen im Bösen, diese bittere Erfahrung finden wir im biblischen Bericht über den Sündenfall ausgedrückt. In dieser allgemein bekannten und von Christen oft falsch verstandenen Erzählung wird weder der Versuch unternommen, den rätselhaften Ursprung des Bösen zu erklären, noch ist darin beabsichtigt, genau darzulegen, wie sich damals, vor langer Zeit, das alles zugetragen hat. In der Schilderung des Adam, der nach dem Sprachgebrauch der Bibel der Mensch-aller-Zeiten, der „Jedermann“ ist, begreifen wir in erster Linie dasjenige, was sich – wenn auch unerklärlich – wirklich ereignet. Dieser Mensch, aus Staub der Erde modelliert, wurde in die Freiheit hineingestellt: seine Welt nennt er mit Namen, ein anderer Mensch wird ihm geschenkt, Liebe und Erkennen sind da; und dann ereignet sich in diesem Zusammenleben plötzlich das Böse. Nicht von Gott her kommt das Böse in die Welt, wie es die Mythen des alten Orients und die griechischen Tragödien darstellen, nicht Gott ist der Schuldige, sondern der Mensch selbst. Vom einen Menschen zum anderen vollzieht sich das Böse, Menschen reißen einander mit und sind gemeinsam verantwortlich. „Erbsünde“ wurde zur Bezeichnung dieser Solidarität-im-Bösen. Wir sagen „Erbsünde“, nicht um auf diese Weise das Böse in uns als einen Sachverhalt der biologischen Erblichkeit zu erklären, sondern um damit anzudeuten, daß jeder seinen Platz in diesem Geschehen einnimmt, daß wir alle „schmutzige Hände“ haben. „Es gibt keine Gerechten“, sagt Albert Camus, „es gibt nur Menschen, die mehr oder weniger gerecht sind. Der schlimmste Verbrecher und der rechtschaffenste Richter stehen Schulter an Schulter, beide befinden sich im gleichen Elend und sind darin solidarisch“. Einer der Zeugen im Auschwitz-Prozeß hat dem schwierigen Begriff der „Erbsünde“ einen konkreten Inhalt verliehen, indem er sagte: „Ich ersuche nur, daran erinnern zu dürfen, wieviele Zuschauer entlang der Straßen standen, als wir aus unseren Wohnungen vertrieben und in Viehwaggons verladen wurden“. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, sagt das Evangelium. Und in seiner ganz eigenen grimmigen und radikalen Art schreibt Paulus im Römerbrief: „So wird jedem der Mund gestopft, und ist die ganze Welt schuldig“.
Die ganze Welt. Das klingt erbarmungslos, aber die eiserne Konsequenz entgeht uns nicht: Da stehen wir alle in unserer Nacktheit, in der Kälte, in der Wüste. Viele Menschen in der Geschichte des Christentums haben diesen Gedanken nicht zu verkraften vermocht, und es ist auch vollends begründet, daß Menschen sich bis in die kleinsten Einzelheiten ihrer Existenz dadurch angegriffen, determiniert und gelähmt fühlen. Wie soll ein beliebiger Mensch, der ohne persönliche Schuld geboren wurde und sich normal mit dem Leben und den Menschen befaßt, wie soll er sich verhalten in dieser Welt, die schuldig ist? Ich vermute, daß uns die Antwort durch solche Menschen vorgelebt wird, die vielleicht ebenso zahlreich sind wie diejenigen, in denen die Schuld der Welt und die Macht des Bösen auf uns zukommen. Die Antwort lautet: Es gibt irgendwo in dieser „ganzen Welt“ Menschen, die einfach damit beginnen, stellvertretend für einen anderen einzustehen: es sind nur einige wenige, eine Familie, ein Milieu. Es sind Menschen da, die einen Anfang machen, während ihre ganze Umgebung noch gelähmt ist, sie durchbrechen eine tödliche Stille, sie stehen bewußt auf, während andere machtlos sitzen bleiben, es sind Menschen, an die man appellieren kann, die eine Antwort geben, die begreifen, die Kraft ausstrahlen, die trotz ihrer schmutzigen Hände Gutes tun. Es gibt Menschen, die hinausgehen: in die Kälte, in die Schuld, in den Winter, die meinen, sie hätten nicht das Recht, sich zu distanzieren und die Schuld von sich abzuschieben. Manchmal begegnet man solchen Menschen in irgendeinem Land, in einer Kirche oder in einem anderen Weltteil. Sie sagen wahrscheinlich nicht: Das ist alles meine Schuld. Denn dazu ist die Situation zu kompliziert. Sie sagen aber: Ich gehöre dazu. Sie nehmen die Situation als Ausgangspunkt, sie sehen, daß dort ihre Verantwortung beginnt.
Der Augenblick, in dem diese Erkenntnis im Menschen aufbricht und er seine Entscheidung trifft, ist ein Augenblick der Berufung. Es ist, als höre der Mensch eine Stimme, die ihn zum verantwortungsbewußten Menschsein ruft, als erfahre er in sich selber die Kraft, diesen Anruf zu erwidern.
Vom Augenblick an, da er diese Entscheidung trifft, stößt er erst recht auf die Macht des Bösen. Dann erst erfahrt er im vollen Umfang, wie bleischwer und belastet die Welt und wie festgefahren seine Situation ist. Es wird zu einem aussichtslosen Unterfangen; er steht tatsächlich in der Wüste, bedroht von wilden Tieren, Ängsten und Anfechtungen des Fatalismus und des Zweifels; von allen Seiten drängen Fragen auf ihn ein: Wozu nützt es? Warum habe ich mich darauf eingelassen? Wo soll das hinführen? Ist es keine Illusion? Je tiefer ein Mensch in diese Welt eindringt und je intensiver er sich des Schicksals der anderen annimmt, um so mehr fühlt er sich angefochten und der Versuchung ausgesetzt. Wer keine Verantwortung auf sich nimmt, unterliegt keiner Versuchung. Wer nicht glaubt, kennt keine Glaubenszweifel. Wer an Gott, an Menschen glaubt, wird in den Zweifel und in die Ungewißheit hineingeworfen. Wer einen anderen Menschen mitsamt seinem Elend auf die Schulter nimmt, fühlt sich versucht zu denken: Es ist sinnlos, ich schüttle ihn ab, ich lasse ihn fallen. Es gibt aber welche, die einen solchen Menschen nicht abschütteln und sich nicht von ihm distanzieren. Sie sagen dem anderen: Es ist zwar deine Schuld, deine Nachtseite, dieses Böse in dir, aber es macht mir nichts aus, ich verzeihe dir. Solchen Menschen begegnen wir oft unvermittelt greifbar und mitten unter uns, zum Beispiel Eltern, die Kinder haben, oder Mann und Frau, die in guten, aber auch schlechten Zeiten miteinander leben. Es gibt Juden, die das Konzentrationslager überlebt und alles und jeden Menschen verloren haben und die – ohne Naivität und ohne etwas beschönigen zu wollen – dennoch keinen Haß empfinden. Sie sind in der Treue zur Welt geläutert – sonst gar nichts. Wo diese Kraft, die wir Vergebung nennen, sichtbar wird, dort ist die Fatalität des Bösen gebrochen, dort wird die Welt gerechtfertigt. Solche Menschen sind größer als die Sünde, Sie lösen das Sündenproblem nicht, sondern ihr Leben schafft es fort. Sie sind es, die die Sünden der Welt hinwegnehmen.
Das Evangelium hat den Namen eines dieser Berufenen bewahrt. Was uns in den Reihen der Menschen begegnet, erkennen wir in diesem einen aus der Reihe. Was sich in zahllosen Menschen-in-der-Welt ereignet und in ihnen glaubwürdig wird, berühren wir in diesem Menschen-auf-Erden, der so tief in dieser ganzen schuldigen Welt verwurzelt war, daß er – nach dem Wort des Paulus – zur Sünde geworden ist. Im Tischgebet der Eucharistiefeier bekennen wir von ihm, daß er – gemeinsam mit zahllosen anderen Menschen – die Vergebung der Sünden ist.