
Gegen die Einführung eines diktatorischen Führerprinzips bzw. die ideologische Gleichschaltung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) haben sich kurz vor der Barmer Synode 35 Theologieprofessoren mit einer gemeinsamen Stellungnahme gewandt. Federführend war hierzu der Marburger Professor für Kirchengeschichte und Neues Testament Hans von Soden (mit einigen Ergänzungen von Heinrich Schlier), der auch den Druck und die Versendung organisierte:
Bekenntnis und Verfassung in den evangelischen Kirchen.
Wir unterzeichneten Lehrer der Theologie halten es für die unabweisbare Pflicht unseres Amtes, gegen den von der derzeitigen Kirchenregierung eingeschlagenen Weg der Neuordnung der Deutschen Evangelischen Kirche Einspruch zu erheben. Wir weisen darauf hin, daß die Hl. Schrift und die reformatorischen Bekenntnisse auch in den Fragen der Ordnung der Kirche Beachtung fordern. Wir erklären, daß sowohl nach lutherischem wie nach reformiertem Glauben folgende Grundsätze bei der Neuordnung der Kirche festgehalten werden müssen:
I.
Die Verfassung der Kirche hat wie die Ordnung des Gottesdienstes und des geistlichen Lebens der Kirche insofern eine unablösbare Beziehung zu Schrift und Bekenntnis, als ihr die Aufgabe zukommt, das kirchliche Handeln, in dessen Mitte die Verkündigung des Wortes Gottes steht, zu schützen und zu fördern, wobei sie in ihrer positiv-rechtlichen Gestaltung nicht einfürallemal durch Schrift und Bekenntnis festgelegt ist. Es geht somit nicht an, eine »bekenntnismäßige Bindung der Kirchenordnung« nur für »gewisse reformierte Gruppen« zuzugestehen, und es ist in der gegenwärtigen Lage ohne praktische Bedeutung, wenn lutherische und reformierte Lehre über die Maßgeblichkeit der urchristlichen Verfassungsbildung im apostolischen Zeitalter verschieden urteilen. Deshalb muß nach allgemein reformatorischen Grundsätzen die Kirche zu jeder Zeit allein nach den Gesichtspunkten geordnet und verfaßt werden, die sich aus dem Gedanken des Schutzes und der Förderung des kirchlichen Handelns ergeben (CA VII; FC ep. X 4, Sol. Decl. X 9). Die Rede, daß die »äußere Ordnung der Kirche« mit Glauben und Bekenntnis nichts zu tun habe, führt nicht weniger irre als das Urteil, daß »der Kampf um die äußere Ordnung« nicht »mit geistlichen Argumenten ausgefochten« werden dürfe. Der Versuch, der Kirche eine rein formal-politische »Einheit« aufzuzwingen, führt nicht zur »einheitlichen Zusammenstellung aller vorhandenen Energien«, sondern zerstört die Kirche nicht weniger als das Bestreben, sie von einer bürokratisch-juristischen Zentrale leiten und bewahren zu lassen.
Wie wenig im übrigen selbst diese selbstgewählte Grenze zwischen »äußerer« Ordnung und innerem Glaubens- und Bekenntnisstand der Gemeinde auf die Dauer beachtet werden dürfte, verraten die verschiedenen Ankündigungen reichsbischöflicher Eingriffe in die durch die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche den Landeskirchen gewährleistete Selbständigkeit im Kultus (reichsbischöfliche Einführung eines Einheitsgesangbuches und einer Einheitsliturgie).
II.
Die Kirche hat nach reformatorischem Bekenntnis nur eine Aufgabe: das Evangelium zu verkündigen. Der Staat hat nach reformatorischem Bekenntnis nur eine Aufgabe: die irdische Ordnung zu bewahren und zu pflegen. Deshalb ist zwischen Kirche und Staat – um des Wohles der Kirche und des Staates willen – eine klare Unterscheidung der Aufgaben und des Zieles, aber auch der Mittel, sie durchzusetzen, nach reformatorischem Glauben festzuhalten (CA XVIII). Das schließt nicht aus, sondern ein, daß die Kirche dem Staat den ganzen schuldigen Gehorsam als der weltlichen Obrigkeit in Sachen der Obrigkeit leistet, und daß der Staat der in diesem Sinne gehorsamen Kirche ihre Verfassung rechtlich garantiert. Das schließt aber aus, daß die »starke innere Verbundenheit zwischen Staat und Kirche« dahin verstanden wird, daß die Kirche die Weltanschauung des Staates und der Partei zu verkünden habe, und daß die Verfassung der Kirche den Formen des Staates anzugleichen sei. Die Kirche ist nicht die Stätte politischer Propaganda, sowenig wie die Stätte politischer Opposition, sondern die Stätte der reinen und Gott verantwortlichen Verkündigung des Wortes Gottes an das Volk, das sich zum Evangelium bekennt.
III.
Sowohl nach reformierter als auch nach lutherischer Lehre wird die Kirchengewalt auf Erden durch die Gemeinde der Kirche Jesu Christi ausgeübt, in dessen Dienst sie einzelne zu Ämtern beruft (Ap. Conf. XIII, 12; Art. Smalc. Tract. 67. 72; vgl. 24). Sie hat daher auf Grund des allgemeinen Priestertums der Gläubigen die Pflicht, beim Versagen der Amtsträger selbst einzugreifen (CA XVIII, 23; Art. Smalc. Tract. 66. 67; M. Luther, Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift 1523; Von den Konziliis und Kirchen 1539). Die Gemeinde aber und das geistliche Amt, innerhalb dessen es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Bischöfen, Pfarrern und anderen Amtsträgern gibt (Art. Smalc. II, art. 4; Tract. 61-66), sind in allem Urteilen und Handeln an die Hl. Schrift gebunden (Ap. Conf. XXVIII, 20), die die entscheidende Instanz in der Kirche darstellt (FC. Ep. u. Sol. Decl.: Von dem summarischen Begriff, Regel und Richtschnur …).
In der evangelischen Kirche ist deshalb das Führerprinzip ein Schrift- und bekenntniswidriges Prinzip, das bisher noch nie in ihr anerkannt worden ist; es ist untragbar, daß kraft dieses Prinzips die Kirche nach dem absoluten, nur sich selbst verantwortlichen, jeden Einspruch, selbst wenn er auf Grund der klaren Worte der Hl. Schrift und des Bekenntnisses erhoben wird, niederschlagenden Willen des Reichsbischofs regiert werden soll. Luther und Calvin waren gewiß die geistlichen Führer in der Kirche ihrer Zeit, aber gerade sie haben niemals aus der Gabe und aus der tatsächlichen Stellung ein Prinzip gemacht, das sich in der »äußeren« Ordnung »auswirken« und ein Amt begründen soll.
Die verhängnisvollen Folgen eines solchen ungeistlichen Führerprinzips werden bereits sichtbar:
- Unter ihm werden vielen Gemeinden Prediger, die in Verantwortung gegen Amt und Gemeinde für die Geltung von Bekenntnis und Ordnung der Kirche eingetreten sind, ohne geordnetes Verfahren durch das Gutdünken des Reichsbischofs genommen.
- Die freie öffentliche Aussprache in Presse und Versammlung über den christlichen Glauben und seine Auswirkung auf die Ordnung der Kirche wird Gemeinden und Pfarrern als Unbotmäßigkeit verboten und z. T. mit Hilfe weltlicher Gewalt zu unterbinden versucht. Auch Gottesdienste, die der Stärkung der Gemeinde im Bekenntnis dienen sollten, hat man verhindert und dem Kirchenvolk die Kirche gesperrt. Es geht nicht an, von unangetasteter Freiheit des Glaubens und Bekennens zu reden, wenn Gemeinden und Pfarrer unter die ungeistliche Diktatur einer säkularisierten Hierarchie gestellt und wenn notgedrungene Beschwerden über Irrlehre und Gewalt als »Auflehnung gegen die notwendige äußere Ordnung« der Kirche geahndet werden.
- Sogar das in der Kirchenordnung gesetzte Recht als solches wird von den Trägern des Kirchenregimentes, die zu seinen Hütern bestellt sind, nicht gehalten, sondern gebrochen. Es tut der Ehre der evangelischen Kirche, in der alles ehrbar und ordentlich zugehen soll, Abbruch, wenn staatliche Gerichte und juristische Gutachten den Anordnungen des Reichsbischofs die Rechtsgrundlage absprechen müssen. Die Wiederherstellung des von der Reichsregierung bestätigten und verbürgten Rechtes der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 14. Juli 1933 erscheint daher als erste Bedingung für eine Befriedigung der evangelischen Kirche.
Umfassender Zusammenschluß und verantwortliche Führung der Deutschen Evangelischen Kirche sind durch den Evangelischen Grundsatz des an die Schrift gebundenen allgemeinen Priestertums und der darauf gegründeten Verantwortung der Gemeinde und der Amtsträger keineswegs ausgeschlossen. Sie haben aber dadurch ihre echte Vollmacht zu erweisen, daß sie bei den Verbundenen und Geführten den Gehorsam des Vertrauens und der gewissensmäßigen Überzeugung finden. In der Kirche der Reformation sind Einheit ohne Wahrheit und Führung ohne eigenen Gehorsam Sünde. Wo es zum Bekenntnis und Ärgernis geht, gilt nicht Freiheit, sondern Entscheidung: Nihil est adiaphoron in casu confessionis vel scandali.
Den 23. Mai 1934
Barth, Bonn, Begrich, Leipzig, Bornhäuser, Marburg, Bultmann, Marburg, Deissmann, Berlin, Deissner, Greifswald, Fitzer, Breslau, von der Goltz, Greifswald, Günther, Marburg, Hermann, Greifswald, Hölscher, Bonn, Horst, Bonn, Jeremias, Greifswald, Jülicher, Marburg, Lietzmann, Berlin, Lütgert, Berlin, Lohmeyer, Breslau, Maurer, Marburg, Mulert, Kiel, Noth, Königsberg, Schaeder, Breslau, Schlier, Marburg, Schmidt, Kiel, Schmitz, Münster, Schniewind, Königsberg, Schultze, Greifswald, Schulz, Kiel, Schuster, Hannover, Sellin, Berlin, Sippell, Marburg, von Soden, Marburg, Strathmann, Erlangen, Weber, Bonn, Wolf, Bonn, Zscharnack, Königsberg.
Quelle: K. D. Schmidt (Hrsg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd. 2: Das Jahr 1934, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1935, S. 81-83.