
Von Rudolf Bultmann
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr, Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.
Verheißung ist der Sinn der Seligpreisungen. Deshalb sind sie ein rechter Text für die Adventszeit; denn Verheißung ist der Sinn der Adventsbotschaft. Verheißung für die von Not Gedrückten, die nach Hilfe ausschauen; für die, die »im Finstern wandeln«, und sich nach Licht sehnen. Ihnen gilt: »Selig sind sie!« »Heil ihnen!« Denn ihnen soll die Zukunft Heil bringen; sie sollen getröstet, gesättigt werden; sie werden Gott schauen; das Himmelreich ist ihr.
Gehören wir zu denen, für die das gilt? Unter den Seligpreisungen ist eine, von der wir uns heute besonders getroffen fühlen, und von der wir wünschten, sie wäre zu uns gesprochen: »Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden!« Denn wer ist unter uns, der nicht Leid trüge und sich nach Trost sehnte? Und vielleicht hat mancher von uns diese Seligpreisung neulich in Brahms’ Requiem mit besonderer Bewegung gehört. Aber dürfen wir eines dieser Worte herauslösen und auf uns beziehen? Sie gehören alle zusammen, und eines gilt für uns nur, wenn alle für uns gelten. Gewiß sind wir alle Leidtragende; aber sind wir auch solche, die geistlich arm sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, die barmherzig, die reines Herzens sind?
I.
Wir wollen zuerst die einzelnen Seligpreisungen betrachten und uns dabei fragen, ob wir diejenigen sind, die da angeredet werden.
»Selig sind, die da geistlich arm sind!« Was heißt: Geistlich arm sein? Es heißt: Sich arm wissen vor Gott. Wohl sind wir alle im Grunde arm vor Gott, hilflos und ohnmächtig, als schwache, vergängliche Menschen. Aber es kommt darauf an, ob wir das auch wissen; – wissen nicht im Sinne eines theoretischen Wissens, sondern so, daß dieses Wissen unser ganzes Wesen durchdringt, unsere ganze Haltung bestimmt. Geistlich arm sein heißt, sich die Armut des Menschseins nicht verbergen durch den scheinbaren Reichtum, den ein Mensch gewinnen mag. Es kann der Reichtum an äußerem Gut sein; dann gilt, wie Luther sagt, geistlich arm »heißt ein Herz, das sich nicht bindet an Gut und Reichtum, sondern, ob es gleich hat, doch ist ihm gleich, als hätte es nichts«. Ob wir in diesem Sinne geistlich arm sind, das können wir prüfen an einem anderen Lutherwort: »Nicht daß man von Gut, Haus, Hof, Weib und Kind solle laufen und im Land irr gehen, ander Leut beschweren . . ., sondern es heißt also: Wer mit dem Herzen Haus, Hof, Weib und Kind lassen kann, ob er gleich darinne sitzet und dabei bleibt, sich mit ihnen nähret und aus der Liebe dienet, wie Gott geboten hat, und doch dahin setzet, wo es die Not fordert,daß er’s könne um Gottes willen alle Stunde fahren lassen. Bist du so geschickt, so hast du alles verlassen, also daß das Herz nur nicht gefangen sei, sondern rein bleibe vom Geiz und Ankleben . . . und mag wohl ein Reicher geistlich arm heißen und darf darum sein Gut nicht wegwerfen, ohn – wenn er aus Not davon lassen soll, so läßt er’s in Gottes Namen, nicht darum, daß er gerne von Weib, Kind, Haus und Hof sei, sondern viel lieber behält, solang es Gott gibt, und ihm damit dienet, und doch auch bereit, wenn er’s ihm wieder nehmen will.« – Wir stehen ja heute alle in einer Situation, in der wir bereit sein müssen, daß Gott uns wieder nimmt, was er uns gegeben hat, – und für die manchen der Unsrigen ist das schon eingetreten! Wie steht es mit uns? Haben wir die Bereitschaft?
Wir können uns unsere Armut auch durch geistigen Besitz verbergen, durch das Bewußtsein dessen, was wir können und leisten, ja sogar durch das Bewußtsein, daß wir in tapferem Einsatz opferbereit sind; durch den Stolz, der dem eigenen Willen und der eigenen Kraft vertraut, durch die Sicherheit, die ein Mensch gewinnt durch zielbewußte Arbeit und Hingabe an die Werte, die dem Menschenleben Glanz geben. Aber hat solcher Stolz, hat solche Sicherheit heute noch Überzeugungskraft, da unsere Welt, in der wir stolz und sicher wohnten, in Trümmer sinkt? Erscheint solche Haltung nicht als Hochmut des Menschen, der vergißt, daß er arm, daß er nichts ist?
»Selig sind, die da geistlich arm sind!« – das Wort will den Armen trösten, der um seine Armut weiß. Es will ihn aber nicht damit trösten, daß es seine Armut in Reichtum umdeutet; es will nicht sagen: Im Bewußtsein eurer Armut liegt euer Reichtum! Es gibt ein überlegenes Bewußtsein, die Nichtigkeit der Welt durchschaut zu haben; es gibt eine skeptische Ironie, die mitleidig auf das geschäftige und aufgeregte Treiben der Welt blickt; es gibt einen überlegenen Humor, der das menschliche Gewimmel aus einem Abstand betrachtet. Und es ist richtig, daß von allen menschlichen Haltungen solche Ironie und solcher Humor dem christlichen Glauben am nächsten stehen. Aber die geistlich Armen sind nicht diejenigen, die aus sicherer Ferne das Treiben der Welt ironisch oder humoristisch betrachten; denn in solcher Haltung liegt immer noch der Stolz des Menschen, der Gottes nicht bedarf, und für den die Verheißung: »Das Himmelreich ist ihr« keinen Sinn hat. Die geistlich Armen aber, denen das Himmelreich verheißen wird, sind die, die in die Zukunft blicken, die Gott heraufführen wird, – freilich nicht eine weltliche Zukunft, die glänzenden Ersatz für alles Verlorene bringt. Nein, etwas ganz anderes, was über alles Weltliche hinausliegt: »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat, und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn heben« (1. Kor. 2, 9).
Die geistlich Armen sind die Wartenden; die, die auf Gottes Zukunft warten, weil sie wissen, daß ihnen hier und jetzt nichts Genüge tun kann, und die sich in solchem Warten innerlich frei gemacht haben von dem, was sie an das Hier und Jetzt bindet; die in einem Warten stehen, in dem alle Wünsche verstummen.
Selig sind, die da warten! Das ist auch der Sinn der zweiten Seligpreisung: »Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden!« Ja, dies ist das Wort, das wir heute am schnellsten bereit sind, auf uns zu beziehen. Aber wieder gilt: Nicht die Traurigkeit als solche ist es, der das Heil gilt; sondern es kommt darauf an, ihren Sinn recht zu verstehen. Alles Leid will uns zum Bewußtsein bringen, auf wie unsicherem Grunde wir wohnen; in aller einzelnen Not bricht nur die tiefe Not auf, in der alles Menschliche steht. In jedem Verlust, den wir erleiden, wirkt die Macht der Vergänglichkeit, des Todes, der wir unterworfen sind. Verstehen wir so unser Leid? Meist trifft es uns doch als etwas Befremdendes, Überraschendes, Erschreckendes. »Nein, das kann nicht sein!« – sagen wir wohl, und verkennen, daß es nur menschliches Schicksal ist. Menschenleben ist trotz alles Schönen und Erhebenden, wie der antike Dichter sagt, der Traum eines Schattens (Pind. Pyth. 8, 95). Wir gehen unsern Weg wie über eine Eisfläche, die jederzeit einbrechen kann.
Auch hier gibt es eine Haltung, die der christlichen ähnlich ist und doch von ihr verschieden. Es ist die Haltung des griechischen Weisen, der, als ihm der Tod seines Sohnes gemeldet wurde, sagte: »Ich wußte, daß ich einen Sterblichen zeugte.« Und so rät der stoische Weise: »Was ist daran schlimm, wenn du mitten im Küssen deines Kindchens flüsterst: Morgen wirst du tot sein? Oder beim Freund in gleicherweise: Morgen wirst du fort sein, du oder ich, und wir werden einander nicht mehr sehen?« – Gewiß, in solchem Wissen kann man sich dazu erziehen, alles, was einem begegnet, wie aus der Ferne zu sehen, bei allen menschlichen Begegnungen im tiefsten unbeteiligt zu sein, um nicht, wenn das Schicksal zuschlägt, getroffen zu werden. Aber solche Menschen sind nicht die Leidtragenden, die Jesus selig preist. Sie nehmen ja nicht das Leid auf sich, sondern sie entfliehen ihm, indem sie sich unempfindlich dagegen machen. Nein! Selig sind, die das Leid auf sich nehmen, die es tragen; die freilich nicht erschrocken sind, als geschähe ihnen etwas Befremdliches, die aber wissen, daß sie in ihrem Schmerz teilhaben an dem unermeßlichen Leid, das die Menschheit durchzieht, und die durch solches Wissen dazu befreit werden, den Blick in die Zukunft zu richten; die warten auf Gottes Trost. »Gott wird ab wischen alle Tränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein. Noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen« (Offb. Joh. 21, 4). Wie das sein wird, davon können wir uns keine Vorstellung machen; aber eben der Verzicht auf solche Vorstellungen gehört zum echten Warten.
Es folgt die Seligpreisung: »Selig sind die Sanftmütigen; denn sie sollen das Erdreich besitzen!« Wir übergehen sie; denn sie fügt sich nicht in den Zusammenhang, da sie nicht von der Nichtigkeit, der Not und Sehnsucht des Menschen redet; und die Überlieferung des Textes macht wahrscheinlich, daß sie erst später hier eingefügt wurde.
Von der Sehnsucht des Menschen aber redet das folgende Wort: »Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden!« Dieses Wort wird leicht mißverstanden, da wir uns im Deutschen unter »Gerechtigkeit« eine Tugend vorzustellen pflegen, entweder die Unparteilichkeit oder die Rechtschaffenheit, die sittliche Tadellosigkeit. Dann würde die Seligpreisung den Sinn des Goethe Wortes haben: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Aber hier ist die Gerechtigkeit anders gemeint; es werden diejenigen selig gepriesen, die Gott gerechtspricht, die er anerkennt, die er gelten läßt. Das Wort ist zu denen gesprochen, die nicht nur unter der Nichtigkeit und Not des Menschenlebens leiden, sondern unter ihrer eigenen Minderwertigkeit und Unwürdigkeit. Es sind diejenigen, die davon gedrückt werden, daß sie nie ganz das sein können, was sie sein möchten, daß sie vor andern und vor Gott nie ganz so erscheinen, sich darstellen können, wie sie im Innersten eigentlich sind, daß ihr eigentliches Wesen immer gehemmt ist durch Schwäche und Schuld, daß sie sich nie so zu geben vermögen, wie sie es eigentlich meinen, und deshalb immer unter dem Druck leiden, verkannt zu sein. Ist nicht in uns allen diese Sehnsucht, unserem Wesen und tiefsten Wollen klaren Ausdruck geben zu können, so dazustehen vor aller Augen, vor Gottes Auge, wie wir fühlen, daß wir sein könnten? Ja, diese Sehnsucht schläft in allen Menschen. Aber oft ist sie erstickt oder verkrampft zu einem angestrengten, nervösen Streben, sich zur Geltung zu bringen, sich darzustellen durch Leistung oder Geste, durch ein krampfhaftes Bemühen, auf andere Eindruck zu machen und darin das Spiegelbild des eigenen Wesens zu finden.
Daß wir von diesem Drang befreit würden! Daß wir uns geben könnten, wie wir sind! Daß sich unser Wesen kraftvoll und rein entfalten und vor aller Augen darstellen könnte! – Wohl gibt es auch einen resignierten Verzicht, die Verachtung alles menschlichen Urteils, der Rückzug des Menschen auf sich selbst in stolzer Verschlossenheit. Und diese Haltung kann wohl seelische Kraft verraten und Respekt verlangen. Aber für sie gilt die Seligpreisung nicht. Sie gilt für die, die darauf warten, daß Gott selbst ihnen schenkt, wonach sie sich sehnen, daß Gott sie von allen Hemmungen befreit, indem er ihnen begegnet und sie gelten läßt, so wie sie sind. Für die, die wissen, daß sich nichts erzwingen läßt, sondern die darauf warten, daß Gott, wie es im Psalm heißt, ihre »Gerechtigkeit hervorbringen wird wie das Licht« und ihr »Recht wie den Mittag« (Ps. 37, 6).
II.
Die Wartenden also sind es, die in den ersten Seligpreisungen gepriesen werden. Es folgen vier Seligpreisungen, die sagen, wie echtes Warten sich auswirkt, wie es im Menschen lebendig sein muß. Im Warten löst sich ja der Mensch von dem Gegenwärtigen, Gegebenen, von der Bindung an das, was er hat und ist, und richtet sich auf die Zukunft, auf das, was Gott ihm schenken, was er aus ihm machen will. Damit aber wird der Mensch frei für alle Begegnungen, die Gott ihm schickt und in denen Gottes Zukunft auf ihn zukommt.
»Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!« Das bedarf nicht vieler Worte zur Erklärung; wir müssen nur sagen, daß das Wort, das mit »Barmherzigkeit« übersetzt ist, einen weiteren Sinn hat; es bedeutet nicht nur Mitleid, sondern überhaupt Güte, helfende Liebe. Selig sind, deren Herz von solcher Güte bewegt ist. Sie werden Barmherzigkeit erlangen! Ja, sie dürfen Gottes auf sie zukommende Güte schon darin spüren, daß sie erfahren dürfen, wie der Mensch, der in aller Armut, in allem Leid und in aller Sehnsucht sein Herz nicht verbittern läßt, sondern offen hält für Leid und Not des Nächsten,-wie ein solcher Mensch auch die eigene Not leicht erträgt.
»Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!« Wer ist reines Herzens? Gemeint ist die Gesinnung der Aufrichtigkeit, die innere Wahrhaftigkeit, die sich und anderen nichts vormachen will, die Verstellung und Lüge haßt; gemeint ist die Ehrlichkeit und Offenheit, die keine Hintergedanken hat und keine Rolle spielen will, sondern sich in freier Natürlichkeit dem Mitmenschen darbietet. Darin ist das, was wir im besonderen Sinne Reinheit nennen, eingeschlossen. Denn alle unreinen Gedanken und Süchte gehen immer Hand in Hand mit Heimlichkeit. Und wo sie sich etwa in zynischer Offenheit hervorwagen, da spielt der Mensch in Wahrheit eine Rolle, die Rolle eines verzerrten Heldentums, und betrügt damit zum mindesten sich selbst. Wer aber in der Gelöstheit des echten Wartens steht, dem ist alle Verstellung und alle Schauspielerei widrig.
»Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen!« Die Friedfertigen sind die, die überall bereit sind, Frieden zu halten oder zu stiften, die als die Wartenden von dem, was sie besitzen, worüber sie verfügen, innerlich so gelöst sind, daß sie nicht ängstlich um ihr Recht besorgt sind, nicht eigensinnig auf ihrem Recht beharren. Es sind die innerlich Vornehmen, die zum Nachgeben bereit sind, die lächelnd fahren lassen können, was andern groß und wichtig dünkt, und die es lächelnd ertragen, für schwach zu gelten.
Und endlich: »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr!« Wer innerlich gelöst ist vom Vergänglichen, der wird sich für das Unvergängliche, für alles Wahre, Gute und Schöne mit ganzer Kraft einsetzen ohne Angst, daß ihm etwas geschehen könne. Er nimmt im Dienste des Ewigen auch Haß und Verfolgung auf sich. Er ist frei in der Entscheidung, wenn es sich darum handelt: Gott oder die Welt.
Was ihnen verheißen wird, den Barmherzigen, denen die reines Herzens sind, den Friedfertigen, den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, ist immer das gleiche: Sie werden Barmherzigkeit erlangen, sie werden Gott schauen, sie werden Gottes Kinder heißen, das Himmelreich ist ihr, – das hat alles den gleichen Sinn: Zu ihnen kommt Gott, zieht sie in seine Gemeinschaft hinein und schenkt ihnen alles, was ihrem Leben Erfüllung bringt.
Wir sagten: Die vier letzten Seligpreisungen zeigen, wie echtes Warten lebendig sein soll. Eben darin zeigt sich echtes Warten, daß der Mensch in der inneren Gelöstheit und Freiheit gütig und aufrichtig sein kann, daß er ein Mensch des Friedens ist und bereit, für das Gute zu leiden. Und so ist nun auch umgekehrt zu sagen: All dieses ist nur möglich, auf dem Grunde echten Wartens; nicht als etwas Beabsichtigtes, Erzwungenes, sondern nur als natürlich Wachsendes bei dem Menschen, der im Warten steht.
III.
Der Wartende! So können wir den Christen überhaupt bezeichnen; und diese Bezeichnung charakterisiert ihn ebenso wie etwa diejenige, die ihn den Viator, den Wandernden, nennt. Und wenn wir daran denken, so fällt uns das Wort Jung-Stillings ein: »Selig sind, die das Heimweh haben; denn sie sollen nach Hause kommen!« Der Christ ist der Wanderer, der unterwegs ist, der dem Alten den Rücken kehrt und den Schritt in die Zukunft richtet. Und eben deshalb können wir ihn auch den Wartenden nennen.
Aber sind im Grunde nicht alle Menschen Wartende? Ist nicht jeder Mensch im Grunde erfüllt vom Ungenügen der Gegenwart und von der Erwartung der Zukunft? Gehört es nicht zum Wesen des Menschen, daß er nie zum Augenblicke sagen kann: »Verweile doch, du bist so schön!«? Daß er immer noch des kommenden Augenblicks wartet, der ihm Erfüllung bringen soll? Wohl täuschen wir uns manchmal darüber, und wohl mag es manchmal so scheinen, daß wir einen erfüllten Augenblick haben, den wir festhalten möchten. Aber wenn solcher Wunsch nicht einfach auf dem Unterdrücken und Vergessen der Sorgen beruht, die uns alsbald wieder überfallen werden, so ist es in einem wirklich erfüllten Augenblick nur deshalb so, weil uns ein solcher Augenblick Zukunft verheißt, weil er uns gerade wartend, erwartungsvoll macht.
Wir Menschen sind alle Wartende. Aber der Unterschied ist der, ob wir von der Zukunft, die wir erwarten, uns Bilder machen, die aus unseren Wünschen geboren sind, oder ob unser Warten so radikal ist, daß wir auf alle Wunschbilder verzichten und doch im Warten fröhlich sind. Ob wir getrost in die Zukunft hineingehen, die für unser menschliches Auge dunkel ist und dunkel bleibt, weil wir auf Gottes Zukunft hoffen, die über alles Wünschen und Verstehen ist.
Christ sein, heißt: ein Wartender sein. So wäre für den Christen im Grunde jede Zeit Adventszeit? Denn Adventszeit ist doch die Zeit des Wartens! So ist es; und doch heben wir die Adventszeit als besondere Zeit des Wartens heraus aus dem Kirchenjahr. Sie soll uns eben das zum Bewußtsein bringen, was wir so leicht und so oft vergessen, daß wir Wartende sind. Aber sie soll uns auch der Erfüllung der Verheißung gewisser machen, indem sie uns dem Fest entgegenführt, das für uns ein Bild der Erfüllung bedeutet: dem Weihnachtsfest. Ist es ein Bild der Erfüllung nur? Oder zugleich schon Erfüllung selber, soweit Erfüllung in der Spanne der Erden-Wanderschaft möglich ist? Ja, gewiß Erfüllung, wenn anders wir das Fest in echtem Sinne feiern, d.h. wenn wir unser Herz für die Botschaft der göttlichen Liebe öffnen, die in der Geburt Jesu Christi ihren Ursprung hat. Es steht bei uns, ob Weihnachten für uns Erfüllung bedeuten wird. Je schwerer es für uns scheinen mag, in diesem Jahr Weihnachten in der gewohnten Festfreude zu feiern, desto mehr wollen wir uns zum Bewußtsein bringen, daß die eigentliche Festfreude den Wartenden verheißen ist. Und so soll alles Schwere, das auf uns Hegt, uns dazu dienen, daß wir uns als Wartende wissen. So werden wir für die Weihnachtsfreude offen sein, die unser menschliches Warten zu einem gläubigen, zu einem frohen und getrosten Warten macht. Amen.
Gehalten am 12. Dezember 1943.
Quelle: Rudolf Bultmann, Marburger Predigten, Tübingen: J.C.B. Mohr, 21968, S. 180-188.