„Was in der Bibel geschrieben steht, wird immer wieder wahr, auch wenn man sich nicht ge­traut, es zu sehen, und auch wenn manches dabei unpassend ist.“ Joseph Wittigs Erzählung „Gold, Weihrauch und Myrrhen“

Rogier van der Weyden - Dreikönigsaltar (Mittel)
Rogier van der Weyden – Anbetung der Heiligen Drei Könige

Gold, Weihrauch und Myrrhen

Von Joseph Wittig

Mein Großvater Johannes Nepomuk war gewiss einer der Wei­sen, zwar nicht des Morgenlan­des, aber doch des vom Herrgott ebenso geliebten Abendlandes, und zwar genauer gesagt des einzig schönen Glatzer Landes, also der Weisen, die genau wussten, dass der Heiland geboren sei. Oft schaute er des Nachts nach den Sternen des Firmaments, und er wäre gern zu einem Sterndeuter in die Schule gegangen, der ihm diese gol­dene Handschrift Gottes lesen lehren könnte. Und wenn dann seine Sehnsucht zu brennen begann wie ein richtiges Herze­leid, da erweiterte sich das Firmament zum Himmelsgewölb des Glaubens, und siehe, da konnte er auf einmal die Sterne le­sen und deuten.

Großvater kannte eines der Geheimnisse des Glaubens, das vielen Menschen unbekannt ist, nämlich dass man, wenn einem ein Licht des Glaubens aufgeht, nicht einfach hinter dem Ofen oder, was beim Großvater im Winter meistens der Fall war, hinter dem Webstuhl sitzen blei­ben darf, sondern dass man sich aufmachen und irgendwohin gehen muss. Wohin, das weiß man zunächst nicht. Aber wenn man das Licht des Glaubens im Auge behält, kann man schließlich nicht irre ge­hen. Man tapert zwar manchmal sehr dumm in der Welt he­rum und die eigene Klugheit will schließlich auch etwas zu sa­gen haben. Man geht sogar manchmal zu den Schriftgelehrten, um sich von ihnen ein Extralichtlein aufstecken zu lassen. Man wird aber dabei immer gewahr werden, dass der Stern, den man gesehen hat, seinen Schein verliert. Da ist es höchste Zeit, dass man gleich weiter geht.

Wie die heiligen drei Weisen aus dem Morgenland ver­möge ihrer natürlichen Klugheit mein­ten, der neu geborene König der Juden müsse in Jerusalem, im Palaste des Königs Herodes geboren sein, so meinte der Großvater, er müsse in die Kirche zur Christnacht gehen, um den Heiland zu finden. Und wahrhaftig, da ist er ja auch; da liegt er, auf weißem Lin­nen von priesterlicher Hand betreut, und dem Großvater wäre es in der Kirche keineswegs schlimmer ergangen als den drei Weisen aus dem Morgenlande in Jerusalem. Aber auch hier zeigte es sich, dass Gottes Gedanken oft anders sind als der Menschen Gedanken, auch wenn der Men­schen Gedanken an sich ganz gut und fromm kirchlich sind. Dem Großvater fiel auf einmal ein, dass sein Vetter im Biehals, ein alter Junggesel­le, den Heiligen Abend wahrscheinlich ganz einsam verlebt habe. Erst einige Tage zuvor hatte er gehört, dass er bettlägerig sei. Der Vetter hatte es schon immer mit dem Magen zu tun; er war auch schon einmal versehen wor­den.

Vettern in der Grafschaft Glatz sind schon ziemlich ferne Verwandte. Bei der großen Kinder­zahl der Familien hatte man gewöhnlich mehrere Dutzend davon, und bei den weiten, be­schwerlichen Wegen und bei der damaligen Ungewohntheit in brieflichem Verkehr konnte man unmöglich die persönliche Verbindung mit allen aufrecht erhalten, auch wenn man sich in der Kindheit bei allerlei Tantenbesuchen ganz gut kennen gelernt hatte. Mit dem Vetter im Biehals war es ein wenig an­ders. Der hatte von seinem Großvater, der auch der Großvater meines Großvaters war, die alte mechanische Weihnachtskrip­pe geerbt. Und da der Großvater selbst seit Jahren an einer sol­chen »Geburt Christi« arbeitete, war er oft zu dem Vetter hin­gegangen, um dem alten Werk dies und jenes Geheimnis in der Mechanik und in der Figuren­schnitzerei abzusehen. Der Vetter selbst war geübt mit dem Schnitzmesser und erweiterte das alte Werk jedes Jahr um ein neues Stück. Da hatten die beiden oft zusammen gesessen und waren zueinander gegangen, um ihre Gedanken und Erfindungen auszutauschen und sich zu sagen: »Siehe, das kannst du so machen! Siehe, das hab ich so gemacht!« Insbesondere hatten sie sich in den Weihnachts­feiertagen besucht, wenn die Werke aufgebaut waren. Und sie hat­ten sich dabei meist etwas mitgebracht, ein Rädlein, eine Welle, ein Figürchen, das dem einen übrig, dem anderen ver­mutlich notwendig war. Besonders freute sich mein Großvater, wenn er ein Stück von dem urväterlichen Werk bekam. Ich be­sitze jetzt noch einen römischen Wachsoldaten mit mächtigem Schneckenhelm, der offenbar von dem alten Werke stammt.

Es war also kein besonderer Stern notwendig, um die Schritte des Großvaters nach dem klei­nen Häuslein des Vetters im Biehals zu leiten. Die alltäglichen Vorkommnisse, Bezie­hungen, Liebhabereien und Notwendigkeiten sind die Sterne, die uns vorangehen und gewöhnlich die rechten Wege weisen. Es kostete nur einige Verhandlungen mit der Großmutter, die es natür­lich gern gesehen hätte, wenn der Großvater mit ihr in die Christnacht gegangen wäre. Die Verhandlungen schlossen mit der Frage des Großvaters: »Was soll ich denn mitnehmen? Eine kleine Freude muss ich dem Manne doch machen!«

Da füllte die Großmutter ein kleines Fläschchen mit »Achtem Jerusalemer Balsam« von dem Einsiedler Treutier auf dem Spittelberge bei Glatz und sagte: »Das wird ihm gut tun für den Magen! Er sollte nur das Pfeifenrauchen lassen!«

Dieses Wort war offenbar in der guten Meinung gesagt, dass der Großvater seinem Vetter eine kleine Abmahnung ge­gen das Rauchen zukommen lassen sollte. Aber wie es halt oft mit den Worten ist: sie tun nicht immer das, was sie sollen, sondern immer das, was sie wollen. Und da dieses Wort gut ge­meint war, so war es überhaupt gut und wollte dem Biehalser Vetter sein kleines Vergnügen nicht verwehren, sondern viel­mehr gewähren. Er erinnerte den Großvater, der meines Wis­sens selber kein Raucher oder höchstens nur ein Sonntagsrau­cher war, dass er in seinem Wandschränkchen schon seit Jah­ren einen Kringel Ohlauer liegen hatte. Als die Großmutter ge­rade nicht hinsah, nahm er ihn aus dem Schränkchen und steckte ihn in seine Rocktasche, wobei ihm ein Schmunzeln um den Mund kam. »Bei mir fängt es von hinten an«, sagte er bei sich. »Zuerste die Myrrhe, dann der Weihrauch. Jetzt bin ich neugierig, wo ich das Gold hernehmen werde!«

Er hatte immer noch etwas Blattgold gehabt, aber es war letzthin draufgegangen, als sich die Großmutter einbildete, das eine Türmchen von Bethlehem müsse vergoldet werden. Er ging nun trotzdem in die Stubenecke, wo er sein Arbeitszeug hatte. Da kam ihm ein Stück Linden­holz in die Hände, das er sich immer aufgespart hatte, weil es sich wie Butter schnitt. Das Kindlein in der Krippe des Vetters war etwas roh, und der Vetter hatte schon einmal davon gesprochen, dass er es gern neu schnitzen möchte.

In guter Laune schritt der Großvater durch die Winter­nacht dem Biehals zu. Es war ihm sehr weihnachtlich und, da gerade die Sterne sehr schön leuchteten, geradezu dreikönig­lich zumu­te. Er hätte sich gar nicht gewundert, wenn plötzlich der Stall von Bethlehem mit seinem ganzen Lichterglanz am Wege gestanden hätte. Und doch wunderte er sich sehr, als er schon von ferne das Häuslein seines Vetters hell erleuchtet sah. Und als er vom Kanonenwege, den Friedrich der Große von der Festung Silberberg bis ins Steinetal gebaut hatte, nach der ande­ren Seite des Tales abbiegen musste, ging auf einmal tat­sächlich ein Lichtlein vor ihm her, und es war manchmal, als klänge ein ganz leises Glöcklein. Das Licht ging vor ihm her, bis es vor dem Hause des Vetters still stand.

Der Großvater wusste ja gleich alles: der Pfarrer von Mittelsteine war zu dem kranken Vetter gerufen worden. Und da es in der Weihnachtsnacht war, in der kein Pfarrer zum Ver­gnügen einen so weiten Versehgang macht, zumal er Punkt Mitternacht die Christmesse in der Kirche singen muss, moch­te es um den Vetter sehr schlimm stehen. Er gab seinen feierli­chen Drei­königsschritt auf und begann ganz unbiblisch zu rennen.

Als er aber, den Schnee von den Stiefeln trampelnd, die Stubentür seines Vetters öffnete, da war ein Weihnachten so wahr und schön wie in der Bibel. Gute Nachbarn hatten sich um den Kranken gesammelt und knieten um das heilige Sakra­ment. Der Pfarrer hatte seinen anfäng­lichen Verdruss schon während seiner Wanderung durch die Sternennacht überwun­den und sagte zu den Leuten: »Jetzt brauchen nur noch die Heiligen Drei Könige kommen, die Weisen aus dem Morgen­land, da wäre alles so wie in Bethlehem!« Da eben trat der Großvater in die Stube. Er sah aber nicht aus wie die Drei Kö­nige und war ja auch bloß einer. Deshalb merkten es die Leute nicht.

Der »Ächte Jerusalemer Balsam« wirkte Wunder. Als der Kranke, von seiner Heilkraft neu belebt, den Kringel Ohlauer sah, sagte er: »Jetzt wird mich der Herrgott schon noch einige Wochen leben lassen, denn umsonst schenkt er so was nicht!« Und das Stück Lindenpfoste sah er lange Zeit an. Dann sagte er: »Ich sehe schon das Kindlein! Es liegt schon fertig mitten drin! Ich brauche nur das Holz ringsum abzuschneiden!« Und dann prüfte er mit dem Finger­nagel das Holz und sprach zum Großvater: »Du, das ist mir Goldes wert!«

Aber da sich der Großvater scheute, den Tabakrauch noch einmal dem Weihrauch gleichzu­setzen, mochte er nichts davon sagen, warum er eigentlich das Stück Holz mitgebracht hatte. Was in der Bibel geschrieben steht, wird immer wieder wahr, auch wenn man sich nicht ge­traut, es zu sehen, und auch wenn manches dabei unpassend ist.

Hier der Text als pdf.

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